Adultismus – oder wenn der Bobby Car zur Gefahr wird

Der Bobby Car

Jedes Jahr im Frühjahr findet in unserer Siedlung die Miteigentümerversammlung statt. Ein Traktandum vom letzten Jahr beanstandete das Spielen der Kinder auf dem kleinen Weg, der alle Häuser miteinander verbindet. Als Grund wird genannt, dass das kein Spielplatz sei. Aber ehrlich gesagt, so wurde mein Vater schon vor unserem Einzug von einem Bekannten gefragt, ob wir auch einen Bobby Car hätten und man hoffe nicht, denn das sei ein riesen Lärm, wenn dieser über die Steine rattere…

 

Ja, was geht hier eigentlich ab!? Um sich dem bewusst zu werden, stelle ich allen ein paar Fragen, die vielleicht helfen hinter ein Phänomen zu blicken:

 

  1. Warum sollen die Kinder nicht auf dem kleinen Weg spielen?
  2. Was ist wohl der wahre Grund dafür?
  3. Wo sollen die Kinder denn spielen? (Spielplatz in der Siedlung existiert nicht.)
  4. Warum ist es für Familien mit Kindern praktisch, wenn auf dem Wegli gespielt wird?
  5. Warum ist es für Familien mit autistischen Kindern noch einen Tick praktischer, wenn auf dem Wegli gespielt wird?
  6. Welche Altersgruppe ist schuldig zu sprechen, dass Bobby Car fahren auf dem Trottoir neben der Strasse für Kinder lebensgefährlich ist?

 

Keine Ahnung, wie es euch dabei geht, aber mir kommt es so vor, als würden die Erwachsenen einerseits die Umgebung durch den Strassenverkehr für Kinder kaputt machen und gleichzeitig wollen, dass sie wiederum zu Hause Ruhe von ihnen haben. Und da sind doch die Kinder mit ihren Bobby Cars, die noch einen sicheren Rahmen vor ihrer Haustür brauchen. Und leider eine leide Gleichung, aber die Erwachsenen, die sich von Kindern mit Bobby Cars ärgern lassen und dieses Spiel verbieten wollen, haben auch noch ganz andere Forderungen, was Kinder alles nicht dürfen.

 

Und schon sind wir mitten im Thema Adultismus angelangt.

 

Was ist Adultismus

Irene und Valerio Arrighini untersuchen in ihrem Buch die Diskriminierung, die sich gegen Kinder und Jugendliche richtet. Sie definieren den Begriff Adultismus folgendermassen:

 

„Es beschreibt die Tendenz von Erwachsenen, sich gegenüber Kindern und Jugendlichen als überlegen zu betrachten und sie aufgrund ihres Alters und ihrer vermeintlichen Unreife zu diskriminieren.“ (Seite 15)

 

Gleichzeitig ist Adultismus nicht nur das Problem einiger unserer Nachbarn, die Kinder scheinbar in gewissen Bereichen als störend empfinden und sich berechtigt fühlen, ihre eigenen Bedürfnisse als Regeln gerade für alle geltend festzumachen – es ist ein gesellschaftliches Problem. Ich kann also noch lange enttäuscht sein, wie despektierlich mit Kindern umgegangen wird, die eine Fahrt mit dem Bobby Car in Angriff nehmen wollen. Ich ändere damit nur wenig. Es braucht dafür ein grundlegendes Umdenken.

 

Ein erster Schritt, um einen guten Umgang zwischen den Generationen zu finden, ist sich der folgenden zwei Tatsachen bewusst zu werden:

 

  • Kinder und Jugendliche sind vollwertige Menschen mit eigener Meinung, eigenen Gefühlen und eigenen Bedürfnissen. Sie haben, so Irene und Valerio Arrighini (S. 18), das Recht, über ihre eigenen Angelegenheiten mitzubestimmen.
  • Erwachsene leben schon länger und haben viele Erfahrungen gemacht. Dennoch bedeutet das nicht, dass sie dadurch auch immer Recht haben – Autorität soll also verantwortungsvoll und selbstkritisch ausgeübt werden.

 

Wird dies nicht respektiert, fühlt sich das so an, wie es H. C. Rosenblatt pointiert auf den Punkt bringt:

 

„Kinder sollen die Erwachsenen mal machen lassen, damit diese ihnen ‚das Beste‘ antun können. Damit Erwachsene noch immer mehr Gründe haben, weitere Forderungen als legitimiert einfordern können.“ H. C. Rosenblatt (einblogvonvielen)

 

Es sind somit alle (Eltern, Lehrer*innen, Journalist*innen, Politiker*innen etc.) aufgefordert, sich kritisch mit dem Thema Adultismus auseinanderzusetzen. Es soll nach und nach ein neues Bewusstsein verinnerlicht werden, dass wir doch alle gleichwertig sind. Zudem hilft es Räume zu schaffen, in denen verschiedene Generationen miteinander in Kontakt treten können, alte Denkmuster über den Haufen geworfen werden und ein respektvoller und wertschätzender Umgang miteinander gelebt wird. Das bedeutet, dass es manchmal auch ziemlich unbequem wird, wenn man eigene Privilegien auf Kosten anderer entdeckt. Aber genau darum geht es ja.

 

Autismus und Adultismus 

Trifft Adultismus auf Autismus, ist es gut möglich, dass sich die Diskriminierung rasch verdoppelt und es zu grossen Konflikten kommt – letztlich auf Kosten des Kindes. Das hat damit zu tun, dass autistische Kinder eine andere Kultur der Interaktion leben und intuitiv von einer Gleichwertigkeit aller Menschen ausgehen. Leider ist unsere Gesellschaft noch nicht wirklich parat, um Neurodivergenz ihren rechtmässigen Platz zuzusprechen und somit zu akzeptieren, dass man sein Leben und Sein sehr unterschiedlich führen oder sehen kann: Es ist manchen autistischen Kindern fern, dass man sich hierarchischen Strukturen unterwerfen soll. 

 

„Konkret bedeutet dies, dass ein Kind mit ASS stark dazu neigt, alle Menschen – egal ob Kind, Jugendliche oder Erwachsene – hierarchisch auf der gleichen Stufe anzusiedeln. Das führt dazu, dass viele natürliche Regeln und natürliche Hierarchien hinterfragt werden (…).“ Thomas Girsberger (S. 21)

 

So findet mein Teenager keinesfalls, dass das Wegli nicht zum Spielen da sein soll und ist total unbeeindruckt, dass dies drei Parteien dennoch genau so postulieren und dauernd Kinder tadeln deswegen. Und natürlich hat er Recht. Es ist ein Wunsch derer und nichts Gesetzeskräftiges. Nichts desto trotz halten sich manche Kinder daran, da Adultismus in der Regel gewinnt. Ich selber bitte meine Kinder ja auch, dass sie ein anderes Strässchen für  Strassenkreide Zeichnungen etc. wählen sollen, sind sie doch nun etwas älter und das von der Sicherheit her vertretbar. Aber ich benennen es beim Namen, dass es Konflikte gibt, weil ‚die‘ noch nicht wissen, dass sie falsch liegen und ich sie vor Konfrontation bewahren will. Aber rasch die Post mit dem Kickboard holen, das lasse ich sie auch über diesen kleinen Weg und wehe, wer dann noch „e Tummi“ hat (= ausruft).

 

Wünsche, Bedürfnisse und individuelle Freiheiten

Selbstverständlich kann man nicht jede natürliche Regel Erwachsener unter Adultismus abbuchen und es ist nicht damit gemeint, dass Kinder alles entscheiden dürfen/müssen.

 

„Es geht nicht darum, Kinder zu Erwachsenen zu erklären, sondern genau darum, sie nicht zu den Spielbällen unserer Ängste, unseres Drucks oder von einer Überheblichkeit zu machen.“ Inke Hummel

 

Gerade weil meine autistischen Kinder keine intuitiven Hierarchien Befolger sind, ist es für uns als Eltern vielleicht gar einen Tick einfacher uns zu reflektieren, da sie durch ihr Verhalten Unstimmigkeiten im adultistischen Machtmissbrauch sofort aufzeigen und einfach nicht mitmachen ***. Sie fordern quasi, dass ich meine Regeln hinterfrage – immer am Abwägen, ob etwas nun ein Bedürfnis, ein Wunsch oder gar ein grosses Interesse ist, das nicht abgewürgt werden darf.

 

Ich muss mich beispielsweise fragen, ob man denn wirklich mit hundskommunem Besteck essen muss, so wie es alle tun. Oder darf die Besteckschublade auch nach persönlichen Bedürfnissen der Kinder erweitert werden? So isst mein älterer Sohn gerne mit Plastikbesteck, weil sich das im Mund besser anfühlt und mein jüngerer wiederum, der ein totaler Japan Fan ist, mit Stäbchen aufgrund von Lebensfreude gemischt mit Nonkonformität. Ich finde es hier absolut sinnvoll, dass Regeln auf irgendeine Art in Frage gestellt werden. Es sind Kinder, die aktuell noch nicht an einen Business Lunch gehen oder gar im Gault Millau Restaurant ihre Mittagspause verbringen. Was jetzt gilt, ist vielleicht in ein paar Jahren wiederum zu hinterfragen.

Ein laissez faire will ich trotz grossem Platz, den meine Kinder bekommen, dennoch nicht. Es muss beispielsweise gefragt werden, wenn man Schokolade oder Chips will und es herrscht da keine Selbstbedienung. Für mich gehören Süssigkeiten zwar zum Alltag, sind aber anders als „Metallbesteck plagt mich im Mund“ kein Bedürfnis in unserem Fall – ein Wunsch. Zudem will ich in diesem Bereich die Kontrolle behalten, da ich möglichst gesunde Kinder will, auch wenn ich sicher nicht extrem darin bin und bestimmt einige Fehler aufgrund von Picky Eating (von einem meiner Kinder) begehe. Aber das sind wiederum Bedürfnisse und keinen ‚Glust‘ auf Schokolade. Wobei sich auch hinter letzterem ein Bedürfnis verstecken könnte, das man je nachdem vielleicht anders erfüllen kann – durch Zuwendung zum Beispiel etc. Es ist gar nicht so einfach.

 

*** Achtung: Es gibt durchaus abzulehnende Therapieformen, die mit Machtmissbrauch arbeiten und dem autistischen (Klein-) Kind keine Chance geben, sich zu wehren. Teils mit traumatischen Folgen. 

 

Adultismus und Ableismus

Das nicht-autistische Umfeld versteht diese Kultur der totalen gelebten Gleichwertigkeit leider nicht unbedingt, darum braucht das auch viel Verständnis. Sonst zieht Adultismus gleich noch Ableismus mit sich. Es sind nicht schlecht erzogen, komische oder freche Kinder per se – es sind kritische Gegenüber mit anderen Bedürfnissen, einem anderen (oft sehr ethischen) Gerechtigkeitsempfinden und anderen (oft nonkonforme) Interessen. Das bedeutet, dass man als Eltern autistischer Kind in sich gehen muss und immer selbstkritisch bleiben. Macht die Regel für Erwachsene Sinn und hat gute Gründe, benötigt es eine Erklärung, warum das so ist, um Transparenz zu schaffen. Sie muss verstanden und akzeptiert werden, damit man ein autistisches Kind mit ins Boot holt. Dafür benötigt das Kind selbstverständlich eine gewisse Reife oder die Anforderungen müssen an diese angepasst werden und vielleicht auch gar nicht verbal erklärt, sondern durch Alltag mit Routine und nur kleinen Änderungen aufs Mal verinnerlicht. Es gibt viele weitere Möglichkeiten dafür. YouTube Filmli auf dem Tablet oder Bilderbücher können ebenfalls hilfreich sein etc.

