Body Doubling – die Wichtigkeit von Präsenz bei Autismus

 

Aufmerksamkeit ist keine Frage der Disziplin, sondern des Interesses, das sich – besonders bei autistischer Wahrnehmung – seinen Weg durch die Welt bahnt.

Viele Autist*innen erleben sie monotrop – also stark auf wenige Reize oder Themen ausgerichtet –, intensiv, fokussiert und doch manchmal schwer zu steuern.

Darum kann Body Doubling als stille Präsenz einer zweiten Person helfen, die Aufmerksamkeit zu öffnen,

damit das Wesentliche darin Platz findet, ohne gleich wieder zu entgleiten.

Für mich ist das eine Form von Co-Regulation – ein feines Mitschwingen zweier Nervensysteme.

Oft zeigt sich dieses Mitschwingen nicht in Worten, sondern im Körper: im gleichmässigen Atmen, im ruhigen Rhythmus, in der Gewissheit, dass jemand einfach da ist.

 

Ein bisschen Monotropismus

Mein 13-jähriger Sohn tut sich in der Schule oft schwer, seine Aufmerksamkeit bei etwas zu halten, das nicht in seinen Fokus gelangt – oder, wenn es doch einmal hineingerät, rutscht es unbemerkt genauso schnell wieder hinaus.

 

Das ist Monotropismus in a nutshell: Die autistische Aufmerksamkeit gleicht einem Tunnel – sie richtet sich tief und ausschliesslich auf das, was in diesem Ausschnitt liegt. Alles andere bleibt im diffusen Aussen. Nicht aus Desinteresse oder mangelndem Willen, sondern weil die Wahrnehmung anders organisiert ist: Sie bewegt sich nicht breit, sondern tief, folgt den aktivierten Interessen.

 

Bei ihm sind es oft schulische Inhalte, die nicht leicht in diesen Fokus hineinpassen – oder, wenn sie es kurz tun, gleich wieder herausfallen. Dadurch weiss er dann nicht recht, wo oder wie er anfangen soll. Er unterschätzt oder überschätzt, wie viel Zeit etwas braucht. Manchmal verliert er das Ziel aus den Augen, lässt sich ablenken, weil etwas anderes den Tunnel erfasst – oder steckt fest, weil Frustration den Schwung nimmt.

 

So eine monotrope Wahrnehmung hat ihre Tücken. Und auch wenn sie nicht falsch ist – nur anders –, passt sie halt doch nicht immer zum Stil der Lehrpersonen und zur Art, wie Schule heute funktioniert. Umso dankbarer sind wir für unsere Heilpädagogin, die seine Wahrnehmung wirklich sieht. Und vielleicht ist genau das die eigentliche Herausforderung: dass Schule sich mitbewegt – mit Wahrnehmungen, die tiefer als breit sind.

 

Manchmal kann man einem Kind mit solch monotroper Wahrnehmung gar nicht helfen, indem man mehr erklärt oder mehr vorgibt. Denn es fehlt nicht an Wissen, sondern an gemeinsamem Rhythmus – an dem, was sie Synchronität nennt. Alles im Tunnel zu verarbeiten braucht Zeit – und ebenso die Fähigkeit, sich dabei nicht zu verlieren oder abzuschweifen.

 

Wenn der Fokus sich nicht fassen lässt, wenn eine Aufgabe immer wieder wegrutscht oder einfach nicht in den Tunnel will, kann ein Double helfen.

Eine zweite Person, die mit im Raum ist – aufmerksam und still präsent –, kann den Zugang erleichtern und die Aufmerksamkeit stabilisieren.

 

Was ihm hilft, ist kein zusätzlicher Input, sondern geteilte Präsenz: jemand, der ruhig neben ihm sitzt, während er sich durch den Tunnel seiner Aufmerksamkeit bewegt.

Diese Form von Begleitung nennt man Body Doubling – sie hält den Tunnel offen, ohne ihn zu stören.

 

Was Body Doubling alles bewirken kann

Wie Danielle Sullivan und das Centre of Excellence beschreiben, kann Body Doubling weit mehr sein als blosse Anwesenheit.

Eine zweite Person, die mit im Raum ist – aufmerksam und still präsent –, kann den Zugang erleichtern und die Aufmerksamkeit stabilisieren.

 

Es hilft:

 

  • weil man sich weniger allein und überfordert fühlt

 

  • weil die blosse Anwesenheit daran erinnert, worum es geht

 

  • weil man jemand anderem gegenüber verantwortlicher bleibt als nur sich selbst

 

  • weil geteilte Zeit motiviert

 

  • weil Ruhe und Fokus ansteckend wirken

 

  • weil es daran erinnert, warum man angefangen hat

 

  • weil praktische Unterstützung möglich ist

 

  • weil man gemeinsam wieder einen nächsten Schritt finden kann

 

  • weil eine ruhige Präsenz Reizüberflutung reduziert – besonders, wenn kaum gesprochen wird

 

  • weil eine klare, geordnete Umgebung Sicherheit schafft

 

  • weil Verbundenheit auch ohne Worte spürbar ist

 

Body Doubling ist kein Training und keine Kontrolle – es ist Co-Regulation.

Ein geteilter Raum, der Orientierung schafft und das Dranbleiben leichter macht.

 

Zwischen Halten und Handeln

Manchmal braucht es keine Worte – nur jemanden, der still da ist, präsent und geduldig.

Und manchmal braucht es doch eine Hand, die leise eingreift: ein Wort, ein Impuls, eine kleine Bewegung, die wieder Richtung gibt.

Body Doubling ist beides – das Halten und das Handeln, das feine Gespür dafür, wann Stille trägt und wann Unterstützung gut tut.

Auch für die begleitende Person entsteht in dieser stillen Nähe ein anderer Fokus – eine Form von Achtsamkeit, die weder lenkt noch zieht, sondern einfach da ist.

Vielleicht ist es genau das, was Lernen – und Beziehung – im Kern ausmacht:

dieses feine Gespür dafür, wann Nähe trägt und wann sie weiterführt – eine Begegnung auf Zeit, ein gemeinsamer Atem, bis der eigene wieder trägt.

 

 

 

Literatur und Quellen

Neurodiverging – Get Things Done with an Activity Partner, Shadow, or Body Double

> „Für viele neurodivergente Menschen kann die stille Anwesenheit eines anderen helfen, Aufgaben zu beginnen, bei ihnen zu bleiben und sie zu Ende zu bringen.“
https://www.neurodiverging.com/get-things-done-with-a-body-double/

 

ACM Digital Library – Social Support through Body Doubling: A Pilot Study

> „Die Anwesenheit anderer kann Motivation und Fokus erhöhen – besonders in Phasen, in denen das neurodivergente Gehirn sonst ins Stocken gerät.“
https://dl.acm.org/doi/10.1145/3544548.3580838

 

Centre of Excellence – Body Doubling for ADHD and Autism

> „Body Doubling bietet autistischen Menschen eine beruhigende Präsenz, reduziert Reizüberflutung und schafft Struktur, ohne sozialen Druck.“
https://www.centreofexcellence.com/body-doubling-for-adhd-and-autism/

 

Fergus Murray – Me and Monotropism: A Unified Theory of Autism (British Psychological Society)

> „In einem monotropen Geist werden nur wenige Interessen gleichzeitig aktiviert – sie ziehen mehr Aufmerksamkeitsressourcen an und machen es schwerer, Dinge ausserhalb dieses Fokus wahrzunehmen.“
https://www.bps.org.uk/psychologist/me-and-monotropism-unified-theory-autism