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Das Problem mit der Interaktion
Für viele Menschen sind autistische Kinder eine Herausforderung. Ich vermute, das liegt nicht primär an den autistischen Kindern, sondern an der Unfähigkeit nicht-autistischer Menschen, ein Gespür zu entwickeln, wann es autistischen Kindern so gut geht, damit sie den Kopf für Interaktion auch frei haben.
Aber warum ist das für nicht-autistische Menschen nur so schwierig? Einerseits respektieren wir die autistische Wahrnehmung zu wenig oder scheinen keine Ahnung zu haben, wie herausfordernd ein Leben mit einem extrem empfindlichen Gehirn ist. Andererseits sind wir extrem unflexibel und wollen genau dann mit ihnen interagieren, wenn wir den Impuls dafür in uns spüren – eben spontan. Warten können und nicht sofort zu interagieren, ist aber auch nicht ganz einfach. Unsere Ideen, Gedanken und Projekte müssen abgespeichert werden, ohne zu wissen, wann diese zum Zuge kommen. Abläufe innerhalb des Tages müssen dadurch vielleicht sogar umgestellt werden.
Das überempfindliche Gehirn
Henry Markram hat mal ganz pointiert geäussert, dass Autist*innen nicht zu wenig fühlen, sondern zu viel. Pete Wharmby scheint dies zu bestätigen und schildert den alltäglichen Stress autistischer Menschen.
„Autistic sensory sensitivity can be *incredibly* uncomfortable and even painful. We’re not being fussy or difficult – loud noise, strong smells, bright lights hurt us and stress the hell out of us in ways non-autistic people may struggle to imagine.“ Pete Wharmby
Man muss sich dies vor Augen halten, um zu erahnen, wie anstrengend das Leben für autistische Kinder ist, wenn sie durch die Interaktionsfreudigkeit nicht-autistischer Menschen zudem dauernd gestört werden. Und eines weiss ich – nicht-autistische Menschen sind hartnäckig und probieren das immer wieder. Klappt es nicht, spornt es sie an, alles zu geben. Das führt zu verhaltensauffälligen autistischen Kindern. Aber Stopp – sind es wirklich die autistischen Kinder, die hier das Problem haben? Oder sind es gar die nicht-autistischen Menschen, die kein Gespür fürs Timing haben? Ich zähle mich da übrigens mit dazu – absolut. Ich bin auch nach 14 Jahren Autismus Erfahrung noch lernend. Das mit dem Timing ist aber auch wirklich mühsam. Vielleicht fällt es uns einfacher, autistische Kinder zu verstehen, wenn wir uns an unseren eigenen grossen Stress erinnern. Mittendrin sind wir auch nicht in der Lage, uns weiteren komplexen Herausforderungen erfolgreich zu stellen. Erfolgreich sind wir erst, wenn eine gewisse Entspannung eingetreten ist. Die Lösung ist also nicht einfach nicht zu interagieren und das autistische Kind sein zu lassen – wichtig ist, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.
Das richtige Timing
Um zu verdeutlichen, was es zu beachten gilt, arbeitet Kate C. Wilde mit den beiden Bildern einer Ampel, und zwar eben rotes und grünes Licht. Es hilft uns, das richtige Timing zu finden. Kate C. Wilde traut uns zu, innerhalb von 5-10 Sekunden abchecken zu können, was das Kind uns signalisiert – rotes oder grünes Licht eben.
Rotes Licht
„Wenn du bemerkst, dass dir dein Kind rotes Licht gibt, teilt es dir mit, dass sein Gehirn einen Overload hat und es keine weiteren Informationen verarbeiten kann.” Kate C. Wilde (S. 41)
Rotes Licht nimmt man wahr, indem man das Kind beobachtet oder ihm zuhört. Mein jüngerer Sohn kann durchaus äussern: “Lass mich in Ruhe.” Das soll uns nicht brüskieren. Es ist sogar ziemlich stark, wenn ein autistisches Kind das so mitteilen kann. Es bedeutet, dass es gerade Zeit alleine für sich braucht, der Kopf voll ist und es nicht gestört werden will. Laut Kate C. Wilde lässt sich das aber auch beobachten. Das Kind betreibt vielleicht gerade auf irgendeine Art Stimming oder es hat seine Aufmerksamkeit auf etwas ganz anderes gerichtet und weicht davon nicht ab oder es verweigert jede Bemühung, es ins Boot zu holen.
Die wirklich nette Lehrerin meines jüngeren Sohnes nahm das zu Beginn des zweiten Semesters der 1. Klasse sehr persönlich und fühlte sich abgelehnt. Dabei waren ihre Bemühungen doch so gross. Das stimmt. Sie konnte sich noch so anstrengen und alles geben. Unser Kind signalisierte rotes Licht. Vielleicht bedeutet dieses rote Licht, dass es im Zimmer zu laut ist, der Schulstoff zu schnell und sowieso, dass beim Start der ersten Lektion morgens schon ganz viel zu Hause und im Schulbus abgegangen ist. Das ganzer Aufstehen und sich parat machen, der ältere Bruder, dessen Rhythmus es nicht zu stören gilt und nicht jede*r Schulbusfahrer*in es gleichermassen drauf hat mit autistischen Kindern. Das alles geht nicht spurlos an einem autistischen Kind vorbei und kann schon zu einem Overload führen, noch bevor die erste Schulstunde gestartet hat.