 

Meine Erkenntnis

Und nicht zuletzt habe ich gerade durch meine Kinder gelernt, dass man nicht immer alles so eng sehen darf. Letztlich sollte man auch sein eigenes Wachstum erkennen, wenn durch einen jungen autistischen Menschen die eigene Welt kurz doppelt anders auf den Kopf gestellt wird und man plötzlich zu verstehen beginnt. Dieses Wachstum wünsche ich übrigens der ganzen Gesellschaft, denn:

 

Es ist eine grosse Bereicherung, die wertschätzender und respektvoller Umgang zwischen den Generationen und mit Diversität mit sich bringt.

 

 

 

Literaturliste

„Ein weiterer wichtiger Faktor im Kampf gegen den Adultismus ist die Anerkennung und Wertschätzung der Vielfalt und der unterschiedlichen Kompetenzen und Fähigkeiten, die Menschen jeden Alters mitbringen.“ Irene und Valerio Arrighini (S. 24)

 

Arrighini, I., Arrighini V. (2023). Aduktismus entgegenwirken: Verständnis, Auswirkung & Strategie für eine gleichberechtigte Gesellschaft. Herstellung und Verlag: Norderstedt – Books on Demand.

 

Girsberger, Th. (2022). Mit Autismus den Alltag meistern. Praktische Hilfen für Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum. Stuttgart: Kohlhammer (21-22)

 

https://www.blick insbuch.de/item/86817733320d9cf5827bbd4421d78a3a

 

Callum Stephen (He/Him) (@AutisticCallum_) posted at 6:33 PM on Fr., Sept. 16, 2022:

Society: “autistic people do not understand hierarchies”.

 

Me: *knows that hierarchies exist and understands how they operate, but doesn’t value them and doesn’t believe any human is: a) more important than another; or b) should mistreat/exploit those “lower down” the hierarchy*.

(https://twitter.com/AutisticCallum_/status/1570813107760697345?t=YSBQidw83scWK4hN29Cyhw&s=03)

 

Respekt hat Stephan Callum schon vor den Leistungen, die jemand erbringt. Aber nicht einfach darum, weil es eine hierarchisch höhergestellte Person ist. Das las ich auch auf Twitter. Finde es aber nicht mehr…

 

„Adultismus ist ein Kind des Ableismus und gehört also zur Familie der Scheiße-ismen, die das zwischenmenschliche Miteinander unserer Gewaltkultur vollständig durchdrungen haben.

Es geht um Macht und damit auch um Gewalt.en.“ H. C. Rosenblatt

 

„Kinder sollen die Erwachsenen mal machen lassen, damit diese ihnen ‚das Beste‘ antun können. Damit Erwachsene noch immer mehr Gründe haben, weitere Forderungen als legitimiert einfordern können.“ H. C. Rosenblatt 

 

„Adultismus ist ein wichtiges Instrument der Kontrolle über Menschen.“ H. C. Rosenblatt 

 

https://einblogvonvielen.org/adultistischer-ableismus-und-kinderinnens/

 

miku (@miku85335434) posted at 6:54 PM on Fr., Aug. 04, 2023:

Nachtgedanke https://t.co/2CCuzyM5Uc

(https://twitter.com/miku85335434/status/1687507418622697475?t=AyJsG9fys7_tT7VlvPUlPA&s=03)

 

https://www.zitate.eu/autor/salvador-dali-zitate/27809

„Das Problem mit der heutigen Jugend ist, dass man selbst nicht mehr dazugehört.“ Salvador Dalí

 

„Das wichtigste Ergebnis unserer thematischen Analyse war, dass die Menschen Autismus einfach nicht verstehen und dieser Mangel an Verständnis die Grundlage für die verbleibenden Themen bildete.“ Erwards, Love und Gibbs

https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/13623613231192133

 

Inke Hummel (@HummelFamilie) hat an 10:04 AM on Mo., Aug. 16, 2021 gepostet:

Es geht nicht darum, Kinder zu Erwachsenen zu erklären, sondern genau darum, sie nicht zu den Spielbällen unserer Ängste, unseres Drucks oder von einer Überheblichkeit zu machen.

#adultismus

(https://twitter.com/HummelFamilie/status/1427179375720534017?t=-AsQcxBs-YfoudjUrGUKng&s=03)

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert