Autismus verstehen lernen – die Monotropismus-Hypothese

2. Unübliches Lernverhalten und Problemlösungsverhalten

“Viele Autist(inn)en imponieren mit erstaunlichem Faktenwissen, zugleich haben sie jedoch erhebliche Schwierigkeiten, Dinge zu behalten oder zu erlernen, die sich ausserhalb ihrer Aufmerksamkeit und Interessen befinden.” Georg Theunissen

Darum brauchen autistische Kinder im Kindergarten und in der Schule spezielle Vorgehensweisen (z.B. Interessen des Kindes als Anknüpfungspunkt) und Unterrichtshilfen (z.B. Abläufe visuell sichtbar machen). Das Ziel ist, dass sie trotz monotropistischem Lernstil motiviert bleiben, auch wenn der Unterrichtsstoff nicht ihren persönlichen Interessen entspricht.

Ein paar Life Hacks aus unserem Familienalltag für meinen 6-jährigen autistischen Sohn:

  • Lernmotivation und Lernprozesse jenseits der persönlichen Interessen brauchen Unterstützung – zum Beispiel magst du es nicht einfach mal zu zeigen, wie weit du zählen kannst. Keine Chance. Ich wurde auch schon gefragt, ob du überhaupt zählen kannst. Aber wenn es um die Anzahl Turbinen eines Flugzeuges geht, dann sieht das schon wieder ganz anders aus. Du kannst sehr wohl zählen. (Du bist Monotropist mit Aufmerksamkeitstunnel. Was ausserhalb dessen liegt – eben …)
  • Eine kleine Hilfestellung durch Armführung oder an der Hand nehmen, unterstützt dich, wenn zu viel Verbales an dir “vorbeirauscht”.
  • Du magst es, wenn ich den Ablauf von Unternehmungen für dich aufzeichne – zum Beispiel die lange Fahrt in die Toscana mit einmal übernachten in Milano. Etc.

 

Sprache/sprachliche Botschaften sind etwas sehr Komplexes. Neurotypische Menschen können damit gut umgehen, da sie in “offenen Konzepten” denken. Autistischen Menschen passiert es hingegen schnell, dass sie monotropistisch aus Sprache/sprachlichen Botschaften bestimmte Aspekte herausgreifen und fokussieren (Buchstaben, Wörter, Sprachmelodie, Wörter assoziieren, Neologismen bilden etc.). So gehen die Inhalte der Informationen verloren. In verbal vermittelten Lernaufgaben und sprachlich ausgerichteten Intelligenztests (HAWIK) scheitern autistische Kinder darum oft. Wenn man sie hingegen in der “flüssigen Intelligenz” (Schnelligkeit bei der Erfassung von Zeichen, Muster erkennen, logische und numerische Fähigkeiten, Schach etc.) herausfordert, kommt man der “autistischen Intelligenz” entgegen. Nach Laurent Mottron – Professor der Abteilung für Psychiatrie der Universität Montreal – variiert der Intelligenzquotient von Autisten stark. Es kommt darauf an, wie man ihn misst und auch auf das Alter der getesteten Person.

“Wir haben beobachtet, dass der Raven-Test eine im Vergleich zum Wechsler-Test um 30 Perzentile höhere Intelligenz misst.” Laurent Mottron

Der Unterschied ist so gross, dass beim einen Test desselben Menschen von leichter Intelligenzminderung gesprochen werden kann und beim anderen von normaler Intelligenz oder eben normaler Intelligenz und Hochbegabung. Oft wird der Hamburger-Wechsler-Test angewendet, wessen Ergebnis ein falsches Bild aufzeigt und autistische Kinder systematisch unterschätzt.

“Sie wollen uns so machen wie jeden anderen, aber das was wichtig ist zu messen, ist nicht das Level, sondern die Art der Intelligenz.” Michelle Dawson

(Vergleiche: www.autismus-kultur.de)

12 Antworten auf „Autismus verstehen lernen – die Monotropismus-Hypothese“

  1. Spannender Beitrag, danke!

    Das erklärt auch meine Aufmerksamkeitsprobleme in der Schulzeit. Es gab beispielsweise Lehrer, die zu Sprachmarotten neigten (ein Lehrer sagte nach jedem zweiten Satz nicht oder sozusagen). Irgendwann begann ich Strichlisten zu führen, wie oft ein Lehrer so etwas sagte, hörte aber entsprechend nicht mehr zu, weil ich den Rest vom Satz nicht mehr mitbekam.

    Heutzutage scheint das aber eher der Regelfall und nicht mehr eine Ausnahme, etwa wenn man mit wortwörtlichem Tunnelblick aufs Handy starrend den Gehsteig entlang geht und Leute anrempelt oder in Straßenbahnen läuft. Oder auch, wenn man mit Handy oder Kamera beim Konzert mitfilmt. Musik genießen und filmen gleichzeitig geht nicht. Unsere technisierte Welt fördert Monotropismus. Leider.

    1. Vielen Dank für das wohlwollende Feedback. Für mich ist die Monotropismus-Hypothese aktuell DIE beste Autismuserklärung. Danke auch für den Backlink 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert