Autismus verstehen lernen – das Modell der “erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit” (Enhanced Perceptional Functioning)

Konsequenzen für die Praxis

Das Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit will Autismus verstehen und Menschen im Autismus-Spektrum mit einer positiven Sicht gegenüber treten.

 

Autistische Menschen denken und lernen anders als nicht-autistische Menschen. Das muss in der Pädagogik und der Therapie immer mit einbezogen werden. `Ungewöhnliche` Verhaltensweisen  haben ihren Ursprung oft in einer erhöhten basalen Wahrnehmungsfähigkeit. Das Leben muss sich ziemlich anders anfühlen, wenn anstatt des Überblicks das Detail im Fokus steht. Die Detailorientierung verunmöglicht nämlich erstmals den Gesamtzusammenhang zu erkennen. Darum sollte in der Spielgruppe, im Kindergarten und in der Schule (aber natürlich auch zu Hause und in der Therapie) in einfacher Sprache erklärt werden, was das Ziel eines Auftrages genau ist. Bildkarten sind zur Strukturierung eines Ablaufes sehr hilfreich, wie auch visualisierte Ablaufpläne oder situationsbezogene “social stories” nach Carol Gray etc.

“Letztendlich geht es um Hilfen zum Erkennen von Zusammenhängen in bestimmten Situationen.” Georg Theunissen

 

Ein Beispiel für das Spielgruppenalter

Damit Kinder im Spielgruppenalter Zusammenhänge erkennen, helfen ihnen Routinen. Diese führen dazu, dass Erwartungen über Menschen aufgebaut werden können, was letztendlich zu der Einsicht führt, dass man diese selber beeinflussen kann. Noch vor Alltagsroutinen empfehlen sich Bewegungsverse als sensorisch-soziale Routinen.

 

Mein kleiner Sohn liebte noch mit vier Jahren folgende beiden Verse
“Es chunnt en Bär vo Konstanz her und nimmt em … s Bucheli weg” oder “Hoppe hoppe Reiter, wenn er fällt dann schreit er. Fällt er in den Graben – picken ihn die Raben. Fällt er in den Sumpf, so macht es plumps.”

 

Solche Verse sind lustvoll, kurz, abgeschlossen (Anfang und Ende definiert) und wiederholbar. Dadurch bekommt ein Kind Sicherheit in einem ersten Durchschauen der Welt.

 

Ein Beispiel für den Kindergarten

Das Kindergartenkind hat im Kindergarten bereits viele visuelle Informationen gespeichert. Diese Details aber in einen räumlich-zeitlichen Kontext einzuordnen, das überfordert ziemlich. Seit dem zweiten Kindergartenjahr hilft meinem kleinen Sohn das gut strukturierte Freispielangebot sehr. Zu jedem Spielplatz hängt in der Mitte des Raumes ein Symbolbild mit so viel Sonnen darauf, wie es Plätze hat. Mit einer Wäscheklammer und dem persönlichen Bild darauf “klemmt” man sich einen freien Platz. Dadurch ist immer klar: Was gibt es für Angebote und welche Plätze sind zum jetzigen Zeitpunkt gerade frei.

 

 

Beispiele für die Schule

Menschen im Autismus-Spektrum haben von Natur aus eine andere Wahrnehmungsverarbeitung. Zuerst werden auf der basalen Ebene elementare Eigenschaften erfasst wie beispielsweise die rote Farbe eines Balles. Darin sind Kinder im Autismus-Spektrum top – das Erkennen, Erfassen und Speichern von Details also. Erst danach werden auf der höheren Ebene Kategorien gebildet, dass es verschiedenfarbige Bälle gibt, unterschiedlich grosse Bälle, dass das Objekte zum Werfen sind etc. Es wird also auf der basalen Ebene Detailwissen gesammelt, das zuerst abgerufen und aufbereitet werden muss. Diese Wahrnehmungsverarbeitung braucht viel mehr Zeit und manchmal fehlen dadurch sogar Energien für globale Erkenntnisse. Das geht dann eben auf Kosten des Erkennens von Zusammenhängen in bestimmten Situationen.

 

So stehen im Nachteilsausgleich meines 10jährigen Sohnes unter anderem folgende zwei Beispiele
Bei offenen Aufgabenstellungen oder bei Werkstattunterricht nächsten Arbeitsschritt konkretisieren. Bei Lernkontrollen ausreichend Zeit zur Verfügung stellen.

 

 

 

“Auf autistisch” entfalten

 

“Zudem sind VertreterInnen des EPF davon überzeugt, dass Personen im Autismus-Spektrum eher ein geeignetes Umfeld, Ermöglichungsräume in natürlichen Settings und Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft benötigen als eine Therapie (Mottron, 2011, 35), die auf Anpassung an die Lebensgewohnheiten und Konventionen neurotypischer Mitmenschen zielt.” Georg Theunissen

 

Und das ist es auch, was ich mir als Mutter für meine beiden Söhne wünsche. Sie sollen nicht neurotypisch werden. Ich will, dass sie sich “auf autistisch” entfalten dürfen.

 

Literaturliste

 

Gray, C., Kind, P. (2011). Comic Strip Gespräche. Illustrierte Interaktionen – Wie man Schülern mit Autismus und ähnlichen Beeinträchtigungen Konversationsfähigkeit vermitteln kann. Rastatt: Pee-Kind@web.de

 

Häussler, A. (2018) Sehen und Verstehen. Visuelle Strategien in der Förderung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung. Stuttgart: Kohlhammer.

 

Theunissen, G. (Hrsg.) 2016. Autismus verstehen. Aussen- und Innensicht. Stuttgart: Kohlhammer.

 

Theunissen, G. (2014). Menschen im Autismusspektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer.

https://autismus-kultur.de/autismus/donna-williams.html

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