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Autismus geht uns alle etwas an
Irgendwann ist es das erste Mal – ein autistisches Kind wird bald die eigene oder zu betreuende Klasse besuchen. Bei einem autistischen Kind von 100, kann sich jede*r ausrechnen, wie viele autistische Schüler*innen dieses oder jenes Schulhaus wohl besuchen. Andere rechnen gar mit 1 von 30, da man weiterhin von einer Dunkelziffer ausgeht, werden doch Mädchen oder dunkelhäutige Kinder oft nicht oder später erfasst. Ich übertreibe als Mutter autistischer Kinder (die sich natürlich eine Willkommenskultur für Vielfalt wünscht) also nicht. Es ist keine Philosophie sondern simple Statistik! Das Thema Autismus geht alle etwas an.
Vorbereitung ist nicht die Kür sondern die Pflicht!
Auch ich wurde schon gefragt, wie man sich als Lehrperson, Heilpädagog*in, Ergotherapeut*in, Logopäd*in, Schulleiter*in etc. auf das Thema Autismus vorbereiten kann. Natürlich kennen alle den Spruch: „Kennst du einen Autisten, kennst du 1 Autisten.“ Das stimmt – und gleichzeitig auch nicht. Ich finde es toll, wenn man sich bewusst ist, dass jedes autistische Kind, so wie auch jedes allistische (nicht-autistische) Kind, ein Individuum ist. Gleichzeitig wäre dieses Zitat aber ganz falsch verstanden, wenn man als Schule erstmals nichts vorbereitet, weil es sich ja um Individuen handelt. Natürlich gibt es bewährte Vorgehensweisen – schliesslich ist es auch jetzt nicht das erste Mal, dass ein autistisches Kind auf dem Planeten Erde neu in eine Klasse kommt. Man muss das Rad also nicht neu erfinden.
„Autismus ist ganz kurz gesagt eine Neurodiversität, eine Art des Seins. Durch andere neurologische Voraussetzungen im Gehirn ist die Wahrnehmung anders als bei nicht-autistischen Menschen. Wahrnehmung beeinflusst natürlich alles – die Kommunikation, die Reizverarbeitung und das Verhalten.“ Marlies Hübner
Durch eben diese Art des Seins kommt es zu einem sich von allistischen Menschen unterscheidenden Denken, Fühlen und Handeln. Man könnte also behaupten, dass Autismus dadurch eine eigene Kultur ist. In den Ferien suchen sich Tourist*innen solche Unterschiede in der Regel und sind fasziniert, wie man die Welt auch noch sehen kann, was letztlich bereichert. Das wäre auch gleich die Anleitung, wie allistische Menschen Autismus sehen sollten – Vielfalt als Gewinn.
Wie heisst man autistische Schüler*innen in der Klasse willkommen?
Wenn man die Welt anders wahrnimmt, dann unterscheiden sich auch die Bedürfnisse. Und da intuitiv auf die Bedürfnisse nicht-autistischer Menschen eingegangen wird, sind die Aufgaben, die der Schulalltag autistischen Kindern stellt, oftmals eine Überforderung. In diesem Bewusstsein müssen unbedingt Anpassungen vorgenommen werden. Auch eine andere Art des Seins sollte in der Schule willkommen sein. Neurodiversität sollte nicht nur geduldet werden, sondern auch ein bisschen zelebriert, indem die Freude an der Vielfalt für alle spürbar wird.
Der Start in einer neuen Schulstufe ist für ein autistisches Kind darum verständlicherweise immer eine grosse Herausforderung.
Tipp Nr 1: Der erste Kontakt in der vorhergehenden Stufe
Unsere schulischen Heilpädagog*innen knüpften schon vor dem Start ihrer Verantwortung für das autistische Kind Kontakt. Sie besuchten es in der vorhergehenden Stufe – mehrfach. Kurz darauf startete der erste Besuch am neuen Ort. Mein jüngerer Sohn lernte (bedingt durch Corona) das Schulzimmer ohne Schüler*innen kennen, was aber gar nicht so schlecht war. Mein älterer Sohn musste für die 1. Klasse damals zudem noch die Angst vor dem Schulbus verlieren. Mit der Klassenassistenz ging er also Schulbus fahren. Einmal auch nur zum neuen Schulhaus, um das Areal zu erkunden. Und trotz dieser Vorbereitung wusste ich nicht, ob er am ersten Schultag dann auch wirklich in diesen einsteigen wird, oder ob das Annähern noch mehr Zeit braucht. Er schaffte es. Es gibt aber durchaus Kinder, die benötigten noch mehr Annäherungszeit oder Begleitung, bis sie schliesslich alleine einzusteigen wagen. Ausschluss ist für mich nie eine Lösung – kleinschrittige Anpassungen und Geduld aber schon, Rückschritte und Fortschritte im Wechsel.
Tipp Nr 2: Austausch zwischen Eltern, Lehrkräften und Therapeuten
Ein gelingender erster Schultag startet, wie gesagt, nicht am ersten Schultag. Sehr empfehlenswert ist auch immer ein runder Tisch davor. Unsere erste Schulleitung fand den nicht wichtig, da vor den Sommerferien alle Lehrpersonen sowieso schon am Limit sind. Das entpuppte sich dann als falsch. Denn das waren sie durch diese Strategie kurz nach Start des neuen Schuljahres schon wieder. Dieses Vorgehen blieb aber einmalig. Wichtige Fragen wurden fortwährend an diesen runden Tischen diskutiert. Was sind die Stärken und Schwächen des Kindes – die Interessen? Was für ein Lerntyp ist es, wie wird mit sensorischen und sozio-emotionalen Reizen umgegangen? Was hilft ihm? Ist das Thema WC noch etwas schwierig zu bewältigen? Wie sieht es mit Stimming aus etc.
Tipp Nr 3: Der erste Schultag – weniger ist mehr
Endlich war es soweit – der erste Schultag stand vor der Tür. Jedes Kind der 1. Klasse wurde begleitet durch einen Elternteil. Das Klassenzimmer war dennoch voll. Und so murmelte mein jüngerer Sohn immer wieder vor sich hin: „Ich habe keine Angst.“ So ganz ohne schien es also nicht zu sein. Zum Glück wurden alle Elternteile Corona bedingt nach 45min gebeten, das Schulareal zu verlassen. Endlich. Man muss sich natürlich fragen, ob der erste Tag mit diesem Menschenauflauf und mit singenden, Spalier stehenden Mittelstufenschüler noch dazu, sein muss. Denn schön war das für meine Kinder nicht. Mein älterer Sohn rannte durch den Spalier, mein jüngerer Sohn hielt sich die Ohren zu. Ginge das nicht auch anders? Die Lösung muss aber keineswegs so sein, dass der Start für das autistische Kind halt einen Tag später stattfindet. Man könnte alles auch reizarmer gestalten. Dennoch, meine Kinder bewältigten es auch so. Wenn ich entscheiden dürfte, ob dabei sein oder erst am nächsten Tag starten, würde ich mich für ersteres entschieden, da Ausschluss nicht wirklich eine kreative Lösung ist und verletzt. Hätte ich zudem die Wahl für einen reizarmen Start – ich wählte auf jeden Fall den.
Tipp Nr 4: Von den Erfahrungen der Eltern profitieren
Das Profitieren von den Erfahrungen der Eltern ist mehr eine Grundhaltung, dass man dies auch zulassen will. Es ist unmöglich, dass mit dem Start schon alle Erfahrungen weitergegeben worden sind. Aber was man gemeinsam klären kann, ist, welches Gefäss sich dafür eignet. Ich persönlich telefoniere ausgesprochen ungern und sage überrumpelt auch mal zu was ja, was ich nachher negieren muss. Ich mache mir gerne in Ruhe Gedanken und bin nicht so spontan, wie es andere Eltern vielleicht sind. Aber man darf mir jederzeit Fragen via E-Mail schicken – davon bekam ich in der zweiten Woche auch etwas zwanzig. Ich liebe es, wenn Menschen fragen. Und ich überlege auch gerne einen Moment in Ruhe, wie ich mir ein Verhalten erkläre etc. Mein Mann hingegen ist da viel flexibler und spontaner. Eilt es, dann ist er die Ansprechperson.
Tipp Nr 5: Lerntypen – Autist*innen lernen anders
Gleichmacherei wäre manchmal so bequem. Sie entspricht uns Menschen aber nicht.
„Not all children are ready to learn the same thing at the same time in the same way.“ Kathy Walker
Das gilt für meine autistischen Kinder um ein Vielfaches mehr. Sie brauchen visualisierten und strukturierten Unterricht – ja nicht chaotisch in rasantem Tempo und zu viele verschiedene Eindrücke gleichzeitig. Der Teacch Ansatz hat einiges an Anregung dazu auf Lager – auch Pinterest ist voll davon. Wichtig ist, dass Lerninhalte in den Fokus des Kindes rücken können. Das geht besonders gut, wenn man die Interessen des Kindes nutzt und eben da ansetzt – reizarm, mit genug Zeit und logisch. Mein jüngerer Sohn liebt Würfel und die Zahlen bis 100 auf Englisch. Mit dem Tablet und der Spracheingabe geht auch alles autodidaktisch. In der Schule hingegen wird rückwärts gezählt, in Zweierschritten vorwärts, drei unterschiedliche Zahlen nach aufsteigendem Zahlenwert sortiert, „grösser und kleiner als“ eingesetzt, natürlich in Hochdeutsch oder dann der Muttersprache etc. Der Unterricht ist wunderbar vielseitig – eigentlich ein toller Unterricht für ganz viele Kinder. Ich schliesse nicht aus, dass meinen jüngeren Sohn dennoch Teile davon sehr ansprechen und er so motiviert wird, selber über Zahlen zu forschen. Ich spüre, dass ihn das Thema Mathe packt und rechne mit ihm zu Hause mit Würfeln und in englischer Sprache. Und siehe da – das Kind macht mit!
Autistische Kinder sind bottom up Spezialisten. Auf der Ebene der Perzeption müssen wir also durch ihre Begabung für Details nicht noch zusätzlich füttern – aber ihre Interessen berücksichtigen und Zeit geben, um die vielen Wahrnehmungen auch zu analysieren und so selbstentdeckend eine Sache, wie zum Beispiel das Wesen der Addition, zu identifizieren und wiederzuerkennen.
Und dafür braucht mein jüngerer Sohn eben Struktur (2 Würfel = addieren), Visualisierung (Punkte der Würfel liegen beständig da). Mein älterer Sohn ist diesbezüglich viel flexibler – aber auch er bringt dann Höchstleistung, wenn dies zutrifft.
Tipp Nr 6: Die vergessenen Fächer – duschen, in der Garderobe sich umziehen und Co
Meinen autistischen Kindern mangelt es nicht an kognitiven Kompetenzen, aber durch die andere Wahrnehmung und das Schulsystem, das gleichzeitig auf allistische Kinder abgestimmt ist, wird so manches eine Überforderung. Bekannt ist, dass schulische Lerninhalte dadurch visualisiert und strukturiert werden müssen. Es geht aber noch weiter. Meine Beispiele betreffen Garderobe, WC, Pausenplatz und Dusche. Es geht also nicht nur um Mathe, Deutsch, Turnen und Handarbeit – um das unsichtbare Curriculum der Organisation dazwischen, was ebenfalls in alles Schulische mit hinein spielt und nicht vergessen werden darf.
Ein grosses Thema an jedem runden Tisch war lange das viel zu langsame Tempo in der Garderobe beim Umziehen/Anziehen. Und manchmal eilt es eben, denn die Lektion beginnt oder der Schulbus fährt nach drei Minuten Verspätung ab. Das führte im Kindergarten tatsächlich zur anfänglichen Ratlosigkeit seitens Schule. Aber auch da gibt es Lösungsvorschläge. Laut meiner Schwägerin, muss man auch nicht Heilpädagogik dafür studiert haben, nein – gesunder Menschenverstand. Man kann ein Kind durchaus etwas früher in die Garderobe schicken, mit dem Timetimer Transparenz schaffen oder halt auch mal helfen oder es führen, wenn es schnell gehen muss.
Das Thema WC ist ebenfalls difficile. Eines meiner Kinder benutzte das WC auswärts nie. Das bereitete allen in der Schule erstmals kopfzerbrechen. Ein anderes WC, das war nicht stimmig und machte Angst. Druck war natürlich kontraproduktiv. Als mein jüngerer Sohn aus Angst vor der Toilette hinter einen Baum pinkelte, resultierte dies in einem etwas dramatischen Telefonat aus dem Kindergarten. So löste ich das Problem nämlich, wenn wir unterwegs waren, stand schliesslich in einem Erziehungsratgeber: „Was ein Hund darf, darf auch ein kleines Kind.“ Diese Idee wurde aber abrupt abgeklemmt, da es die anderen Kinder scheinbar verstörte. Aber mit Ersatzkleider in der Garderobe, war immerhin ein Plan b parat. Allerdings brauchten wir diese nie bei einer unterdessen derart trainierten Blase.
Ganz wichtig ist auch das Bewusstsein, dass die Pause draussen, inmitten von 700 Schüler*innen, für autistische Kinder oftmals keine Pause ist. Sie brauchen Hilfe oder Rückzugsorte oder möchten diese vielleicht doch lieber in der Bibliothek oder im Klassenzimmer verbringen. Ich weiss, es wäre auch die Pause für die Lehrpersonen, wenn auch ein höchst ungünstiger Zeitpunkt mit autistischen Kindern in der Klasse…
Ab der Mittelstufe wurde plötzlich das Turnen zu einer Herausforderung, da das Duschen danach einfach nicht geht und doch verlangt wird. Duschen schmerzt auf der Haut. Auch zu Hause geht das nicht. Und solange es keinen Wellnessbereich mit Bad gibt – nicht durchführbar. Zum Glück wurde das sofort Ernst genommen. Die Welt geht ja auch nicht unter, wenn ein Kind der Klasse nicht duscht und das zu Hause nachholt.
Ich hoffe, dass anhand unserer Herausforderungen gespürt wird, was so ein unsichtbares Curriculum in den manchmal vergessenen Fächern autistischen Kindern abverlangt.
Tipp Nr 7: Erster Kontakt zum Kind über Interessen
Bei allistischen Kindern geht das Knüpfen des ersten Kontaktes oftmals über das Gespräch. Es mag autistische Kinder geben, die das mögen. Meine nicht. Smalltalk ist für sie sinnlos und wirkt dadurch abstrus und keineswegs verbindend. Der einzige Weg ist der über die Interessen. Das kann bedeuten, dass man einfach diskret mitmacht bei dem, was jüngere Kinder spielen oder bei älteren Kindern, dass nach den Hobbys gefragt und zugehört wird – je nachdem. Es braucht auf jeden Fall Fingerspitzengefühl. Auch gibt es Kinder, wie mein älterer Sohn, der Schule und zu Hause akribisch voneinander trennt. Es findet sich aber bestimmt etwas, das in beiden Welten Platz hat. Dafür braucht es vielleicht ein Gespräch mit den Eltern – mit welchem Interessen man in den Fokus des Kindes rücken kann. In der Spielgruppe war das bei meinem jüngeren Sohn Feuer. Aber erst die Ergotherapeutin griff dies dann mit Freude auf. Natürlich verstehe ich, warum da eine gewisse Gehemmtheit da ist. Mein älterer Sohn würde sich bestimmt auf ein informatives Gespräch einlassen – gerade aktuell sind Bolsonaro, Kim Jong Un, Trump und die verschiedenen Rubik’s Cube und natürlich Covid 19.
Tipp Nr 8: Reizreduktion
Meine autistischen Kinder haben in vielen Bereichen eine Hyperwahrnehmung. Einerseits können sie nicht wirklich gut Reize filtern und nehmen dadurch alles gleich intensiv wahr, andererseits werden auch einzelne Reize verstärkt wahrgenommen. Ein autistisches Kind lernt aber nie mit viel zu vielen emotionalen, sozialen oder sensorischen Reizen umzugehen. Es liegt also in der Verantwortung der Schule, dass ein autistisches Kind Rückzugsmöglichkeiten findet bei Bedarf – sei das eine mit Paravent abgetrennte Ecke zum ruhigen Arbeiten, der Vorbereitungsraum, eine Hängematte in der Bibliothek, ein Zelt am Rande des Zimmers oder gar ein Platz im ruhigen Schulleiter*innenbüro. Dasselbe Thema natürlich auch in der hallenden Turnhalle, der Pause mit 700 Kindern gleichzeitig, auf Arbeitsblätter mit viel zu vielen Infos und ablenkenden Bildern, Hörverständnis in Englisch vom CD Player, engen Zeilen beim ersten Lesen lernen, Frontalunterricht, wenn alles räuspert etc. Manchmal leisten auch Hilfsmittel oder kleine Anpassungen gute Dienste – ein Pamir vielleicht, nicht flackernde Glühbirnen in den Lampen, Vorhänge, die Lärm schlucken etc. Ganz wichtig ist auch, dass man Stimming nicht pathologisiert und den Grund versteht. So kann ein Stimmwürfel o.ä. in den Händen des autistischen Kindes dieses beruhigen oder gar in der Konzentration unterstützen.
Tipp Nr 9: Meltdown und schulfreie Pausentage
Das Leben mit einer Hypersensitivität in manchen Bereichen muss sehr anstrengend sein. Ein Overload an Reizen kann gar zu einem Shutdown oder Meltdown führen. Findet das in der Schule statt, muss ebenfalls eine Strategie parat sein.
Mein jüngerer Sohn kehrt in sich, wenn ihm alles zuviel wird und gibt keine Antworten mehr. Alles wird zudem in extrem langsamem Tempo verrichtet oder verweigert. Ob das vielleicht ein Shutdown ist? Jedenfalls braucht er dann eine Pause, Rückzug, Ruhe, sein Zimmer mit Tablet, um sich eine Geschichte zum 5062. Mal anzuschauen oder am allerliebsten ein Schaumbad – mit viel, viel Schaum. Türe zu. Bad für längere Zeit besetzt. Aber danach, da darf ich ihn mit Bodylotion eincremen.
Mein älterer Sohn reagiert hingegen gegen aussen, was sehr explosiv wirkt und ihn vereinnahmt. Er nennt dies selber Meltdown. Trösten klappt bei ihm dann nicht – er braucht seine heftige Reaktion, die zugelassen werden muss im Alleinsein, bis er wieder ‚entspannter‘ ist. Das kann für eine allistische Denkweise befremdlich wirken – dass Nähe nicht mehr geht, aber man sehr wohl diskret in der Nähe sein muss.
„Da sein. Ruhig bleiben. Dafür sorgen, dass sich niemand verletzt. Möglichst nicht sprechen, denn das sind noch mehr Reize, die in dieser Situation nicht verarbeitet werden können. (…) Die Welt erstmal aussperren.“ Ellas Blog
Das ist Begleitung auf hohem Niveau. Es ist für mich oftmals nicht einfach, in solchen Gefühls intensiven Situationen nicht in diesen Strudel hinein zu geraten und meinem Kind in Not Ruhe zu schenken. Vielleicht wird durch diese Beobachterrolle einem aber auch klar – eine Schule muss versuchen, dass es nicht zu solch heftigen Reaktionen aufgrund einer Reizüberflutung kommt und gleichzeitig wissen, dass sie halt trotz allen Bemühungen vorkommen.
Auf Twitter las ich einmal von einem etwas älteren Mädchen, das wahrnahm, wenn sich alles zuspitzte, ihre Arbeit sofort unterbrach und selbständig ins Schulleiter*innenbüro ging, sich dort auf den blauen Stuhl setzte und lange und ausgiebig Lego spielte – eines ihrer grossen Interessen mit Stimming Charakter und sich dadurch langsam entspannte. Allerdings ist dies eine grosse Leistung, wenn man sich so gut spürt und dann auch noch reagieren kann. Bei uns aktuell noch nicht möglich. Es ist aber auch sehr schwierig, sich aus einer Situation zu nehmen. Es muss gar nicht die Party oder der Restaurantbesuch sein, die überfordern – schon im unspektakulären Alltag birgt so manche Herausforderung. Und genau diese gilt es zu erkennen, zu reagieren und anzupassen – ein Schutz fürs Kind. Darum lohnt es sich bei herausforderndem Verhalten auch immer nach dem Warum zu fragen.
Tipp Nr 10: Verzögerte Reaktion nach Schultag zu Hause verstehen
Manche autistischen Kinder verhalten sich in der Schule unauffällig und dennoch staut sich Stress immer mehr an und erst zu Hause kommt alles raus – ein aufgeschobener Meltdown, der sich erst in den vertrauten vier Wänden entlädt. Auch das ist ein Zeichen, dass die Schule Reize reduzieren muss, Hilfsmittel anbieten, den Nachteilsausgleich umsetzen etc. Oftmals wird Eltern unrecht getan und nicht geglaubt. Es wird als ein alleiniges Problem der Familie abgehandelt. Das schwächt das System Familie, da es so zu keiner Lösung kommen kann – im Gegenteil.
Ab und zu braucht ein autistisches Kind vielleicht einen oder zwei oder mehrere Freitage zusätzlich. Das soll aber nicht als Ausschluss dienen und so die Reizreduktion überflüssig machen. Für meinen älteren Sohn fühlt sich das wie eine Strafe an und ein Verlust der Routine. Er braucht Konstanz und erhält dadurch Sicherheit. Für meinen jüngeren Sohn hingegen war eine Pause, zumindest im Kindergartenalter, ein dankbares Aufatmen seinerseits. Meine Kinder sind das zwar nicht, aber auch ein in der Schule scheinbar entspannt wirkendes Kind braucht möglicherweise einmal eine Auszeit. Dazu sollte man weder verdonnert werden, noch total dagegen sein. Im gegenseitigen Respekt sollte sich ausgetauscht und Lösungen gefunden werden, die dem Kind dienen.
Tipp Nr 11: Verlangsamung
Die heutige Zeit ist so schnelllebig. Und obschon alles immer schneller wird, gilt ’sich Zeit nehmen‘ als kostbares Gut. Dies darf ich durch meine autistischen Kinder schätzen und geniessen lernen, und zwar im sich Verweilen. Ich vermute, dass sie sich auch genauso die Welt aneignen. Selbst gewählt machen sie das oft. Aber in der Schule gehört Tempo dazu. Das widerspricht ihrer anderen Art des Seins. Eine Verlangsamung der Welt hilft enorm, um in der Schule glücklich zu werden. Geschwindigkeit findet sich aber auch im Detail. Schnell ist beispielsweise die gesprochene Sprache. Laute existieren nur kurz und sind kaum da auch schon wieder weg. Kaiser-Mantel (2017) ergänzt die Langsamkeit zudem mit ‚weniger ist mehr‘ und gibt somit eine Anregung, auf was man in der Kommunikation mit einem autistischen Kind achten soll.
„Rede klar, rar und wahr.”
Es lohnt sich also, das Tempo zu drosseln, sich sprachlich ganz in diesem Sinne auszudrücken und auch mal 10 Sekunden auf eine Antwort zu warten. Und wenn ich mir das mit den Sprichwörtern wörtlich durchdenke, so ist es wirklich nicht wahr, dass Morgenstund Gold im Mund hat oder wenn jemand eine Grube gräbt, er dann auch selber hinein fällt etc.
Der Teacch Ansatz arbeitet mit Verlangsamung der etwas anderen Art, indem die Welt strukturiert und visualisiert wird. Das entschleunigt beides ebenfalls und ermöglicht Reflexion in Ruhe. Aber ehrlich gesagt – seit ich das Buch Sketchnotes gelesen habe, wird mir klar, dass es die meisten Menschen bildlich mögen: Mindmap, bildnerische Darstellung einer Geschichte, Unwichtiges wird weggelassen etc. Ein Bild ist statisch und schenkt Zeit und prägt sich oftmals leichter ein. Er ist wiederholbar zu lesen und man kann Wichtiges hervorheben. Der Picture Superiority Effect geht jedoch klar davon aus, dass das Gehirn Bilder dem Text vorzieht. (Vgl. Sketchnotes S. 5.)
Keine Beständigkeit schenkt uns die mündlichen Sprache. Gesprochene Worte sind eben flugs weg.
Dasselbe mit der Bewegung, die extrem schnell vonstatten geht. Darum gehen auch Ballspiele im Turnen oft viel zu schnell für eine autistische Wahrnehmung und werden dadurch im Nachteilsausgleich erwähnt.
Tipp Nr 12: Veränderung vorhersehbar machen
Meine autistischen Kinder haben ein Flair fürs Detail. Das ist eine Begabung und Erschwernis gleichzeitig. Sie orientieren sich so nicht am Bekannten, wie allistische Menschen – in ihren Fokus rückt oftmals eben das abweichende Detail. Dadurch sind Veränderungen noch viel verunsichernder, da das Bekannte wegfällt und jede Situation neu ist quasi. Ein Stundenplanwechsel, kranke Lehrperson oder plötzlich neue Banknachbarin, das kann Angst hervorrufen dadurch. Meine Kinder lieben Routine und Ordnung. Darum ist es wichtig, das Veränderungen vorhersehbar gemacht werden. Das kann im Gespräch stattfinden, bei dem auf verschiedene oder abweichende Szenario vorbereitet wird. Oder dann bekomme ich von der Schule ein SMS morgens und kann so meinen Kindern Sicherheit geben, indem ich die Abweichung ankünde. Zwei Wochen vor dem Geburtstag oder einer Reise in die Ferien etc zeichne ich meinen jüngeren Sohn Adventskalender ähnlich auf, wie viele Tage es noch dauert.
Dass der Amokalarm mit Evakuierung und Sirene gut über die Bühne ging, hat mich überrascht – positiv. Manchmal läuft es auch ohne. Vielleicht dann, wenn auf die Menschen in der Nähe Verlass ist?
Tipp Nr 13: Die Peers
Alle Eltern autistischer Kinder wünschen sich wohl, dass ihr Kind Freunde findet. Das gestaltet sich aber nicht unbedingt so einfach. Es sind ja andere Kulturen! Die Peers müssen also angeleitet werden, wie man mit einem autistischen Kind lernt, spielt, Gruppenarbeiten macht etc. Wichtig ist die Haltung dahinter – ein autistisches Kind macht es eben auf seine Art. Das ist auch richtig. Und da gleiche Interessen verbinden, hat die Schule zudem einige Asse im Ärmel, die sie bei Gelegenheit zücken kann, damit sich diese Kinder auch finden – Projektwochen, selbe Arbeitsgruppe, auf dem Pausenplatz bekannt machen mittels einer Aktivität etc.
Zudem muss man sich bewusst sein, wieviel Macht die Peers haben, wenn es sich um Mobbing des autistischen Kindes dreht. Tatsächlich hören über 50% der Mobbingsituationen auf, wenn die Peers eingreifen. Die Zuschauer bekommen also plötzlich eine wichtige Rolle. Viele Schüler*innen ertragen Mobbing schier nicht und leiden mit. Aber was sollen sie in solchen Situationen nur tun!? Und genau da sollte man auch ansetzen und diese anleiten. Hilfe holen ist nämlich kein Petzen. Es rettet möglicherweise die psychische Gesundheit autistischer Kinder (Vgl. autism speaks im Anhang).
Es braucht ein ganzes Schulhaus
Ich glaube, um sich auf den Start vorzubereiten, sind nun alle Wege geebnet, sofern die Ressourcen (siehe Anhang) auch gegeben sind. Was ich immer sehr herausfordernd finde im Zusammenleben mit autistischen Kindern, ist, dass stets nach Lösungen gesucht werden muss – auf teilweise sehr unkonventionelle Art und Weise. Das benötigt Kreativität, Flexibilität und Mut, die Komfortzone zu verlassen. Hat man dies aber wiederum begriffen, ist das verlassen des oft starren Denkens auch ein persönlicher Gewinn, der Sicherheit schenkt. Geht das WC auswärts nicht, bestimmen wir einen Baum zum Pinkelbaum. Wird lange Zeit noch lieber Fingerfood gegessen, ist – ohne Drama zu inszenieren – ein nasser Waschlappen stets griffbereit und siehe da, plötzlich geht’s mit Gabel und Messer wie ein Profi. Oder in der Schule, da setzte sich die Schulleiterin mit Laptop ausgestattet in die Nähe meines Kindergartenkindes und arbeitete so, da die Klassenassistenz kurzfristig ausfiel. Oder mein Sohn damals nicht Velo fahren lernen wollte, durfte er in einer Zweiergruppe mit dem Kickboard zum Schwimmbad fahren. Oder rufe ich mal im Lehrer*innenzimmer an, weiss jede*r sofort, wer ich bin und um welches Kind es sich dreht. Das irritierte mich zuerst, aber es zeigt sehr schön, wie sich alle verantwortlich fühlen.
