Der explosive und implosive Meltdown – Route wird neu berechnet

 

Route wird neu berechnet

Bestimmt kennt ihr alle die Anweisungen eines GPS-Systems. In ruhiger Stimme leitet es an, was als nächstes kommt:

 

  • In 300 Metern bitte rechts abbiegen.
  • Jetzt rechts abbiegen.
  • Route wird neu berechnet.
  • Folgen Sie der Strasse für 2 Kilometer.
  • Halten Sie sich an der Gabelung links.
  • Sie befinden sich auf der schnellsten Route.
  • Fahren Sie geradeaus.

 

Würde mein GPS solche Anweisungen geben, wie sie viele sonst sehr anständige und reflektierte Autofahrer und Autofahrerinnen im Verkehrschaos gelegentlich von sich geben –

 

  • Da hat jemand den Blinker wohl als Deko-Option bestellt.
  • Offenbar unterwegs mit der Zeitmaschine – Ziel: 1983.
  • Verkehrsregeln? Scheint heute nach Gefühl zu laufen.

 

– dann würde ich mich vermutlich hilflos verfahren und mich dabei ziemlich aufregen. Ironische Bemerkungen über mich und meine Fehlbarkeit kann ich nämlich überhaupt nicht leiden.

 

Diese Erkenntnis wurde mir durch ein YouTube-Video mit Tony Attwood noch einmal deutlich:

 

„Be like a GPS, calmly redirecting what to do.“ Tony Attwood (10:20–10:25)

 

Das ist es. Nicht laut, nicht bewertend oder ironisch, nicht hektisch. Sondern ruhig, klar, verlässlich – wie ein GPS.

 

Aber von vorne …

 

Verstehen, was Stress verursacht

Ich weiss nicht, ob man das so salopp sagen darf – aber das Leben als autistisches Kind bedeutet Stress. Manchmal ist das Stressniveau so hoch, dass keine willentliche Regulation mehr möglich ist und das Nervensystem überfordert zusammenbricht – es kommt zu einem Meltdown. Aber was genau ist eigentlich dieses „es“? Immer wieder wird mir bewusst, wie wichtig es doch ist, dass Autismus wirklich verstanden wird. Denn ohne das Bewusstsein dafür, welchen täglichen Herausforderungen unsere autistischen Kinder ausgesetzt sind, fehlt unserer Empathie das Herz.

 

„Die Hauptursachen für einen Meltdown sind Stress durch sensorische Empfindlichkeit, kognitive Überlastung und Aspekte des sozialen Engagements.“ Tony Attwood & Michelle Garnett

 

Attwood und Garnett bringen auf den Punkt, was unter Stress zu verstehen ist – und zeigen, wie herausfordernd der Alltag für unsere Kinder wirklich ist. 

 

Diesen Gedanken möchte ich mitnehmen – und ein wenig vertiefen.

 

Wenn die Welt zu viel wird – sensorischer Stress bei autistischen Kindern 

(vgl. Attwood & Garnett)

 

Viele autistische Kinder erleben die Welt durch ihre Sinne intensiver – und ungeschützter. Geräusche, Gerüche, Berührungen oder Lichter, die für andere kaum spürbar sind, können sie massiv überfordern oder sogar Schmerzen verursachen. Ein lautes Türknallen, ein kratzendes Etikett im T-Shirt, das Parfum einer fremden Person oder das Flackern einer Neonlampe – all das kann sich innerlich summieren und das System belasten, lange bevor man es von aussen bemerkt. Dabei kann die Reizverarbeitung nicht nur über-, sondern auch unterempfindlich sein: Manche Kinder spüren z. B. Kälte, Hunger oder Schmerzen kaum, was zusätzliche Unsicherheit mit sich bringt.

 

Auch emotionale Reize werden oft ungefiltert aufgenommen. Ein trauriger Blick oder angespannte Stimmung in der Umgebung oder lebhaft diskutierende Eltern können sich direkt aufs Kind übertragen – als würde es die Gefühle anderer mitspüren, ohne sich abgrenzen zu können.

