5. Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung
Autistische Menschen wollen selber bestimmen und somit die Fäden ihres Lebens in der Hand halten. Auch die Beschäftigung mit ihrem Spezialinteressen gibt Sicherheit und Vertrautheit. So bleibt alles unter Kontrolle. Von aussen herangetragene Situationsveränderungen hingegen führen zu Kontrollverlust und Stress.
“Für eine Person, die in einem Aufmerksamkeitstunnel steckt, ist jede unerwartete Veränderung abrupt und wahrlich, wenn auch kurzfristig, ein katastrophales Ereignis (Murray, Lesser und Lawson 2005, 147).” Georg Theunissen
Somit ist für autistische Menschen oft alles neu und vermittelt Stress. Der Tunnelblick fokussiert das hoch-erregende Geschehen, das nicht vertraut ist.
Was es bedeutet, wenn mein 10-jähriger Sohn mit Asperger Syndrom auf den Schulbus warten muss:
Neurotypische Menschen orientieren sich am Gleichbleibenden und sind dadurch nicht verunsichert. Abweichungen bekommen nicht dieselbe Bedeutung. Für Menschen im Autismus-Spektrum ist darum jede Abweichung “ein katastrophales Ereignis”. Routine und Gewohnheiten, aber auch festgelegte Ablaufpläne mit eingebauten möglichen Problemen und möglichen Lösungswegen, vermitteln Vertrautheit/Sicherheit durch ihre Vorhersehbarkeit. “Timing, sequencing & pretending.” Georg Theunissen
6. Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird (verbal und non-verbal)
Das für mich interessanteste und gleichzeitig schier unglaublichste Beispiel einer monotropistischen Sprachentwicklung dünkt mich folgendes:
“Für manche Kinder im Autismus-Spektrum, die anfangs mithilfe von Sprache die Möglichkeit nutzten, ihr Interesse auszudrücken, wird die verbale Kommunikation zu einem späteren Zeitpunkt unattraktiv.” Georg Theunissen
Wir haben das in unserer Familie am eigenen Leib erlebt – mit unserem jüngeren autistischen Sohn. Monotropistisch wird das so erklärt, dass ab einem gewissen Zeitpunkt die Umgebung mit dem Kind in vermehrte Kommunikation tritt und mit den wachsenden sprachlichen Kompetenzen des Kindes nun eine Möglichkeit bekommt, die Interessen des Kindes für bestimmte Dinge zu wecken.
“Dieser Versuch kann als eine massive Störung des Aufmerksamkeitstunnel erlebt und durch ein mutistisch anmutendes Verhalten beantwortet werden.” Georg Theunissen
Bei unserem grossen Sohn mit Asperger Syndrom war der Spracherwerb vergleichsmässig einfach. Ich spüre einfach, wie anstrengend Gesprächssituationen sind, muss doch ganz vieles beachtet werden, was einem monotropistischen Wahrnehmungsstil schwer fällt. Auf den Inhalt achten, sich abwechseln, Blickkontakt halten, in die Augen schauen, die Stimme adäquat modellieren, wissen, wann ein Gespräch fertig ist… das ist Polytropismus pur. Viel zu viele Reize überlagern sich und verstopfen den Wahrnehmungskanal.
Was dir auch in die Quere kommt ist, dass du Sprache sehr genau nimmst. Du willst Fragen gewissenhaft beantworten und dich auf den Inhalt beziehen.
Lustige Momente hatten wir auch schon, wenn meine Aussagen wort-wörtlich (und nicht im Kontext) genommen werden:
- “Lege die Gitarre bitte auf die Seite” … und prompt wurde diese auf die Saiten bäuchlings gelegt.”
- “Hänge das Handtuch bitte ins WC” … 😉
Toller Beitrag!
Spannender Beitrag, danke!
Das erklärt auch meine Aufmerksamkeitsprobleme in der Schulzeit. Es gab beispielsweise Lehrer, die zu Sprachmarotten neigten (ein Lehrer sagte nach jedem zweiten Satz nicht oder sozusagen). Irgendwann begann ich Strichlisten zu führen, wie oft ein Lehrer so etwas sagte, hörte aber entsprechend nicht mehr zu, weil ich den Rest vom Satz nicht mehr mitbekam.
Heutzutage scheint das aber eher der Regelfall und nicht mehr eine Ausnahme, etwa wenn man mit wortwörtlichem Tunnelblick aufs Handy starrend den Gehsteig entlang geht und Leute anrempelt oder in Straßenbahnen läuft. Oder auch, wenn man mit Handy oder Kamera beim Konzert mitfilmt. Musik genießen und filmen gleichzeitig geht nicht. Unsere technisierte Welt fördert Monotropismus. Leider.
Vielen Dank für das wohlwollende Feedback. Für mich ist die Monotropismus-Hypothese aktuell DIE beste Autismuserklärung. Danke auch für den Backlink 🙂