Dies ist ein Gastbeitrag vom Ehemann der Sachendenkerin
Jeder ist ein Experte?
Als wir den Verdacht hatten unser erstes Kind könnte „etwas“ autistisch sein, haben wir gleich den Kontakt mit dem Kinderarzt gesucht. Dieser hat uns dann an einen Spezialisten verwiesen, welcher auch ein Kinderarzt war, der sich aber mit Autismus auskennen sollte. In den nächsten Wochen hat dieser mit unserem Sohn einen Intelligenztest durchgeführt und schliesslich seine Empfehlung abgegeben. Das Gespräch am Schluss der Abklärung zwischen ihm und meiner Frau und mir war ein Desaster! Ich will nicht auf die damals gestellte Diagnose und die konkreten Empfehlungen eingehen. Nur so viel: es war das Gegenteil von dem was uns die Expertin an der Fachstelle für Autismus später empfohlen hat, nachdem wir ihn dort nochmals abgeklärt haben.
Was ist hier falsch gelaufen? Um das zu erklären, will ich kurz auf eine Studie der Autismus-Forschungs-Kooperation in Deutschland hinweisen. Dabei wurden 34 Allgemeinärzte und jeweils eine Referenzgruppe von 48 Befragten aus der Allgemeinbevölkerung und 20 Autismus-Experten (Psychiater und Psychologen) aus Deutschland und der Schweiz über ihr Wissen zum Thema Autismus befragt. Konkret ging es um Diagnosekriterien, autistische Stärken und negative Beurteilung autistischer Verhaltensweisen. Das Ergebnis ist eindeutig:
Allgemeinmediziner wissen nicht mehr über Autismus als die Allgemeinbevölkerung. (AFK, 2010)
Ich habe grossen Respekt vor der Arbeit der Allgemeinmediziner! Mir ist auch klar, dass es sehr wohl Ärzte gibt, die über Autismus sehr gut Bescheid wissen. Aber als Vater autistischer Kinder ist es wichtig zu wissen, dass nicht jeder Hausarzt, Psychologe oder Psychiater ein Experte im Bereich Autismus ist.
Tipp: Lassen Sie sich von Anfang an von (richtigen) Experten beraten!
Life, Liberty and the pursuit of Happiness
Auch mit den für uns richtigen Experten an der Seite ist es eine grosse Herausforderung, „richtig“ zu entscheiden und das jeweils Beste für unsere Kinder herauszuholen. Wir setzen uns immer wieder mit den Themen Autismus, Inklusion und letztendlich vor allem mit der Frage „Was brauchen unsere Kinder um ein glückliches Leben führen zu können?“ auseinander. Immer mehr bin ich zur Erkenntnis gekommen, dass diese Frage nur der betroffene Mensch selbst beantworten kann. Das gilt für autistische Kinder genau so wie für neurotypische. Eltern von neurotypischen Kindern haben den Vorteil, dass sie etwas eher von sich auf ihre Kinder schliessen können. Bei unseren Kindern kann es hilfreich sein, wenn wir uns Expertenmeinungen anhören und uns mit Eltern von anderen Kindern mit ähnlichem Hintergrund austauschen. Natürlich ist das Gespräch mit unseren Kindern nach wie vor sehr wichtig, denn sie wissen immer noch am besten was ihnen gefällt oder Angst macht. Man würde meinen, so ist es doch bei allen Familien. Ich glaube wirklich der grosse Unterschied ist, dass ich nur ganz selten von mir auf meine Kinder schliessen kann. Das gleiche Problem haben meine Kinder natürlich auch (double empathy problem).
Am Anfang hatte ich immer wieder das Gefühl ich müsse mich vor Bekannten, Nachbarn, Freunden und Lehrern erklären. Ich habe versucht vor irgendwelchen Leuten zu rechtfertigen, warum wir etwas so oder so machen. Zum Glück ist mir inzwischen klar geworden, dass wir als Familie niemandem Rechenschaft schuldig sind. Unsere Zufriedenheit ist in keiner Weise abhängig von der Meinung anderer über dieses Thema.
Tipp: Werden Sie sich immer wieder bewusst, dass Sie im „driver seat“ sind. Sie entscheiden selbst für welche Lösung Sie sich einsetzen! Dies ist zwar manchmal eine schwierige Pflicht, meistens aber ein Privileg.
Links
http://www.autismus.uni-jena.de/wp-content/uploads/2017/03/AFK_Faltblatt_Allgmed.pdf
http://www.autismus-forschungs-kooperation.de/index.php/projekte/wissen-ueber-autismus-bei-allgemeinmedizinern
Das ist ein wunderbarer Beitrag. Einfach spannend zu lesen, sachlich, hilfreich und engagiert. Gute Lösungen können nur gefunden werden, wenn das Kind im Zentrum steht, Wissen und Einfühlungsvermögen (oder Einfühlungsversuche) sind hier wirklich hilfreich. Als Lehrerin würde ich mir wünschen, dass das immer so läuft – leider manchmal schwierig. Umso mehr freut mich dieser Beitrag.
Danke für diesen und auch für alle anderen Beiträge, die mir zeigen dass wir nicht alleine sind und es noch andere mit Superkräften gibt. Sie geben mir Zuversicht und bestärken mich, weiterhin eines zu tun im Umgang mit unserem „Sachendenker“: auf mein Gefühl zu vertrauen, auch wenn die Umsetzung im Angesicht unserer vordergründig offenen Gesellschaft unglaublich viel Kraft erfordert und man droht, daran kaputt zu gehen. Danke auch für die erleichternde Erkenntnis, dass mindestens zwei Kinder auf dieser Welt an einem Ort gelandet sind wo sie es gut haben und sie so sein dürfen wie es in unserer Gesellschaft schwierig ist: anders!
Zur Auflockerung: laut unserem ersten Kinderarzt ist unser Sohn im Fall gar nicht autistisch. Er kennt sich schliesslich damit aus, denn ein Autist wohnt in der gleichen Strasse…
„Klarer Fall, ihr Sohn hat ein Rhythmusproblem und sollte am Abend einfach rechtzeitig ins Bett!“.
Fun fact: es hat nicht funktioniert…
Herzliche Grüsse aus dem Emmental
Sorry für die späte Antwort (es war einfach zu viel los bei uns). Es freut mich wenn der Beitrag ein klein Wenig Zuversicht gegeben hat. Dass der Trick mit früher ins Bett gehen nicht funktioniert hat verwundert mich etwas. Schliesslich ist allgemein bekannt, dass Autismus sich so wegzaubern lässt 🙂
Da dies der erste Kinderarzt war, hoffe ich der oder die neue ist nun etwas kompetenter…
Weiterhin viel Zuversicht und Freude mit dem Sachendenker
Beste Grüsse zurück aus der Nordostschweiz
Mara schreibt: Liebe Betroffene, als Mutter einer 50jährigen frühkindlichen Autistin, die seit vielen Jahren in einer WG lebt, aber regen Kontakt zu mir hat, habe ich schweren Herzens verstehen müssen, dass das Umfeld (die Betreuer) oft aus Personalmangel an ihre Grenzen stossen und die gut gemeinten Hilfestellungen, damit unsere Kinder nicht in die Überforderung kommen, meistens nicht leisten können … so stört unser Kind mit ihren stereotypen Fragen und geht dem Umfeld schlichtweg auf die Nerven und jetzt?