 

Hinzu kommt oft eine Interozeptionsstörung – also eine eingeschränkte Wahrnehmung der eigenen Körpersignale. Das Kind merkt vielleicht nicht, dass es müde ist, aufs WC muss oder sich krank fühlt. Auch Stress – ob körperlich oder psychisch – wird oft nicht erkannt, bis es zu spät ist.

 

Und wenn die Überforderung dann da ist, fehlen die Worte. Viele Kinder können nicht sagen, was sie gerade fühlen (Alexithymie) – sie scheinen ruhig, obwohl innerlich alles tobt. Dann reicht oft ein winziger Auslöser – und der Meltdown bricht durch.

 

Sensorische Empfindlichkeit ist absolut kein Nebenthema. Ein bisschen Sonne, ein paar Leute, Kinderlachen, es riecht nach Grill und Sonnencreme – all das ist eben nicht einfach nur „ein bisschen“. Für manche Kinder ist es bereits zu viel.

 

Wenn Denken zu viel wird – kognitive Überlastung bei autistischen Kindern

(vgl. Attwood & Garnett)

 

Nicht nur Sinneseindrücke und Emotionen können bei autistischen Kindern zu einem Meltdown führen – auch das Denken selbst kann zur Überforderung werden. Dabei geht es um die Art, wie Informationen verarbeitet werden.

 

Viele autistische Kinder haben eine sehr zielgerichtete Denkweise. Sie haben oft eine klare Vorstellung davon, wie etwas funktionieren soll – wenn es dann anders kommt oder der gewohnte Ablauf gestört wird, fehlt das innere „Drehbuch“. Das kann grosse Unsicherheit, Frustration oder sogar Panik auslösen – weil sie nicht wissen, wie sie weitermachen oder reagieren sollen.

 

Übergänge und Veränderungen sind besonders belastend – zum Beispiel wenn plötzlich die Lehrperson krank ist, ein Ausflug anders verläuft als geplant oder die Familie spontan anders plant. Ohne Orientierung und ein Gefühl von Verlässlichkeit wird eine neue Situation schnell überwältigend.

 

Auch unklare Anweisungen sind schwierig. Wenn nicht ganz deutlich ist, was erwartet wird, wie lange etwas dauert oder wie genau es gemacht werden soll, setzt das viele Kinder unter Druck. Dazu kommt oft eine lange Verarbeitungszeit: Wenn Entscheidungen schnell getroffen werden müssen, entsteht Stress.

 

Schon einfache Fragen wie was das Kind zuerst machen möchte oder was es anziehen will, können überfordern – nicht, weil das Kind keine Meinung hat, sondern weil zu viele Optionen da sind und die Angst mitspielt, etwas Falsches zu wählen oder dafür kritisiert zu werden.

 

So manches hinterlässt Spuren – Kränkungen, Missverständnisse, Zurückweisungen oder Ungerechtigkeit. Was andere längst abgehakt haben, bleibt im autistischen Denken spürbar und schmerzhaft.

 

All das ist unsichtbar – aber hoch real. Und es erklärt, warum ein Meltdown manchmal wie „aus dem Nichts“ kommt. In Wahrheit war das Kind längst damit beschäftigt, innerlich nicht unterzugehen.

 

Wenn Menschen überfordern – sozialer Stress bei autistischen Kindern

(vgl. Attwood & Garnett)

 

Soziale Situationen können für autistische Kinder eine enorme Belastung sein – nicht, weil sie unsozial wären. Dass man nicht lügt, nicht stiehlt, niemanden auslacht und in der Schule zur Begrüssung die Hand gibt – das ist ihnen völlig klar. Regeln wie diese sind für sie selbstverständlich. Das sind die absoluten Regeln sozialer Interaktion. Und genau das lieben autistische Kinder: klare Regeln, Vorhersehbarkeit. Doch Menschen sind in vielerlei Hinsicht alles andere als vorhersehbar. Was für nicht-autistische Kinder intuitiv erfasst wird, bleibt für autistische Kinder – als absolute Denker in einer relativen Welt – oft ein Rätsel. Körpersprache, Ironie, unausgesprochene Erwartungen – all das verlangt Aufmerksamkeit, Kraft und bewusste Deutung. Aber genau darin liegt die Crux: Von ein und derselben sozialen Situation gibt es unzählige Variationen. Kaum etwas wiederholt sich genau gleich. Diese ständige Ungewissheit ist kräftezehrend – erst recht in lauten, überfüllten Umgebungen. Orte wie Einkaufszentren, Spielplätze oder Bahnhöfe können schnell überfordern – nicht nur wegen der vielen Reize, sondern auch wegen der schieren Zahl an Menschen. Noch belastender wird es, wenn diese Menschen nicht als „autismusfreundlich“ erlebt werden – also ungeduldig, laut, fordernd oder unklar.