Und so kann ich nur einmal wiederholen – das Herzstück der Integration oder Inklusion sind Beziehungen und es braucht dafür ein ganzes Schulhaus. Aber dient das wirklich nur unseren autistischen Kindern?
Eine interessante Frage, über die sich nachzudenken lohnt.
Literaturliste
- Definition Autismus
https://mobil.news.at/a/interview-autismus-diagnose-11696586
https://www.patreon.com/posts/things-autistic-38289346
2. Support in school
https://www.autismus.ch/downloads/schule.html
https://blog.hope-education.co.uk/7-ways-to-support-autistic-children-in-schools/
http://www.thinkingautismguide.com/2019/12/an-inclusionists-manifesto.html?m=1
https://www.tes.com/news/10-things-autistic-students-want-you-know?amp&__twitter_impression=true
3. Delayed effect after school meltdown & masking
https://ourcrazyadventuresinautismland.com/the-delayed-after-effect/
„Delayed effect, after school meltdown“:
https://www.kathybrodie.com/guest-post/autism-and-the-delayed-effect/
http://www.smarttalkersblog.com/2020/06/but-they-have-no-problems-in-school.html?m=1
4. Mobbing
https://www.autismspeaks.org/blog/7-steps-take-stand-against-bullying
Die beiden Artikel gefallen mir sehr – allerdings muss ich dazu erwähnen, dass autism speaks von vielen Autist*innen, aufgrund der einstigen Einstellung Autismus gegenüber, abgelehnt wird. Kritik zu Recht.
5. Meltdown
Einige Artikel versuchen Wutanfall gegenüber Meltdown abzugrenzen (siehe Patientalk, Ellas Blog), was ja „erzieherisch“ sehr interessant wäre. Andere (siehe Autistenbloggen) machen dies nicht, da durch die Hyperwahrnehmung oder überreaktive Amygdala (…) diese Unterscheidung gar keinen Sinn macht, was meinem Empfinden, als beobachtende Mutter, sehr nahe kommt. Und weitere setzen zudem einen Schwerpunkt darauf, wie man Autist*innen im Meltdown „helfen“ kann (siehe Ellas Blog). Das hat mich ebenfalls in meinem Handeln dann bestätigt und zugegeben – etwas beruhigt gar.
https://patienttalk.org/meltdown-vs-tantrum-why-people-get-confused-autism-meltdown/
6. Allistisch = nicht autistisch
7. Rahmenbedingungen für gelingende Inklusion
Knüpperfahrenberg, B. (2011.) Schule in Bewegung. Die Voraussetzung für erfolgreiches gemeinsames Lernen in der Schule, in: Bundesverband Autismus Deutschland e.V. (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit Autismus, Karlsruhe. (S. 366.)
„Eine Bereitschaft der allgemeinen Schule und ihrer Administration, einen inklusiven Unterricht zu unterstützen und sich den entsprechenden Erfordernissen zu stellen, ausreichend räumliche und materielle Ressourcen (Nebenräume, Rückzugsmöglichkeiten, spezielle Medien), kleine Klassen, Einsatz von Lehrkräften mit Fachwissen über Autismus und entsprechenden Handlungskompetenzen, Bereitschaft der allgemeinen Lehrkräften zur Kooperation mit sonderpädagogischem Kräften (am besten Zwei-Lehrer-Prinzip), PraxisberaterInnen für Autismus und Schulhelfern, Aufgeschlossenheit aller Lehrkräfte für einen inklusiven Unterricht, Fort- und Weiterbildung in Bezug auf Autismus, Zusammenarbeit mit Eltern autistischer SchülerInnen, Zusammenarbeit zwischen Schule und Autismus-ExpertInnen, therapeutischen Fachkräften, Sozial- oder Kinder- und Jugendamt, Bereitschaft für eine innere Differenzierung des Unterrichts und eine Orientierung am Prinzip: soviel gemeinsam wie möglich, soviel differenziert wie nötig.“