Schon Kanner berichtete 1943, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Verhaltensbesonderheiten und der Wahrnehmung und Integration von beweglichen Dingen und Bewegungen der von ihm beobachteten Kinder. Ausgehend von diesen Erkenntnissen stellten Bruno Gepner und sein Team die Theorie über eine Welt, die sich zu schnell bewegt und verändert auf.
“Bedeutend seien hierbei Momente wie Vermeidung von Blickkontakt, Bevorzugung statischer anstelle beweglicher Dinge, Vorlieben für das Selbstbestimmte Bewegen, Rollen, Rotieren von Dingen oder Aversionen gegenüber Bewegungen, Vorlieben für Details, Mustern oder Puzzle, grob- oder feinmotorische Unbeholfenheit, die allesamt auf eine Dissoziation zwischen der kognitiven Verarbeitung (Vorstellung) von Bewegungen/Beweglichem und statischen Dingen, auf ein Defizit senso-motorischer Integration, zum Beispiel auf eine mangelnde reziproke Modulation zwischen sensorischen Inputs und motorischen Outputs (ebd., 4) hinauslaufen würden.” Georg Theunissen
Mein kleiner Sohn war lange Zeit sehr fasziniert von der Schaukel auf unserem Spielplatz, setzte sich auch gerne darauf, aber ihm dann einen Stoss zu geben, akzeptierte er erst, als er klar “aufhören – stopp” sagen konnte. Auf der Schaukel gelingt die Selbstbestimmung der Bewegung nicht aufgrund der physikalischen Eigenschaften. Ich musste darum immer daneben stehen und diese Funktion “ihn sofort anhalten” übernehmen. Es schien mir so wie oben beschrieben, dass die Vorstellung von der Bewegung und den verharrenden Dingen am Ort wie nicht übereinstimmte.
Gepner und sein Team beobachteten zudem ein interessantes Entwicklungsphänomen bei autistischen Babys und Kleinkindern – ein atypischer Blickkontakt. Zwar verfolgen sie bewegende Dinge mit den Augen, verharren auch lange auf statischen Dingen, zeigen aber kein Interesse für Bewegungsspiele und gleichzeitig eine überfokussierte Aufmerksamkeit für Details und selbststimulierendes Verhalten wie mit den Händen oder Fingern vor den Augen flattern.
Solche Beobachtungen führten schliesslich dazu, dass man mehr über die Reaktionen autistischer Menschen auf Bewegungen und Bewegliches erfahren und erfassen wollte. Man fand einiges heraus – zum Beispiel, dass Personen mit frühkindlichem Autismus im Gegensatz zu nicht-autistischen Personen auf bewegliche Reize nur minim durch Körperhaltung reagieren. Zu den beweglichen Reizen zählen beispielsweise das Erkennen menschlicher Gesichts-, Augen- oder Lippenbewegungen, aber auch Bewegungen wie Gehen, Rennen oder Springen.
“Damit liessen sich – so B. Gepner – nicht nur ausbleibende oder hypomotorische Reaktionen, sondern ebenso motorische Besonderheiten (mangelnde motorische Kontrolle, schwache motorische Imitation oder motorische Unbeholfenheit) als Beleg für eine unzureichende Verarbeitung, Synchronisation oder Feinabstimmung von sensorischen und motorischen Prozessen bei nicht wenigen autistischen Personen begründen.” Georg Theunissen
“Des Weiteren konnte ein signifikanter Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit der (Umgebungs-)Bewegung und Reaktion festgestellt werden: Je schneller die Bewegung, desto schwächer die Körperhaltungsreaktion bei Personen mit dem sogenannten klassischen Autismus. Daraus darf allerdings nicht geschlossen werden, dass betroffene autistische Personen unempfindlich gegenüber Bewegungsstimuli seien. Vielmehr handelt es sich bei dieser Hyporeaktion um eine Form von Abwehr oder Problemlösen (Coping), die dann zutage tritt, wenn sich für einige autistische Personen die Welt zu schnell bewegt und wenn rasche Bewegungen wie zum Beispiel Augenbewegungen als aversiv erlebt werden (Gepner 2002, 236).” Georg Theunissen
Gepner schreibt zudem, dass es bei Kindern mit Asperger Syndrom oftmals anders aussieht – diese sich von beweglichen Dingen angezogen fühlen würden. Sie zeigen wie nicht-autistische Kinder entweder eine normale oder dann überreaktive Reaktion. Man schätzt Kinder mit Asperger Syndrom darum nicht hyporeaktiv ein – sie sind sogar eher überempfindlich betreffend raschen Bewegungsstimuli.
Wie bei anderen autistischen Personen gibt es aber auch hier einen Zusammenhang zwischen Reaktionen auf eine Welt, die sich zu rasch verändert oder bewegt, und zwar in Form von Unbeholfenheit. Dies zeigt sich auch in Mannschaftsspielen wie zum Beispiel Basketball oder Völkerball. Theunissen schreibt, dass das motorische Verhalten oft steif, ungeschickt oder überhastet wirkt, was damit zusammenhängt, dass es Personen im Autismus-Spektrum schwer fällt unter Zeitdruck die Schnelligkeit, Komplexität und Richtung der Reize (Ballzufuhr, Balllaufbahn, Spielverläufe, Spielerverhalten) adäquat, das heisst in einem spielrelevanten raum-zeitlichen Zusammenhang wahrzunehmen, zu verarbeiten und aktional umzusetzen.
Es gibt ganz viele Herausforderungen aufgrund einer Welt, die sich zu schnell bewegt oder verändert. Das gilt für die Augenbewegungen, die es einem Menschen im Autismus-Spektrum schwer machen Blickkontakt zu halten, aber auch für die Sprache, die rasant vorwärts geht, sodass viel Zeit benötigt wird, bevor eine Antwort überhaupt möglich wird, denn vielen Veränderungen und der Zeitdruck, die es verunmöglichen, sich auf einen Zustand einzustellen/vorzubereiten und dazu führen, dass wiederholende Aktivitäten Beruhigung und Vergnügen bereiten etc.
“Zusammenfassend lässt sich nach B. Gepner und Team resümieren, dass sich diese Beobachtungen auf Bewegungsreize (Bewegliches in der Umgebung), sprachliche Ausdrucksformen und Mitteilungen (sprechende Person und Sprache als solches), Töne oder Geräusche bezieht, also auf Momente, die die visuelle und akustische Wahrnehmung in einem zeitlich-räumlichen zusammenhang betreffen. Dabei spielen die Geschwindigkeit der Stimuli in Verbindung mit Faktoren wie Druck, Zeitknappheit die zentrale Rolle.” Georg Theunissen
Life Hacks für die Praxis
Die Theorie über eine Welt, die sich zu schnell bewegt oder verändert, kann zum Verständnis einiger Merkmale und Verhaltensweisen autistischer Menschen beitragen. Die Life Hacks für die Praxis gehen hauptsächlich um Vereinfachung und Entschleunigung der Welt.
“Diese laufen darauf hinaus, durch einfache und langsam präsentierte Sprache, Strukturierungshilfen, Reduktion oder Modifikation komplexer Informationen autistischen Personen Hilfen anzubieten, die Welt besser zu erfassen und Stress durch Reizüberflutung und Zeitdruck zu vermeiden (vgl. Gepner & Feron 2009, 4f.; Tardiff et al.2013; auch Marco et al. 2011, 9; Willey 2014, 92 f.).” Georg Theunissen
Theunissen spricht also davon, dass man Menschen im Autismus-Spektrum Hilfen anbieten soll, um die Welt besser zu erfassen und Stress durch Reizüberflutung und Zeitdruck zu vermeiden. Im Buch “Herausforderung Regelschule” fand ich für die Schule nach dem Teacch Ansatz praktische Antworten darauf und notierte je ein Beispiel:
- Sprache einfach und langsam präsentieren: Manchmal gelingt es einem Kind im Autismus-Spektrum nicht mündlich instruierten Aufträgen zu folgen. Das kann übrigens auch Kinder betreffen, bei denen man sonst das Gefühl hat, sie hätten keine Mühe mit der Verarbeitung von auditiven Anweisungen. Teacch empfiehlt in solchen Fällen, dass man das Gehörte visuell festhält, indem man kurz notiert, was zu tun ist.
(Praxis Teacch)
- Strukturierungshilfen anbieten: Gewisse Kinder im Autismus-Spektrum sind hilflos überfordert, wenn sie im Mathebuch eine bestimmte Seite aufschlagen sollen, um von da an weiter zu arbeiten. Sie fallen immer wieder ins Blättern zurück und setzen somit den Ablauf nicht da fort, wo sie ihn letztes Mal beendet haben. Teacch empfiehlt, dass man den aktuellen Standpunkt markiert – entweder mit einer Buchzeichen-Klammer oder einem überlappenden Post it, auf welchem steht: S. 36 fertig und S. 37 a-d .
(Praxis Teacch)
- Reduktion oder Abänderung komplexer Informationen: Für Kinder im Autismus-Spektrum ist es nicht einfach zu erkennen, was die wichtigen Informationen sind und welche als unwichtig gelten. Darum sind auch Bilder, die neurotypische Kinder oftmals motivieren, für diese Kinder überflüssig. Alles, was ablenkt, soll klein gehalten werden, damit der Fokus auf das Wesentliche gerichtet werden kann. Nicht immer ist es möglich vorgängig das Arbeitsmaterial entsprechend zu gestalten. Darum empfiehlt es sich aus einem Papier Rechtecke zu schneiden, die wie ein Fenster das Wichtige hervorheben und das Unwichtige gleichzeitig verdecken.
(Praxis Teacch)
Literaturliste
Theunissen, G. (Hrsg.) (2016). Autismus verstehen. Aussen- und Innensichten. Stuttgart: Kohlhammer.
Tuckermann, A., Häussler, A., Lausmann, E. (2014). Herausforderung Regelschule. Unterstützungsmöglichkeiten für Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen im lernzielgleichen Unterricht. Dortmund: Borgmann Media.
Dies ist ein sehr hilfreicher und praxisorientierter Artikel – vielen Dank!
Hallo, vielen Dank für Ihre Sachendenkerseite. Ich bin von Beruf Ergotherapeutin und auf der Suche nach alternativen ganzheitlichen Ansätzen, ich möchte das Kind verstehen und zur Begleiterin werden. Es annehmen wie es ist und von dort abholen. Derzeit erlebe ich viel die Phase Dinge in den Mund zunehmen oder mit den Händen zu erforschen. Ich such nach unkaputtbaren Materialien für die Munderkundung, bin über Input sehr dankbar. Ein Austausch mit Ihnen würde mich sehr erfreuen, denn ich kenne diese Ohnmacht/Hilflosigkeit, wenn wir anders als das andere Fachpersonal denken
Ich freue mich sehr, dass ich Sie mit Sachendenker ein bisschen inspirieren darf und Sie dadurch nochmals gestärkt Ihrem Gefühl folgen und sich selber treu bleiben, trotz dieser mir bekannten Ohnmacht. Vielen Dank.
Ich habe von Ulrike Funke das neueste Buch gelesen „Kinder im Autismus-Spektrum verstehen und unterstützen. Ein Wahrnehmungswegweiser für Eltern und Unterstützende“. Ulrike Funke nennt darin ganz viele Ideen zur Unterstützung des Stimmings. Zur Munderkundung (propriozeptiven Informationen im Mundbereich) erwähnt sie S. 53 z.B. eine Stimulierung mit Eis oder Vibration oder Druck auf Zahnreihen, Zunge und Wangentaschen. Auch ganz viel Kaumaterial (Kauknochen, Schläuche…) bietet sie ihren Kindern an – evtl gar leicht parfumiert (Zitrone, bitter…). Dann erwähnt sie Kaugummi, elektrische Zahnbürste, feste Nahrung (Apfel…). Betreffend Kaukette ist mir aufgefallen, als ich etwas für meinen jüngeren Sohn suchte, dass gar unterschiedliche Stärken angeboten werden – also härter oder weicher. Ich kann das Buch sehr empfehlen, weiss aber nicht, ob es für Sie als Ergotherapeutin nicht fast zu einfach ist.
Falls Sie gerne einmal einen Gastartikel mit Ihren beruflichen Erfahrungen zum Thema Autismus hier auf Sachendenker schreiben möchten – ungeniert melden. Meine beiden Kinder gingen oder gehen in die Ergotherapie und ich bin sehr dankbar, wie sehr autistische Kinder dort profitieren können.