 

Selbst kleine Dinge können Stress auslösen: Ein Versprechen wie „Ich bin in zwei Minuten wieder da“, das nicht eingehalten wird, kann grosse Unsicherheit erzeugen. Denn autistische Kinder nehmen solche Aussagen oft wörtlich und verbindlich – und geraten in Stress, wenn die Welt sich nicht daran hält.

 

Soziale Situationen sind oft auch mit unangenehmen Sinneserfahrungen verbunden: zufällige Berührungen, lautes Lachen, klatschende Hände, intensive Gerüche – all das wirkt zusammen wie ein unsichtbarer Angriff auf die Nerven.

 

Und vielleicht am wichtigsten: Die Kapazität für sozialen Kontakt ist begrenzt. Selbst ein schöner Nachmittag mit Freunden kann „zu viel“ werden, wenn das Kind keine Rückzugsmöglichkeit hat oder zu lange „funktionieren“ muss. 

 

“Wenn Ihr autistisches Kind tatsächlich emotional alles aufsaugt wie ein Schwamm, braucht es regelmässige Pausen von den Hauptemotionsquellen in seinem Leben – seinen Familienmitgliedern. Geben Sie Ihrem Kind diese Pausen, so gut Sie können und wie es sie sich wünscht – zum Beispiel, indem Sie ihm Freiraum geben, mit ihm stille Autofahrten unternehmen (…).” Shannon des Roches Rosa 

 

Auch hier gilt: Der Meltdown kommt nicht plötzlich. Er ist das Ergebnis davon, dass ein Kind viel zu lange in einem System mitspielen musste, das nie für es gemacht war.

 

Warnzeichen ernst nehmen – bevor das Fass überläuft

Ein autistisches Kind merkt oft selbst nicht, dass es kurz vor einer psychischen Überforderung steht. Das liegt an einer Kombination aus reduzierter Körperwahrnehmung (Interozeption) und eingeschränktem Zugang zu eigenen Gefühlen (Alexithymie). Natürlich gilt das nicht für alle – aber doch für einige. Das Kind spürt dadurch nicht, wie gross der Stress im Körper bereits ist. Es weiss oft nicht einmal, ob es Hunger, Angst, Wut oder Reizüberflutung empfindet – geschweige denn, wie es das jemandem mitteilen soll.

Deshalb kommt der Meltdown für Aussenstehende oft scheinbar „aus dem Nichts“. Doch der letzte Tropfen, der ein schon übervolles Fass zum Überlaufen bringt, ist nicht die eigentliche Ursache. Das macht alles sehr verwirrend – für das Kind selbst und für sein Umfeld.

 

Unsere Aufgabe als Eltern ist es, frühzeitig zu erkennen, wenn sich das Fass füllt.

Wir müssen lernen, die feinen Signale für das Kind zu lesen. Frühanzeichen zeigen sich meist in kleinen, scheinbar belanglosen Veränderungen im Verhalten. Diese Warnzeichen können individuell sehr unterschiedlich sein, aber oft zeigen sich Muster:

 

  • Das Kind läuft immer wieder weg, kommt zurück, geht wieder – es sucht    Sicherheit und Flucht zugleich.

 

  • Es wird plötzlich lauter, redet mehr oder benutzt heftige Ausdrücke – das Nervensystem ist in Alarmbereitschaft.

 

  • Unruhe zeigt sich in aufgeregten Gesten, Bewegungsdrang oder angespanntem Blick.

 

  • Es will keine Hilfe, obwohl es offensichtlich kämpft – weil jede weitere Information zu viel ist.

 

  • Es holt sich übermässig viel Bestätigung, stellt wiederholt dieselbe Frage, sucht Halt.

 

  • Alte Themen tauchen wieder auf: vergangene Kränkungen, erlebte Ungerechtigkeit, ungelöste Konflikte.

