7. Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit einer anderen Person zu interagieren
“It is possible to widen the window of attention for us by using our interest as a bridge to others, that interests help connect to other interests (ebd., 114).” Georg Theunissen
Das ist die Anleitung, wie Menschen nach der Monotropismus-Hypothese zu sozialer Interaktion gelangen können. Eine monotropistische Interessensfixierung kann sehr wohl beeindrucken – aber auch Unverständnis hervorrufen. Um sich von diesem Verhalten/Zwang der Interessensfixierung zu befreien, sollte vom persönlichen Interessen aus eine Brücke geschlagen werden, und zwar zu anderen Interessen, Dingen und Personen.
Wie unser 5-jähriger Sohn mit dem 2 1/2jährigen Nachbarssohn ins Spiel kam:
“Unzweifelhaft macht es der Monotropismus schwer, ein soziales Miteinander in sozialen Situationen zu erfassen und nachzuvollziehen. (…) Befinden sich Betroffene in sozialen Situationen, müssen sie zunächst einmal ihre Prioritätensetzung überwinden und daran interessiert sein, sich anderen Personen zuzuwenden und die Anstrengung auf sich zu nehmen, andere zu verstehen (Murray, Lesser und Lawson 2005, 149). Dies kann wie gesagt am ehesten gelingen, wenn Spezialinteressen eine Brückenfunktion zukommt.” Georg Theunissen
Nach der Monotropismus-Hypothese ist es für autistische Menschen sehr schwierig, sich auf die Perspektiven anderer Menschen in sozialen Situationen zu konzentrieren, einzustellen und sich in diese hineinzuversetzen. Es wäre falsch anzunehmen, dass autistische Menschen das einfach nicht wollen. Nein, die Sinneskanäle sind belegt und es sind keine Ressourcen dafür übrig.
Verhalten zu interpretieren und die Bereitschaft/Fähigkeit sich in andere Menschen einzufühlen sollte sich immer auf eine bestimmte Situation des Zusammenseins mit anderen Menschen beziehen. Hier fällt auf, dass nicht-autistische Menschen unbewusst davon ausgehen, dass alle die gleiche Normalität sehen wie sie. Autistische Menschen erwarten diesbezüglich genau das Gegenteil. Somit kommt es zu Missverständnissen. Wichtig ist, dass von einer Störung im reziproken Beziehungsverhältnis ausgegangen wird und nicht wie oft der Fall, das Problem einseitig dem autistischen Menschen zugeschrieben wird. Beide müssen in dem Fall kognitive Empathie lernen.
Vorteile und Nachteile des Monotropismus
“Ein Vorteil des Monotropismus ist, dass er eine Möglichkeit bietet, häufig von Betroffenen und der modernen Autismusforschung konstatierte Probleme der hyper funktionellen, erweiterten Wahrnehmung, Reizüberladung oder Überregung zu kompensieren.” Georg Theunissen
Dieses funktionale Bedeutung des monotropistischen Verhaltens soll sozial akzeptiert werden und pädagogisch unterstützt.
Die Stärken und Spezialinteressen, die aus dieser Wahrnehmungsart entstehen, sollten neben der Persönlichkeitsbildung genutzt werden, um die Aufmerksamkeit zu erweitern. Damit ist gemeint, dass die Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt wird, neue Verbindungen hergestellt werden oder neue Kontakte geknüpft.
Der Nachteil einer monotropistischen Wahrnehmung ist klar, dass durch den Tunnelblick wichtige Informationen verloren gehen.
“(…) Diese Informationen sind für eine souveräne Lebensgestaltung, ein Zusammenleben oder eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bedeutsam (Murray, Lesser und Lawson 2005, 152)” Georg Theunissen
Eine weitere Beobachtung und Nachteil ist, dass bei monotropistischen Menschen alles in Extremen auftritt, seien das nun Emotionen oder auch Bewertungen. Somit muss diesen Menschen beigebracht werden:
“Die Akzeptanz einer Unsicherheit und Unvorhersagbarkeit und die Existenz einer kategorischen Unsicherheit (ebd.)” Georg Theunissen
Ganz konkret heisst das Social Stories, Rollenspiele und Bildergeschichten.
Mein 10-jähriger Sohn mit Asperger Syndrom hat das Thema Tod nicht verstanden (Tod seiner Grossmutter) und einen sensiblen Umgang damit noch gar nicht intus. (“Ich bin froh, dass Nana gestorben ist.”) Wir gingen das Thema erstmals über Haustiere via Social Story an, um das “verwirrende Ereignis” besser zu verstehen:
Wenn guten Nachbarn ein Haustier gestorben ist, dann kann man sie mit Worten trösten oder ein Bild vom Tier malen und schenken.
Vielleicht traue ich mich nicht, Konrad etwas darüber zu sagen. Das macht aber nichts. Viele können das nicht.
Wenn ich ganz mutig bin, dann sage ich ihm beim nächsten Treffen: “Hoi Konrad, schade dass Lex gestorben ist.”
Wenn Menschen ein geliebtes Haustier verloren haben, dann sind sie traurig über den Verlust.
Manchmal hilft ihnen ein tröstender Satz wie: “Schade, dass das Haustier gestorben ist.”
“Des Weiteren ergeben sich Nachteile des Monotropismus dort, wo sprachliche Mitteilungen in Anbetracht einer eng fokussierten Aufmerksamkeit, eines Abdriftens auf sensorische Reize (Interessen) zu einem Informationsverlust oder zu Missverständnissen führen.” Georg Theunissen
Schöner als Kaiser-Mantel (2017), welche in einem Kurs von Claudia Surdmann zitiert wurde, könnte ich das nicht zusammenfassen: “Rede klar, rar und wahr.” Aber auch Abbildungen, Zeichnungen, PC, Tablet etc. unterstützen.
Life Hacks für unseren 6-jährigen Sohn zu “Rede klar, rar und wahr”:
- Du willst wissen, was du tun sollst. (Und nicht, was du nicht tun sollst.)
- Es hilft dir, wenn ich möglichst konkret benenne/beschreibe/frage.
- Aufforderungen nicht als Frage formulieren.
- Es ist für dich einfacher, wenn Dinge in der Reihenfolge erzählt werden, in der sie ablaufen.
- Nicht zuviel reden.
- Dir Zeit geben und abwarten.
- Du verstehst Ironie und Doppeldeutigkeiten nicht, darum diese auch nicht verwenden.
Literaturliste
www.autismus-kultur.de (IQ Tests)
La Brie Norall, B., Wagner Brust, B. (2012). Kinder mit Asperger einfühlsam erziehen. Stuttgart: Trias Verlag.
Prizant, B. M., Fields-Meyer, T. (2015). Einzigartig anders – und ganz normal. Freiburg: VAK Verlags GmbH.
Theunissen, G. (2014). Menschen im Autismusspektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer.
Tuckermann, A., Häussler, A., Lausmann, E. (2011). Neue Materialien zur Förderung der sozialen Kompetenz. Dortmund: Borgmann Media. (Kapitel über Social Stories nach Carol Gray.)
Toller Beitrag!
Spannender Beitrag, danke!
Das erklärt auch meine Aufmerksamkeitsprobleme in der Schulzeit. Es gab beispielsweise Lehrer, die zu Sprachmarotten neigten (ein Lehrer sagte nach jedem zweiten Satz nicht oder sozusagen). Irgendwann begann ich Strichlisten zu führen, wie oft ein Lehrer so etwas sagte, hörte aber entsprechend nicht mehr zu, weil ich den Rest vom Satz nicht mehr mitbekam.
Heutzutage scheint das aber eher der Regelfall und nicht mehr eine Ausnahme, etwa wenn man mit wortwörtlichem Tunnelblick aufs Handy starrend den Gehsteig entlang geht und Leute anrempelt oder in Straßenbahnen läuft. Oder auch, wenn man mit Handy oder Kamera beim Konzert mitfilmt. Musik genießen und filmen gleichzeitig geht nicht. Unsere technisierte Welt fördert Monotropismus. Leider.
Vielen Dank für das wohlwollende Feedback. Für mich ist die Monotropismus-Hypothese aktuell DIE beste Autismuserklärung. Danke auch für den Backlink 🙂