Grünes Licht
“Wenn du feststellst, dass dir dein Kind grünes Licht gibt, dann ist es in der Lage dich an sich heranzulassen und neue Sachen zu lernen. Das Gehirn ist dann open for business.” Kate C. Wilde (S. 41)
Mein jüngeres Kind sendet Signale, wenn es parat zur Kontaktaufnahme ist. Es nimmt mich dann wahr und schenkt mir Beachtung – eine spürbare Zugewandtheit. Wer nun vielleicht denkt, dass man nur bei kleinen autistischen Kindern auf das grüne Licht warten muss, der irrt sich. Ich würde so gerne öfter mit meinem Teenager über Gott und die Welt plaudern. Auch hier gilt dasselbe. Wenn er zu mir kommt mit einem Thema, dann muss ich das nutzen, denn nachher ist dieses Zeitfenster vielleicht wieder geschlossen. Das ist für uns Eltern manchmal sehr anstrengend. Denn er ist ganz eindeutig eine Eule und kein Spatz, wie wir. Der Morgen ist bei ihm geprägt durch konsequent rotes Licht, ausser er macht eine Freinacht. Abends wird er meist kontaktfreudig. Das ist dann, wenn ich müde bin und mein Mann nach einem anstrengenden Arbeitstag vielleicht einfach etwas Zeit für sich braucht. Trotzdem ist es erfüllend, ihm nahe sein zu dürfen, auch wenn uns das lieber irgendwann bis 20 Uhr wäre als um 22 Uhr dann. Aber auch hier festigt es die Bindung, wenn wir darauf eingehen. Selbstverständlich sollen auch unsere Bedürfnisse Raum bekommen und wir dürfen auch sagen, dass wir einfach zu genudelt sind für politische Diskussionen über Massentierhaltung oä. In der Regel lohnt es sich aber, sich nochmals Zeit zu nehmen. Grünes Licht bei unserem Teenager fällt quasi in die Nacht.
Ampel im Griff
Wir wissen ja, die Polizei kann das Lichtsignal beeinflussen. Aber wie steht es mit uns? Können wir das auch? Haben wir denn Möglichkeiten, dass sich das Kind plötzlich auf uns einlässt und mit uns interagiert und somit Ideen von uns annimmt?
Tatsächlich gibt es einen Spielraum, um das Kind auf uns aufmerksam zu machen, und zwar durch Interessen oder Routine. Selbstverständlich klappt das nicht immer. Wir wissen ja nicht genau, was alles hinter einem Rot stecken mag.
Ganz wichtig ist das ja auch in Punkto Therapien, die gerade mal 45 Minuten dauern. Im ersten Jahr war die Logopädie beispielsweise Ende Woche von 11-12 angesagt und es war ein Reinfall. Ein übermüdetes Kind, das nur noch rotes Licht signalisierte und eine verzweifelte Logopädin, die sich jedesmal fragte, ob das Kind hier am richtigen Ort sei. Im zweiten Jahr legte man die Therapie geschickter und hielt am immergleichen Ablauf der Stunde fest. Für meinen Sohn war klar, dass man in der Logopädie schreibt (zuerst die Arbeit) und am Schluss ein Spiel aussuchen darf (dann das Vergnügen). Diese Gleichförmigkeit gab ihm Struktur und somit Sicherheit, das Spiel am Schluss Raum für seine Interessen.
Fingerspitzengefühl
Meine liebste Praktikumsleiterin, die erwachsen schliesslich die Diagnose Asperger Syndrom bekam, machte es mit ihren autistischen Logopädie Kindern intuitiv anders. Sie baute alle Ziele rund um die Interessen dieser auf und respektierte es total, wenn es erschöpft kam und sich bei ihr erholen musste. Natürlich ist das eine hohe Kunst, wenn man es dann schafft, dass das Kind sich erholt, sich sein Spielmaterial selber aussuchen darf und gleichzeitig unbemerkt auch noch an seinen Zielen arbeitet. Aber auch ein totales rotes Licht war nie ein Problem, dann ging es halt nur um Erholung und vielleicht ist ja die nächste Therapie voller grünem Licht.
… und dann denke ich an die Verzweiflung, die mir bei Standortgesprächen auch schon beschrieben wurde, wenn mein jüngerer Sohn rotes Licht signalisierte und dabei blieb. Nein, einfach ist dieses Verhalten natürlich nicht, ausser man versteht, was dahintersteckt.
Literaturliste
Wilde, K. C. (2018). The Autistic Language Launcher. JKP (S. 37 – 41)
Pete Wharmby (@commaficionado) twitterte um 10:28 AM on Mo., Okt. 10, 2022:
Autistic sensory sensitivity can be *incredibly* uncomfortable and even painful. We’re not being fussy or difficult – loud noise, strong smells, bright lights hurt us and stress the hell out of us in ways non-autistic people may struggle to imagine.
#autistic
(https://twitter.com/commaficionado/status/1579388426754748416?t=S1fXkNqyggFMSH-pla5cjw&s=03)