 

  • Es besteht plötzlich das Bedürfnis, ein ganz bestimmtes Thema zu besprechen, manchmal in Endlosschleife.

 

  • Es zieht sich zurück von Aktivitäten, die sonst Freude machen – das Interesse bricht weg, bevor es bewusst wird.

 

  • Stimming wird intensiver – der Körper sucht Regulierung.

 

  • (…)

 

Was braucht das Kind – und was ist jetzt unsere Aufgabe?

 

  1. Routinen und Rituale in den Vordergrund rücken – sie sollen das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit durch Vorhersehbarkeit geben.
  2. Aktivitäten anbieten, die das Gedankenkarussell stoppen – sei es Holz-Diamanten stapeln, Hörspiele hören, sortieren oder zeichnen.
  3. Autistic Nesting möglich machen: Rückzug an einen sicheren Ort – vielleicht eine Hütte aus Tüchern im Kinderzimmer, gefüllt mit Kissen und Lieblingsgegenständen, die genau die Reize bieten, die guttun und ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln – ein „Nest“.
  4. Und ganz wichtig: Wir bleiben wachsam – ohne in Panik zu verfallen. Bieten Nähe an – ohne zu drängen. Sind einfach da – ohne Erwartungen. 

 

Ein Kind, das solche kleinen Veränderungen zeigt, macht uns aufmerksam: Ich bin noch nicht überfordert – aber fast. Bitte schau hin. Wenn wir das erkennen, können wir eingreifen – damit es vielleicht gar nicht erst zu einem Meltdown kommt.

 

Zweimal Meltdown und einmal Shutdown

Zu Beginn war ich ehrlich gesagt verwirrt, wie diese Formen der psychischen Krise unterschieden werden. Meltdown? Shutdown? Explosiv? Implosiv? Es schien mir zuerst unübersichtlich. Aber nach einer Weile wurde mir klar, dass diese Einteilung tatsächlich hilft, die Reaktionen besser einzuordnen – gerade, wenn sie nach aussen kaum sichtbar sind.

 

  • Der implosive Meltdown – flight:

Ein Kind ist auf einem Kindergeburtstag. Es freut sich, hat das Geschenk selbst gebastelt und kennt das Geburtstagskind gut. Aber schon beim Eintreffen ist alles grell und laut: Luftballons knallen, Musik dröhnt, andere Kinder rufen durcheinander. Das Kind sagt nichts, zieht sich etwas zurück, macht mit, wenn man es fragt. Es lacht sogar, wenn andere lachen. Es „funktioniert“. Doch innerlich wird es eng. Es spürt sich kaum noch, ist überreizt, überfordert, aber niemand merkt etwas. Niemand sieht, wie es kämpft, wie es sich verliert. Zuhause sitzt es auf dem Bett. Leise. Verkrampft. Dann ein Satz, fast unhörbar: „Ich bin peinlich. Ich kann das nicht. Ich bin kaputt.“

 

 

  • Der explosiver Meltdown – fight:

Ein Kind bekommt im Supermarkt mit, dass es nicht wie geplant den Lieblingsjoghurt geben wird – Kiwi ist ausverkauft. Die Reizschwelle war schon vorher überschritten (Licht, Menschen, Lautstärke). Plötzlich schreit es, tritt, wirft Dinge, schlägt vielleicht um sich. Das Kind ist in einem Ausnahmezustand – es hat keine Kontrolle mehr, es ist kein Trotz, sondern pure Überforderung. 

 

Der implosive Meltdown ist leise und nach innen gerichtet – fast unsichtbar. Nur der Schatten wirft eine leise Ahnung auf das, was sich entzieht. Der innere Kampf ist nicht sichtbar und trotzdem nicht minder schwer. Oft begleitet von Rückzug und Selbstabwertung. Im Gegensatz dazu steht der explosive Meltdown: laut, sichtbar und nach aussen gerichtet – wie ein Vulkan, der Feuer spuckt. Und wenn weder Kampf noch Funktionieren mehr möglich ist, bleibt manchmal nur noch eine dritte Reaktion: der Shutdown – neben dem implosiven und dem explosiven Meltdown. Er gleicht einem Not-Aus – das System fährt herunter, um sich vor weiterer Überlastung zu schützen. Ein totaler Rückzug: kognitiv, emotional und manchmal auch körperlich.

