
Ein Text über Neurodivergenz, Hormone und das Aufwachen einer Generation.
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Gesunde Eltern
Und genau hier möchte ich meine Geschichte beginnen – mit einer Zeile in der Anamnese, die man so eigentlich gar nicht schreiben kann: «Gesunde Eltern.» Unser erster Kinderarzt, dessen Sensibilität für Neurodivergenz – sagen wir: ausbaufähig – war, notierte das im Rahmen der Autismusabklärung unseres älteren Sohnes. So schnell bin ich noch nie abgeklärt worden – man könnte sagen: nobelpreisverdächtig.
Doch was, wenn die sogenannten «gesunden Eltern» gar nicht so gesund sind? Wenn sie selbst seit Jahren Strategien entwickelt haben, um in einer lauten, unübersichtlichen Welt zu funktionieren – ohne je zu ahnen, dass diese Strategien einen Namen haben?
Ich denke oft, wie anders diese Notiz hätte lauten können:
«Eltern mit hoher Anpassungsleistung. Verdacht auf chronisches Masking.»
«Eltern mit empfindsamer Wahrnehmung und Strategien, die längst zur Überlebenskunst geworden sind.»
«Eltern, die gelernt haben, ihre Wahrnehmung zu übersetzen, um verstanden zu werden.»
Das Wort gesund ist heikel, wenn damit gemeint ist, Eltern seien neurotypisch. Aber gerade durch diesen sprachlichen Fauxpas wird es schon fast wieder korrekt – denn ich erinnere mich nicht, dass wir damals gerade erkältet waren.
Einfach etwas viel
Meine angebliche Gesundheit also. Rückblickend ging es mir schon seit einigen Jahren nicht mehr besonders gut. Ich erklärte mir das so: Die Belastungen einer Familiengründung sind manchmal einfach etwas viel. Ich wurde tatsächlich oft stark getriggert. Da waren zwei autistische Kinder, die weniger Schlaf als ich brauchten – und mich also auch nachts auf Trab hielten.
Aber eigentlich ging es vor allem um das Zuviel von aussen. Das raubte mir Energie. Die Spielgruppenleiterin hielt die Schweigepflicht nicht ein, und die Kindergärtnerin liess schon vor dem Start unseres Sohnes spüren, dass sie voreingenommen war – obwohl ich die Schulleitung über alles informiert hatte. Doch daran erinnerte sich diese später nicht mehr. Und am Ende war ich plötzlich das eigentliche Problem. Kein Wunder also, dass ich Stress hatte. Über Jahre.
Diesen Dauerzustand nahmen natürlich auch alle rundherum wahr. Vielleicht macht Verzweiflung als Zuschauende hart. Jedenfalls stellte man mich rasch ruhig, indem man mir die gesamte Verantwortung übergab – und mir gleichzeitig einfache Lösungen anbot. «Du häsch Chind welle», sagen manche dann – als wäre das Argument genug. Hoppla.
Ja, ich wollte Kinder. Ich finde meine autistischen Kinder perfekt und absolut liebenswert. Aber mein Familienwunsch – mit allem, was von aussen dazukommt – und mein Bedürfnis nach Rückzug, nach Durchatmen und einfach nur Sein, beissen sich halt manchmal. Auch das ist okay. Das nennt man Leben. Aber erlaubt mir wenigstens, ab und zu zu sagen: Es ist wahnsinnig streng, und ich brauche einfach Zeit für mich.
In dieser Zeit bekam ich Selbsthilfebücher geschenkt, um «relaxter» zu werden, und Karten mit Sprüchen wie «Auch Pausen gehören zum Rhythmus». Ein Neurologe riet mir zu autogenem Training, eine Frauenärztin – wegen Libido-Tief – zu einem «lustvollen Kartenspiel zu zweit». Ich konnte das alles nicht mehr ernst nehmen. Mehr noch: Es verletzte mich. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was ich erlebt habe.
Und irgendwann kam der Moment, in dem selbst meine besten Strategien nicht mehr trugen.
Menopause – als alle Strategien versagten
Dann kam der Sommer 2025, der mir die Augen öffnen sollte. Ich konnte es nicht mehr mit Stress erklären – denn zwei autistische Teenager sind in unserem Fall zumindest nicht dasselbe wie zwei kleine autistische Kinder. Im Gegenteil: Ich kann ihre Selbständigkeit und ihre eigenen Gedanken über die Welt geniessen.
Und schulisch läuft es inzwischen gut – mit Strukturen, die wirklich passen, und einer Anschlusslösung, die Sinn macht. Das ist ein grosses Glück, das uns alle spürbar entlastet.
Obschon ich mich schon länger als impulsiv und stimmungslabil beschrieb und annahm, dass das wohl die Perimenopause sein müsse, tat ich, was man eben so tut. Ich glaubte das Märchen, dass es allen Frauen so gehe – und riss mich zusammen. Letzteres mit mässigem Erfolg, besonders bei Erwachsenen, die mich triggerten.
Im Juli aber wurde es so schlimm, dass ich mich gar nicht mehr regulieren konnte. Jede leiseste Irritation schlug durch – meine Amygdala stand unter Dauerfeuer.
Regulationskollaps in der Menopause
Ich geriet in einen Regulationskollaps – ein hormonelles Auf und Ab, das nicht nur den Körper, sondern auch die Wahrnehmung durcheinanderbringt. In der Perimenopause beginnen diese Schwankungen der Östrogen- und Progesteronspiegel oft massiv; bei mir kippte das Ganze dann endgültig in der Postmenopause, als das Östrogen praktisch weg war. Diese Schwankungen beeinflussen die Neurotransmitter Serotonin und Dopamin und damit auch Stimmung, Aufmerksamkeit und Reizregulation.
Wenn dann zusätzlich Schlafstörungen und Überreizung dazukommen, kann das System ab einem gewissen Punkt nicht mehr ausgleichen. Der Körper verliert seine Rhythmen, die Nerven sind blank, die Erschöpfung körperlich spürbar. Ich erlebte das als Kontrollverlust – nicht, weil ich „überfordert“ war, sondern weil meine hormonellen und neuronalen Regelkreise gleichzeitig ins Wanken geraten waren.
Was nach einer herausfordernden Anfangszeit mit kleinen Kindern und schulischen Querelen – auch dank meines Know-hows, meine Kinder sind schliesslich gute Lehrer – endlich recht gut funktionierte, brach plötzlich weg. Was der Kinderarzt damals versuchte und nicht schaffte, übernahm nun eine andere Macht. Eben – wer braucht schon Tests? Die Perimenopause screent uns sowieso. Und wer die Botschaft darin nicht versteht, so wie ich, bekommt sie in der Postmenopause mit Nachdruck.
Also rief ich meine Frauenärztin an – natürlich alle in den Ferien, nur minimal besetzt – und bekam schliesslich einen Termin, nachdem ich ins Telefon weinte. Zu meinem grossen Glück war ihre Vertretung meine längst pensionierte Lieblingsärztin. Ich wurde ernst genommen und bekam Utrogestan. Das half vier Tage – und alles begann von vorn.
Daraufhin liess ich einen Hormonstatus machen. Das Ergebnis war eindeutig: Postmenopause. Nur das Östrogen – ironischerweise – noch ganz leicht über dem Grenzwert, also ein leiser Schwenk zurück in Richtung Perimenopause. Meine Frauenärztin meinte jedoch: «Heute orientieren sich Ärztinnen nicht nur an Zahlen – entscheidend ist, wie sich eine Frau fühlt.»
Ich brauchte Östrogen. Auch hier eine komplizierte Geschichte mit Risiken, Abwägen und Warten – aber seit ich Östrogen nehme, bin ich ein anderer Mensch. Spontanheilung unter zwei Stunden. Ich war also nicht psychisch krank, wie es vielleicht hätte interpretiert werden können. Das war Biochemie.
Wenn Menschen jetzt besonders unsensibel sind und ich gelassen bleibe, denke ich ganz stolz: Wow, bin ich super!
Vielleicht war das gar nicht nur ein hormonelles, sondern auch ein neuronales Aufwachen – ein System, das schon in der Pubertät auf Notbetrieb lief und nun, Jahre später, in der Perimenopause – und ganz krass in der Postmenopause, ohne annähernd genug Östrogen – erneut in diesen Modus geriet, den ich so lange schlicht ignoriert hatte. Aber wie hätte ich dieses Aufwachen meines Nervensystems auch verstehen sollen!?
In der Literatur wird häufig beschrieben, Frauen mit ADHS erlebten in der Perimenopause vermehrt depressive Episoden. Was dabei jedoch kaum erwähnt wird, ist, dass hormonelle Schwankungen bei neurodivergenten Frauen nicht nur die Stimmung, sondern die gesamte Selbstregulationsfähigkeit destabilisieren können. Statt einer klassischen Depression zeigen sich oft Zustände massiver Übererregung: Die Amygdala reagiert hypersensibel. Ich würde diesen Zustand eher als Regulationskollaps bezeichnen – nicht als Depression. Hier hätte ich mich klar wiedergefunden.
Aber noch wusste ich nichts von einer möglichen Verbindung zu meiner eigenen Neurodivergenz – von der ich selbst ja ebenfalls nichts wusste.
«Auf dem 6. Weltkongress wurde deutlich, dass ganz offensichtlich das Hauptproblem bei ADHS die Affektlabilität und emotionale Impulsivität ist.» – Cordula Neuhaus verweist hiermit auf eine Bemerkung von Luis A. Rohde, die sie in diesem Zusammenhang aufgreift.
Genau das war bei mir der Fall. Diese emotionale Wucht, dieses sofortige Überschiessen – das war nie nur ein „Zuviel“ oder ein „Nicht-im-Griff-haben“. Es war mein Nervensystem. Und in der Menopause fiel plötzlich alles, was jahrelang mit Disziplin und Masking zusammengehalten hatte, in sich zusammen. Darum ist es so wichtig, nicht – oder nicht nur – pauschal von „Depression“ zu sprechen, wenn es um psychische Krisen in dieser Lebensphase geht, sondern differenzierter hinzuschauen.
Die Crux der Geschichte
Es fühlte sich an wie ein Zusammenbruch — und gleichzeitig wie ein Erkennen dessen, was mich schon immer getragen und herausgefordert hat.
Hormone waren nur der Auslöser. Sichtbar wurde etwas, das tiefer lag: Dopamin. Gefühl. Regulation. Leben.
Was ich schon mein ganzes Leben erlebt habe – und was lange weder von mir noch von jemand Professionellem wirklich ernst genommen wurde – zeigte sich durch mein Hormonchaos noch einmal glasklar.
Ich habe – neben zwei autistischen Kindern mit vermutlich ADHS, was allein schon viel über Genetik aussagt – ein deutliches Problem mit Dopamin. Schon seit jeher galten meine Gefühle als «zu viel».
Eine schreckliche Pubertät mit Zykluschaos. Eine schwierige Perimenopause. Eine Postmenopause des Grauens. Und alles dazwischen – dieses dauernde Versagen, die Schuldgefühle. Das lasse ich jetzt stehen.
«Frauen und Mädchen mit ADHS erhalten häufig die Rückmeldung, sie reagierten übertrieben, ihre Gefühle seien falsch – sie sollten sich nicht so anstellen oder sich zusammenreissen. Das kann Betroffene verzweifeln lassen, weil ihre Gefühle tatsächlich echt und da sind.»
— Christine Carl, Ismene Dittrich, Christa Koentges & Swantje Matthies (S. 104)
Was hier beschrieben wird, betrifft viele neurodivergente Frauen. Ich für mich nenne es ADS. Und natürlich habe ich das nicht selbst herausgefunden. Aber ich kenne wunderbare Menschen, die mich sehr gut kennen, mögen – und vielleicht auch ab und zu ertragen.
Eine davon ist Fachperson und hat mir geholfen, mich selbst endlich zu verstehen. Sie kennt mich seit dreissig Jahren. Heute weiss ich: Mein Nervensystem hat mich nie verraten. Es hat mich gewarnt, beschützt, getragen – nur in einer Sprache, die ich erst jetzt verstehe.
Kleine Ergänzung: Wenn ich in diesem Text von mir spreche, verwende ich den Begriff ADS, weil ich gefühlt kein „H“ habe – also keine sichtbare Hyperaktivität. Einerseits ist mir bewusst, dass ADS heute nicht mehr als eigene Diagnose gilt, sondern unter ADHS fällt (genauer: ADHS, vorwiegend unaufmerksamer Typ). Und gleichzeitig weiss ich, dass das „H“ auch für innere Unruhe stehen kann – die ich selbstverständlich gut kenne. Und doch passt es für mich nicht. Das „H“ klingt für mich nach äusserer Rastlosigkeit.
Für mich ist ADS darum weniger ein veralteter Begriff als vielmehr eine treffendere Identität, die meinem Erleben näherkommt.
Aber wenn ich schon dabei bin – eigentlich würde ich auch das „A“ gerne durch ein „R“ ersetzen. Denn im Kern geht es um Regulation: eine dopamingesteuerte, interessenbasierte Regulation.
Bin ich kompliziert? Vielleicht. Aber ich weiss: Mein Gehirn sucht nach Kohärenz – es möchte, dass Gefühl und Begriff, Erfahrung und Sprache übereinstimmen. Das ist wohl meine Art, Ordnung zu schaffen.
Liebe Eltern autistischer Kinder
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, wie lange ich gebraucht habe, um mich selbst zu verstehen. Ich musste 49 Jahre alt werden – und erst in die Postmenopause mit sehr wenig Östrogen kommen –, bis es mich traf.
Bitte seid netter zu euch selbst, als ich es mit mir war. Vielleicht seid ihr die Ausnahmen, die es wirklich nicht betrifft – wunderbar! Aber ich weiss, dass ich mit meinem Erleben nicht allein bin.
«Wenn Eltern ihr Kind zur Autismus-Diagnose bringen, sollte es Standard sein, sie über die Erblichkeitsstatistik (ca. 90 %) zu informieren – und sie dann zu fragen, ob sie ebenfalls abgeklärt werden möchten. Change my mind.»
— Nicole Filippone
Ich las das und dachte: Genau.
Hätte damals jemand diesen Zusammenhang ernst genommen, stünde in der Anamnese vielleicht nicht «Gesunde Eltern», sondern:
«Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit für neurodivergente Wahrnehmung.»
Ein kleiner Satz – mit grosser Wirkung. Man hätte mich besser durch die Perimenopause und später auch durch die Menopause begleiten können. Aber ich wusste ja nicht, dass es mir wegen meines grundsätzlich zu niedrigen Dopaminspiegels tatsächlich schlechter ging als anderen.
Und diese Idee – ich bin falsch – hat natürlich Spuren hinterlassen. Das Gefühl, ich sei das Problem. Dass es an meiner mangelnden Selbstdisziplin liege. Andere schaffen es ja auch …
Erst heute verstehe ich: Autismus und ADHS sind im Alltag und auch genetisch miteinander verwandt. Das Synapsen-Gen SHANK2 wird in einer Studie sogar als mögliches Bindeglied beschrieben – «ein pleiotropes Gen, das der genetischen Überschneidung zwischen ADHS und Autismus zugrunde liegt» (Bonvicini et al., 2021).
Es sind nicht nur die Kinder, die neurodivergente Muster tragen. Vielleicht erinnern sie uns längst ein bisschen an uns selbst – und wir haben nur vergessen, diesen Teil in uns zu entdecken.
An das kleine Mädchen
Ich denke an dich – an das kleine Mädchen, das mit vier im Kindergarten in der Garderobe beim Turnen stundenlang brauchte, um sich umzuziehen, und sich dabei flüsternd ermutigte: „Das ist doch ganz einfach – zuerst die Jacke ausziehen und aufhängen, dann …“ Und während du das dachtest, verlor sich dein Blick für einen Moment und schweifte ab. Du hast gar nichts falsch gemacht.
Auch nicht, wenn du jedes Wort gehört hast und doch das Ganze verlorst – weil dein Kopf noch beim Verstehen war, während draussen schon der nächste Satz begann.
Auch nicht, wenn du auf dem Nachhauseweg pressieren solltest, dich so sehr bemühtest – und trotzdem dreimal so lange brauchtest wie alle anderen Kinder. Du hast dich so angestrengt, schnell zu sein, dass du selbst nicht verstanden hast, warum es nicht klappte.
Also auch nicht an deinem vierten Geburtstag, der so wunderschön war – mit Pudding und Kerzen statt Kuchen, so wie du es liebtest. Vielleicht war alles einfach zu schön, zu viel Gefühl auf einmal – darum hast du danach die ganze Nacht geweint.
Und dein Geburtstag fiel auch noch auf Weihnachten. Nicht, dass er unterging – nie. Aber alles war zu viel auf einmal: Lichter, Stimmen, Musik, Geschenke, Stimmung. Erst als deine Mutter beschloss, den Tag zu teilen – vormittags Geburtstag, nachmittags Weihnachten – wurde es stimmig. Endlich passte es zu dir. Von da an gab es nur noch ein wenig Geburtstag – und das war perfekt.
Und dann lerntest du lesen – und hörtest nie mehr damit auf. Du warst eigentlich immer in einer Geschichte, auch wenn du gerade nicht am Lesen warst. Du lebtest darin – allein, aber manchmal auch zusammen mit deiner Freundin aus derselben Klasse: mit Anne of Green Gables und ihren feuerroten Haaren, mit der Roten Zora und ihrer Bande, oder bei Che und dem roten Seidenschal zu Pferd. Bücher von Federica de Cesco schenkten dir eine Kindheit voller Abenteuer und Freiheit – eine Welt, in der du so sein durftest, wie du warst: stark, empfindsam und wild träumend zugleich.
Ich würde dich gern in den Arm nehmen, aber ich weiss, du mochtest das nicht von Fremden – und du kennst mich ja noch nicht.
Darum sage ich es dir lieber so: Manchmal war deine Kindheit kompliziert – es war einfach alles auf einmal, denn wenn Kopf und Gefühl zu viel gleichzeitig tragen mussten, konnte die innere Steuerung für einen Moment nicht halten. Kein Wunder nennt Cordula Neuhaus in Anlehnung an Luis A. Rohde als Hauptproblem bei ADHS nicht die Unaufmerksamkeit, sondern die Affektlabilität und emotionale Impulsivität. Du hast viel geweint. Dieses verflixte Dopamin. Und genau das wird dich auch noch mit 49 Jahren beschäftigen. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Oft war es auch wunderschön: dieses tiefe Eintauchen, der Hyperfokus, das völlige Aufgehen im Erleben – ein wunderbarer Teil deiner Kindheit, der dich bis heute trägt. Denn wenn Interesse, Emotion oder Bedeutung dazukamen, wurde plötzlich viel Dopamin freigesetzt – und der präfrontale Kortex „zündete“ förmlich. Das war der Moment, in dem alles stimmte: wenn dein Inneres und die Welt für einen Augenblick im selben Takt waren. Zora und Che wissen das.
Ein Nachwort an mich selbst
„Bei dieser Erkrankung handelt es sich nicht in erster Linie um ein Aufmerksamkeitsdefizit; die Patienten haben vielmehr Probleme mit der Regulation verschiedener Aspekte von Kognition, Emotionen und Verhalten.“
— Sari Solden & Michelle Frank, Frauen mit ADHS (S. 13)
Hätte ich im Sommer schon gewusst, dass ADHS im eigentlichen Sinn keine Aufmerksamkeitsstörung, sondern eine Regulationsstörung ist, hätte ich den Zusammenhang vielleicht schon früher verstanden – und mich angesprochen gefühlt.
Denn ich sagte damals, mitten in meinen Wechseljahrsbeschwerden, immer wieder: Ich kann mich emotional gar nicht mehr regulieren – meine Amygdala schiesst sofort los.
Und wenn ich „gar nicht mehr“ sagte, meinte ich tatsächlich: gar nicht mehr. Ich reagierte sofort – noch bevor ich nachdenken konnte.
Obschon ADHS ausgeschrieben „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ heisst, wird immer deutlicher, dass der Kern nicht in der Aufmerksamkeit liegt, sondern in der Regulation – genau das, was ich intuitiv schon gespürt hatte.
Ich nahm ja vor allem diese Ursache wahr. Ich spürte, wie sie sich in meinen Emotionen zeigte, in meinem Körper, in jeder überbordenden Reaktion. Ich verstand nur nicht, dass genau das schon Teil des Musters war.
Ich brauchte also 49 Jahre, um zu erkennen, dass «gesunde Eltern» vor allem eines bedeutete:
«Eine Mutter, die erst in der Menopause merkt, dass sie selbst Teil der Geschichte ist.»
Nachklang: Eine Generation, die nie gefragt wurde
Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe unserer Generation: nicht nur unsere Kinder besser zu verstehen, sondern auch uns selbst – spät, aber nicht zu spät.
Wir sind die Generation, die noch nicht abgeklärt wurde – die, bei der man „gesunde Eltern“ schrieb, ohne zu wissen, was das bedeutete.
Wir haben funktioniert, kompensiert, übersetzt, uns angepasst. Und jetzt, wo die Menopause alles aufrüttelt, darf ich plötzlich sehen, was schon immer da war: meine Neurodivergenz.
Vielleicht beginnt Heilung genau hier – in der Erkenntnis, dass wir nicht defekt sind, sondern spät erkannt. Dass wir nicht „zusammenbrechen“, sondern endlich aufhören, uns zu verstecken. Dass unsere Kinder uns nicht nur fordern, sondern uns erinnern – an das, was wir selbst nie benannt bekamen.
Es ist eine grosse Chance, das Leben rückwärts verstehen zu dürfen. Aber auch, endlich die richtige Unterstützung zu bekommen – hormonell, therapeutisch, und vielleicht ist es an der Zeit, dass nicht nur die Kinder eine passende Medikation erhalten.
(PS: Ich halte jeden Tag Medikinet in meiner Hand – für meine Jungs. So nah also, und doch nie für mich. Retrospektiv frage ich mich, ob ich es nicht hätte „tun sollen“, als man mir vorübergehend kein Östrogen gab. Aber ich kann das nicht …)
Literaturliste
Achtung: Dieser Blogbeitrag inklusive Anhang ersetzt natürlich keine ärztliche Beratung. HRT, Stimulanzien oder SSRI sind individuelle Entscheidungen – Dosierung, Risiken und Kontraindikationen gehören in ärztliche Hände.
Bücher:
Carl, C., Dittrich, I., Koentges, C. & Matthies, S. (2022). Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S. Warum sie so besonders sind und was sie stark macht. Weinheim: Beltz Verlag. (4. Aufl. 2023)
Ryffel-Rawak, D. (2024). ADHS bei Frauen – den Gefühlen ausgeliefert (4., aktualisierte Auflage, 3. Nachdruck). Bern: Hogrefe Verlag.
Solden, S. & Frank, M. (2023). Selbstbewusst leben mit ADHS. Workbook für Frauen: Hilfreiche Strategien und praktische Übungen, um negative Glaubenssätze abzulegen und selbstbestimmt zu leben. München: mvg Verlag.
Studien:
“Auf dem 6. Weltkongress wurde deutlich, dass ganz offensichtlich das Hauptproblem bei ADHS die Affektlabilität und emotionale Impulsivität ist.“ Cordula Neuhaus
Neuhaus, C. (2018). Frauen mit ADHS in den Wechseljahren. Neue Akzente. Fachbeiträge ADHS Deutschland e. V., Nr. 111 (3/2018), S. 4–7.
Während der Menopause können sich die bestehenden Herausforderungen bei Autismus und ADHS – etwa in Aufmerksamkeit, Emotionsregulation und sensorischer Verarbeitung – deutlich verstärken.
Viele neurodivergente Frauen, die bisher mit Struktur und Routinen gut zurechtkamen, erleben in dieser Phase einen Verlust von Kontrolle und Stabilität, was oft zu Hilflosigkeit oder Identitätsverunsicherung führt.
https://autisticgirlsnetwork.org/hormones-autism-and-adhd/?utm_source=chatgpt.com
“Eine kombinierte Therapie mit Stimulanzien, einem SSRI und Östrogenersatz kann bei Frauen mit sich verschlimmernden ADHS-Symptomen, PMS oder PPMS notwendig sein.“ (in Pubertät oder Wechseljahren)
https://chadd.org/adhd-weekly/the-complete-picture-how-estrogen-affects-women-with-adhd/
“Sinkender Östrogenspiegel während der Wechseljahre kann daher auf Dopamin in einer Weise interagieren, die psychische Symptome wie emotionale Dysregulation, Desorganisation und Unaufmerksamkeit, Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses und ein erhöhtes Risiko für neuropsychiatrische Erkrankungen verstärken kann ( Dorani et al., 2021 ; Epperson et al., 2015 ). Dementsprechend kann bei Frauen, die ihre ADHS-Symptome zuvor gut in den Griff bekommen hatten, möglicherweise mit Medikamenten, die Menopause durch veränderte Östrogen-Dopamin-Interaktionen eine Phase zunehmend unkontrollierter Symptome einleiten.”
https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/10870547251355006?utm_source=chatgpt.com
Eine neuere Studie, die sich mit geschlechtsspezifischen Therapien bei ADHS beschäftigt. Testosteron wird nicht als Hauptfokus erwähnt, aber der Artikel spricht über hormonelle Modulation und Herausforderungen bei Frauen mit ADHS.
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC7098532/?utm_source=chatgpt.com
“Viele Frauen bekommen ihre Diagnose „Neurodivergenz“ erst rund um die Wechseljahre.”
https://wexxeljahre.de/2025/09/13/neurodivergenz-und-wechseljahre/?utm_source=chatgpt.com
“Viele Betroffene kompensieren ihre Symptome jahrelang durch Perfektionismus, Struktur oder soziale Anpassung – bis es nicht mehr geht. Besonders hormonelle Übergangsphasen wie Pubertät, Schwangerschaft, die Perimenopause oder die Menopause können das Gleichgewicht kippen. Warum? Östrogen beeinflusst direkt das Dopamin- und Noradrenalin-System – also genau die Neurotransmitter, die für ADHS essenziell sind. Sinkt der Östrogenspiegel (z. B. in der Perimenopause), verschlechtern sich häufig auch ADHS-Symptome.”
Auch bei Autismus: Die Teilnehmerinnen beschrieben viele intensive Herausforderungen während der Menopause.
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11135000/
“Sexualhormone und Phasen hormoneller Veränderungen (wie Pubertät und Menstruationszyklus) können mit Veränderungen der ADHS-Symptome bei Frauen in Zusammenhang stehen. Um den Zusammenhang zwischen Sexualhormonen und ADHS-Symptomen zu verstehen, sind weitere Forschungen erforderlich. Dazu gehört die Untersuchung eines breiteren Spektrums hormoneller Meilensteine bei Frauen, einschließlich der Menopause.”
“Viele Frauen erfahren erst von ihrer ADHS-Diagnose, wenn sich ihre Symptome aufgrund eines bestimmten Stressfaktors (z. B. der Perimenopause oder Menopause) verschlimmern.”
https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/10870547251332319
Für viele autistische Menschen ist die Menopause eine „perfekte Sturmphase“: hormonelle, sensorische, emotionale und soziale Herausforderungen kumulieren.
Frühdiagnose, Aufklärung und Peer-Support können den Umgang mit dieser Lebensphase stark verbessern.
Gesundheitsfachpersonen sollten autismusspezifisch geschult und auf intersektionale Faktoren (z. B. Geschlecht, Alter, Trauma) sensibilisiert werden.
https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/13623613241244548
“SHANK2 could be considered a potential pleiotropic gene underlying the genetic overlap between ADHD and ASD.”
(Bonvicini et al., 2021, Frontiers in Neuroscience)
https://www.frontiersin.org/journals/neuroscience/articles/10.3389/fnins.2021.649588/full
ADHS ist nicht in erster Linie eine Aufmerksamkeitsstörung. Moderne Forschung – unter anderem von Russell Barkley – zeigt, dass im Kern eine Regulationsstörung steckt: die Fähigkeit, Gedanken, Gefühle, Impulse und Handlungen zu steuern. Diese Selbststeuerung wird vom präfrontalen Kortex getragen und ist stark von Dopamin abhängig. Wenn das System im Gleichgewicht ist, funktionieren Planung, Emotionsregulation und Impulskontrolle gut.
Doch unter gleichzeitiger kognitiver und emotionaler Belastung – also wenn Kopf und Gefühl viel auf einmal halten müssen – kann diese Steuerung kurzzeitig ins Wanken geraten. Nicht aus Willensschwäche, sondern neurobiologisch begründet.
X:
Nicole Filippone, Autistic Advocate & Author (@sensorystories_) hat an 0:43 AM on Fr., März 14, 2025 gepostet:
When a parent brings their child in for an autism evaluation, it should be standard practice to inform them of the heritability stats (about 90%) and then ask if they would like to be evaluated as well.
Change my mind.