 

  • Der Shutdown freeze:

Nach einem Schultag mit zu vielen Reizen, wechselnden Lehrpersonen und Gruppenarbeiten sitzt das Kind beim Abendessen – plötzlich spricht es nicht mehr, starrt ins Leere. Es reagiert weder auf Ansprache noch auf Berührung. Die Eltern sind irritiert: „Bist du schlecht gelaunt?“ – dabei hat sich das Kind innerlich zurückgezogen. Das Nervensystem reagiert mit Selbstschutz und fährt herunter. Jetzt braucht es nur eines: völlige Ruhe, Rückzug und Zeit, um langsam wieder „hochzufahren“.

 

Explosiver Meltdown, implosiver Meltdown und Shutdown – so ordnen Tony Attwood und Michelle Garnett diese Form der psychischen Krise ein. Mir gefällt diese Dreiteilung sehr, weil sie hilft, die unterschiedlichen Gesichter autistischer Überforderung besser zu verstehen – gerade dann, wie ich schon erwähnt habe, wenn von aussen kaum etwas sichtbar ist.

 

Ein kleines Rätsel

Was glaubt ihr, beschreibt Pete Wharmby hier – Shutdown oder implosiver Meltdown? Wie erwähnt, sind beide kaum sichtbar – gar nicht so einfach, sie zu unterscheiden. Oder vielleicht doch?

 

“Passive Meltdowns sind meine Spezialität . Bei mir ist das eine Art innerer Kollaps, als ob meine Augen und Ohren sich umgestülpt hätten und ich nur noch in meinem Kopf wahrnehmen kann. Totale Passivität, manchmal sogar katatonisches Verhalten. Kann mich auf nichts konzentrieren. Weisses Rauschen im Kopf, wie ein Fernseher aus den 90ern. Wenn ich nicht irgendwie vom Stressor wegkomme, wird das nur schlimmer. Ich gehe nicht näher darauf ein. Aber es ist hart. Obwohl es ruhig und passiv ist, ist es *anstrengend*. Fast das Anstrengendste überhaupt. Danach habe ich einen „Kater“, der tagelang anhalten kann.” Pete Wharmby

 

Was würdet ihr sagen?

Pete selbst nennt es einen „passiven Meltdown“ – diese Einteilung kannte ich so nicht. Ich war zunächst unsicher: Beschreibt er damit einen implosiven Meltdown – oder ist es doch eher ein Shutdown?

 

Schliesslich begriff ich: Ohne Grübeln, ohne Selbstabwertung, beinahe katatonisch, mit völliger Abkapselung und einer langen Erholungszeit danach – das muss ein klassischer, feinfühlig beschriebener autistischer Shutdown sein.

 

Oder habe ich etwas übersehen?

 

Halt geben im Ausnahmezustand und kurz danach

Grundprinzip: Sicherheit und Entlastung.

 

“Be like a GPS, calmly redirecting what to do.” Tony Attwood (10:20 – 10:25)

= Das Kind muss gar nichts – man übernimmt.

 

  1. Sicherheit für alle gewährleisten.

Allfällige Gefahrenquellen entfernen.

 

  1. Wenn möglich: Safe Space schaffen.

Einen ruhigen Ort aufsuchen – weg von Blicken und Reizen.

 

  1. Keine Erziehung.

Die Situation ist keine erzieherische Gelegenheit.

 

  1. Nicht zutexten – GPS nachahmen.

Wenige, klare Worte – keine langen Erklärungen.

 

  1. Achtsam blicken. Manchmal hinschauen, manchmal bewusst vorbeischauen – intensiver Blickkontakt kann überfordern.

 

  1. Berührung nur mit Erlaubnis.

Fragen: „Darf ich deine Schulter berühren?“ – nicht einfach anfassen.

 

  1. Haustier als Anker nutzen (wenn vorhanden).

Tiere wirken oft regulierend.

 

  1. Gefühle ernst nehmen.

Sagen: „Ich sehe, dass es du es gerade wahnsinnig schwierig hast.“

 

  1. Ruhig bleiben – wie ein GPS.

Eigene Stimme und Körpersprache bewusst regulieren.

 

  1. Nur minimale Konversation. 

Auch hier: GPS als Vorbild. Kein Small Talk, keine Fragenkette.

 

  1. Verarbeitungszeit geben.

Nicht drängen – das Nervensystem braucht Zeit zur Regulation.

 

  1. Fidget Toys bereithalten.

Sie können Halt geben, wenn scheinbar nichts mehr klappt.

 

Etwas später dann:

 

  1. Nachsorge nicht vergessen.

Auch nach dem Meltdown braucht das Kind Schutz, Verständnis und ggf. Rückzugsmöglichkeiten – bevor der Alltag weitergehen kann.

 

  • Erschöpfung anerkennen 
  • Auswahl anbieten, die im Vorfeld gemeinsam besprochen wurde – zum Beispiel:

 

“(…) wrestling dad, snuggling mom, being alone, watching his tablet, eating crunchy snacks.” Amanda Diekman (S. 20)

 

Ein Handzettel für den Notfall

Ein Handzettel zum Mitnehmen und Weitergeben – falls nötig:

 

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Unser Kind ist autistisch.

Manchmal gerät es wegen einer für uns scheinbar kleinen Bagatelle in grossen Stress – so wie auch jetzt gerade.

Wir Eltern versuchen, unser Kind auf Herausforderungen vorzubereiten oder es davor zu schützen. Das gelingt leider nicht immer.

Sie können uns helfen, indem Sie die Situation einfach ignorieren.

(Tipp von Thomas Girsberger)

————————–✂️

 

Wenn unser Kind in der Öffentlichkeit einen Meltdown hat, sind wir bei ihm. Und nur bei ihm. Wir haben in solchen Momenten keine Kapazität, um freundlich zu erklären, zu beschwichtigen oder die Irritation der Umgebung zu regulieren. Unser Kind braucht uns ganz. Darum tragen wir einen Handzettel bei uns – nicht, um uns zu rechtfertigen, sondern um abzugeben, was wir in dem Moment nicht leisten können. Damit wir uns nicht aufteilen müssen, wenn ein Kind gerade versucht, innerlich nicht unterzugehen.

 

Und manchmal, da macht es die Umgebung auch einfach richtig gut – ganz ohne unser Zutun. So wie in dieser Geschichte, die Charlotte erzählt hat:

 

„Ich bin gestern am Spielplatz in meiner Strasse vorbeigegangen, und ein etwa achtjähriger Junge hatte einen Meltdown. Ein anderes Kind fragte seine Mutter: ‚Was ist los mit ihm?‘, und sie sagte: ‚Er ist völlig überfordert.‘

Sie liessen ihm und seiner Mutter Freiraum. Ich war gerührt – so niederschmetternd es auch ist, das mit anzusehen (ich weiss, wie sich das anfühlt).“

 

Es braucht oft nicht viel. Nur kurz innehalten – und ein bisschen Mitgefühl.

 

Ist ein Meltdown dasselbe wie ein Wutanfall?

Immer wieder lese ich, wie wichtig dieser Unterschied für die Autistic Community ist:

Der Begriff Meltdown beschreibt keinen Wutanfall, sondern steht für eine autistische Überlastungsreaktion – eine psychische Krise, in der das Nervensystem kollabiert. Auch wenn es kein geschützter Begriff ist, wird in der Community sehr deutlich kommuniziert: Ein Meltdown ist nicht dasselbe wie ein Wutanfall. Mehr noch – wer den Begriff für alles Mögliche benutzt, verkennt nicht nur seine Bedeutung, sondern verletzt damit auch die Erfahrungen vieler Autisten und Autistinnen.

 

Auf den ersten Blick sehen der explosive Meltdown und ein Wutanfall tatsächlich sehr ähnlich aus: ein Kind schreit, weint, schlägt um sich, ist ausser sich. Aber der Schein trügt. Was nach aussen ähnlich wirkt, unterscheidet sich im Innern grundlegend.

 

  • Der Wutanfall

 

Ein Wutanfall ist zielgerichtet. Das Kind will vielleicht etwas – ein Spielzeug, noch eine Folge My Little Pony, mehr Aufmerksamkeit – und wird wütend, wenn es das nicht bekommt. Der Wutanfall ist also ein Versuch, Einfluss zu nehmen und Kontrolle zu gewinnen. Dabei ist das Kind erstaunlich aufmerksam: Es beobachtet genau, wie die Erwachsenen reagieren. Es hat also ein Ziel, braucht ein Publikum – und manchmal gelingt es den Eltern, es durch Ablenkung wieder zu erden.

 

  • Der Meltdown 

 

Ein Meltdown hat kein Ziel, braucht kein Publikum – und er ist nicht mehr abwendbar. Er ist Ausdruck eines überlasteten Nervensystems – ein ungewollter, unkontrollierbarer Zusammenbruch. Zu viele Reize, zu viele Anforderungen, zu viele Menschen. Da ist keine Prise Trotz – nur Leid. Das Kind kann nicht mehr anders und reagiert. Man kann den Meltdown nicht verhindern – nur noch gemeinsam durchstehen. Zurück bleibt eine grosse Erschöpfung.

 

Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Ein Meltdown braucht nämlich Sicherheit und Rückhalt einen Menschen also, der aushält und wie ein GPS durch die Krise navigiert. Es geht ums Überleben. Ein Wutanfall dagegen darf liebevoll begrenzt werden – mit Klarheit und Halt. Hier geht es ums Lernen. 

 

“Im Gegensatz zur Normalerziehung, wo Emotionen erwünscht sind, ja geradezu den Kern der Erziehung ausmachen, ist bei Kindern aus dem Autismus-Spektrum ein anderer Schwerpunkt wichtig. Emotionen wie Ärger oder Zorn zu zeigen, ist meist kontraproduktiv. Viel hilfreicher ist es, wenn Eltern, auch wenn die Situation sehr konfliktreich ist, ruhig bleiben.” Thomas Girsberger (S. 125)

 

Es lohnt sich also wirklich, die GPS-Metapher zu verinnerlichen.

 

Ein kleiner Nachtrag: So klar die Unterscheidung zwischen Wutanfall und Meltdown auch wirkt – in der Realität ist sie nicht immer eindeutig. Bei meinen Kindern habe ich erlebt, dass ein Wutanfall kippen kann: Was als Frust über ein Verbot beginnt, kann – wenn der innere Stresspegel ohnehin hoch ist – in einen Meltdown münden (vgl. Ward-Hawkes & Rodi, S. 27).

 

Es ist also ein Übergang möglich. Und genau deshalb braucht es ein feines Gespür, wann aus Trotz echte Überforderung wird.

 

Die Verantwortung der Welt 

Es liegt in der Verantwortung der Welt, dafür zu sorgen, dass #autistische Menschen so selten wie möglich in einen Meltdown getrieben werden. Nicht alles lässt sich vermeiden, aber *vieles* liesse sich mit etwas mehr Mitgefühl vermeiden.” Pete Wharmby

 

Das sind deutliche Worte, die Pete Wharmby hier anschlägt.

Immer, wenn autistische Kinder in eine Krise geraten, ist zu viel Stress da und unser Auftrag ist es: runter mit dem sensorischen, kognitiven und sozialen Druck. Schaffen wir es tatsächlich, unserem Kind ein Leben zu bieten, dass dem gerecht wird, dann darf das GPS zumindest für den Moment verkünden:

 

  • Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Nichtsdestotrotz: Wir müssen dranbleiben. Ich spüre es deutlich bei meinem Teenager – die Anforderungen steigen, je näher das Erwachsensein rückt.

 

Alles ist ständig im Wandel. Ein Ausruhen fehlt tatsächlich – aber man darf Teilziele ausgiebig feiern.

 

 

 

 

Literaturliste 

Diekman, A. (2023). Low-Demand Parenting. Dropping Demands, Restoring Calme, and Finding Connections with your Uniquely Wired Child. London: Jessica Kingsley Publishers. (S. 20)

Girsberger, Th. (2014). Die vielen Farben des Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung. Stuttgart: Kohlhammer. (S. 125)

Girsberger, Th. (2022). Mit Autismus den Alltag meistern. Praktische Hilfen für Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum. Stuttgart: Kohlhammer (S.31 & S. 48)

Ward-Hawkes, J. Rodi, M. (2019). Managing Meltdowns and Tantrums in the Autism Spectrum. A Parent and Caregiver’s Guide. London: Jessica Kingsley Publishers (S. 27)

„Die Hauptursachen für einen Nervenzusammenbruch sind Stress durch sensorische Empfindlichkeit, kognitive Überlastung und Aspekte des sozialen Engagements.” Tony Attwood & Michelle Garnett

https://www.attwoodandgarnettevents.com/blogs/news/managing-an-autistic-meltdown

“Be like a GPS, calmly redirecting what to do.” Tony Attwood (10:20 – 10:25)

2 Meltdowns:

Explosion = fight 

Implosion = flight 

Shutdown = freeze

https://youtu.be/SMB4g4R6_tQ?si=LZ0ELwSK8_YWqYVX

 

 Zu den häufigsten Auslösern gehören …

https://www.authenticallyemily.uk/blog/autistic-meltdowns

 

“Es liegt in der Verantwortung der Welt, dafür zu sorgen, dass #autistische Menschen so selten wie möglich in einen Nervenzusammenbruch getrieben werden. Nicht alles lässt sich vermeiden, aber *vieles* liesse sich mit etwas mehr Mitgefühl vermeiden.” Pete Wharmby

 

“Passive Nervenzusammenbrüche sind meine Spezialität . Bei mir ist das eine Art innerer Kollaps, als ob meine Augen und Ohren sich umgestülpt hätten und ich nur noch in meinem Kopf wahrnehmen kann. Totale Passivität, manchmal sogar katatonisches Verhalten. Kann mich auf nichts konzentrieren. Weisses Rauschen im Kopf, wie ein Fernseher aus den 90ern. Wenn ich nicht irgendwie vom Stressor wegkomme, wird das nur schlimmer. Ich gehe nicht näher darauf ein. Aber es ist hart. Obwohl es ruhig und passiv ist, ist es *anstrengend*. Fast das Anstrengendste überhaupt. Danach habe ich einen „Kater“, der tagelang anhalten kann.” Pete Wharmby 

https://petewharmby.blogspot.com/2019/08/tonights-stroll-through-parks-and.html?m=1

 

Einige häufige Anzeichen, auf die Sie achten sollten:

  • Erhöhte Angst, wie Zappeln, Schaukeln oder Herumlaufen
  • Schwierigkeiten, zu kommunizieren oder sich klar auszudrücken
  • Erhöhte Sensibilität für sensorische Reize
  • Leicht frustriert oder gereizt werden
  • Rückzug von Aktivitäten, die ihnen normalerweise Spaß machen
  • Häufigeres als übliches repetitives Verhalten

 

https://reframingautism.org.au/all-about-autistic-meltdowns-a-guide-for-allies/

 

Nicole Filippone, Autistic Advocate & Author (@sensorystories_) hat an 4:12 PM on Di., Apr. 29, 2025 gepostet:

If you’ve heard the term „autistic meltdown“ but aren’t quite sure what it means or what it actually looks like, this post is for you…

 

I think most people hear the word „meltdown“ and envision a person kicking, screaming, and thrashing around… usually a child.

(https://x.com/sensorystories_/status/1917220440352739757?t=aB0KyCvEulU5FzT5TmDHdA&s=03)

 

 

11) Need for Respite: If your autistic child is indeed an emotional sponge, they will need period breaks from the primary emotion emitters in their lives—their family members. Do your best to make sure they get those breaks, however you can and however they desire—such as giving your child space, taking them for silent car rides, or having them spend time with a respite worker or other trusted, appreciated person who is not you. You’ll both benefit.

https://thinkingautismguide.com/2017/04/eleven-ways-you-can-make-your-autistic.html

 

Charlotte (@LeOtte3000) hat an 8:20 AM on Fr., Mai 02, 2025 gepostet:

I walked past the playground on my street yesterday & a boy around 8 was melting down. Another child asked their mum „what’s wrong with him?“ & she said „he’s very overwhelmed“ & they gave him & his mum space I was moved, as devastating as it is to see (knowing how it feels).

(https://x.com/LeOtte3000/status/1918188763752349783?t=_2W0JYrPLh3OUzy7MDacQg&s=03)