“Wenn Eltern ihr Kind zur Autismus-Diagnose bringen, sollte es Standard sein, sie über die Erblichkeitsstatistik (ca. 90 %) zu informieren und sie dann zu fragen, ob sie ebenfalls abgeklärt werden möchten.
Change my mind.” Nicole Filippone
https://x.com/sensorystories_/status/1900331841347080540?t=pP3d1PfqM89IU6b4wMGmKw&s=03
Tiktok:
Schau dir Lukas – Psychotherapeut/ADHSs Video an! #TikTok https://vm.tiktok.com/ZNdnf6tJE/
Schau dir I go by Narcissas Video an! #TikTok https://vm.tiktok.com/ZNdnfmSRn/
Schau dir TheModernWellnessExperts Video an! #TikTok https://vm.tiktok.com/ZNdnfS75V/
Schau dir The ‚Pause Lifes Video an! #TikTok https://vm.tiktok.com/ZNdnfTDFa/
Blogs:
Eine persönliche Erzählung über die Verbindung von Neurodivergenz und Menopause – wie kognitive Herausforderungen, Selbstverständnis und gesundheitliche Unsicherheiten sich überlappen.
Ein Blogtext einer autistischen Frau, die beschreibt, wie die Wechseljahre ihre sensorische Überempfindlichkeit und Regulation verstärkten.
In einem Text des Autistic Girls Network werden hormonelle Veränderungen als Verstärker bestehender neurodivergenter Herausforderungen beschrieben – Stimmung, Reizempfindlichkeit etc.
https://autisticgirlsnetwork.org/hormones-autism-and-adhd/?utm_source=chatgpt.com
Ein Blogartikel über die Schnittmengen von Perimenopause, Neurodivergenz und den damit verbundenen Belastungen, mit Reflexionen und Strategien.
https://www.hellowellbe.com/blog/perimenopause-menopause-neurodivergency?utm_source=chatgpt.com
Ein Artikel, der insbesondere bei autistischen Frauen die besonderen Herausforderungen der Menopause beleuchtet: emotionale Regulation, sensorische Belastungen, Interaktion mit dem Gesundheitssystem.
“Bei manchen Menschen wird ADHS erst diagnostiziert, wenn hormonelle Veränderungen die Symptome so stark machen, dass sie eine Behandlung suchen. Auch eine zuvor gut behandelte ADHS-Erkrankung kann sich unkontrolliert anfühlen.”
https://www.webmd.com/add-adhd/adhd-and-menopause
“Auch Ihre Gehirnchemie ist betroffen. Dopamin, ein chemischer Botenstoff (oder Neurotransmitter), wird von Ihrem Nervensystem verwendet, um Nachrichten zwischen Nervenzellen zu übermitteln, und spielt eine Rolle dabei, wie Sie denken, planen und Freude empfinden. Bei ADHS kommt es zu einer Dysregulation des Dopamins, was bedeutet, dass Sie möglicherweise zu wenig Dopamin produzieren, nicht genügend Rezeptoren dafür haben oder dass das von Ihnen produzierte Dopamin nicht effizient genutzt wird.”
https://www.drlouisenewson.co.uk/knowledge/adhd-and-hormones-in-women
Kleiner interessanter Nachtrag
Auch Männer mit ADHS können Hormonschwankungen haben.
ADHS betrifft nicht nur Frauen in der Menopause – auch Männer erleben hormonelle Veränderungen, die das Nervensystem spürbar beeinflussen können.
Ein sinkender Testosteronspiegel kann bei manchen Männern ähnliche Effekte haben wie ein sinkender Östrogenspiegel bei Frauen:
mehr Reizbarkeit, weniger Motivation, Konzentrationsprobleme, Libidoverlust und emotionale Instabilität.
Wenn zusätzlich ein diagnostizierter ADHS besteht, kann ein Testosteronmangel diese Symptome verstärken.
In Einzelfällen zeigte sich, dass eine Testosteronersatztherapie (bei nachgewiesenem Mangel!) die Stimmung und Selbstregulation verbessern kann –
nicht als Ersatz für ADHS-Medikation, aber als ergänzende Behandlung.
Rogne, T. & Hassel, B. (2022). Improvement of attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD) in three adult men during testosterone treatment: a case series. Frontiers in Endocrinology, 13, 1038293.