„Es gibt nichts Gutes. Ausser man tut es.“ Erich Kästner
Es gibt nichts Gutes
Es gibt nichts Gutes. Punkt. So beginnt Erich Kästner sein Zitat. Damit deutet er an, dass es das Gute schlichtwegs nicht gibt. Alles wird immer bewertet und unterliegt somit gewissen Grundsätzen oder Idealen. (Vgl. Matthias Pöhm.) Und genau so steht es auch um das Thema Inklusion.
Auch wenn ich bisher an Gesprächen in der Schule nur zaghaft das Wort Inklusion in den Mund genommen habe, wehte mir oftmals ein etwas kalter Wind entgegen. Nicht, dass man meinen Wunsch nicht Ernst nahm/nimmt, denn ich wünsche mir für meine autistischen Kinder eine integrative Schulzeit. „Wir versuchen es, heisst es doch Integration vor Exklusion.“ Aber das Gefühl, das mir dabei subtil vermittelt wird, ist, dass es ja einen Platz an der Sonderschule für uns hat, wenn alle Stricke reissen. Dies wird uns als Sicherheit, Recht und gar Glück angepriesen. Etwas, worüber wir erleichtert zu sein haben, sollte es die kommende Schule nicht hinbekommen. Und ich fühle mich gleichzeitig, als wäre ich in eine Falle getappt. Keine böswillig gestellte zwar, denn alle wollen für uns das Beste. Aber niemandem rund um mich ist Inklusion so wichtig wie mir. Dennoch sickert von überall durch, dass Inklusion halt doch eine Utopie ist. Mit Utopien kennt sich die Menschheit ja ziemlich gut aus. Hat nicht der Bundesrat um 1960 noch empfohlen, dass man das Frauenstimmrecht ablehnen soll!? Die Apartheid? Die administrativ Versorgten? Die LGBT Bewegung etc. Wie viele gerechtfertigte Forderungen schon belächelt wurden – und die Menschen dahinter weiter diskriminiert. Wie selbstgerecht. Und nun geht es mir so, mir, die an Inklusion glaubt. Für mich ist Inklusion keine Utopie – ein realistisch umsetzbarer Prozess. (Vgl. Lambrecht S. 19.)
Es wird wahnsinnig viel Energie dafür verwendet, zu argumentieren, warum Inklusion nicht geht – warum daran zu glauben utopisch ist.
„In unserem Schulhaus voller Akademiker Eltern – Inklusion unmöglich!“
eine befreundete Lehrerin
„Ich habe viel über Inklusion im Studium gehört, aber solange die Rahmenbedingungen nicht stimmen – keine Chance.“
ehemalige gute Arbeitskollegin
Ich wünschte mir, dass diese Energie dafür verwendet wird, wie man es angehen soll, damit Inklusion möglich wird. Es geistern viele private Theorien ohne Grund und Boden herum, die Inklusion erschweren und mich schmerzen. Der Ausschluss behinderter Menschen ist diskriminierend.
Inklusion ist eine Utopie – und weitere private Theorien
Viele private Theorien rund um Inklusion halten sich hartnäckig und scheinen schier salonfähig zu sein. Da es mir mit Inklusion bitter Ernst ist, lösen solche Vorurteile in mir etwas aus, auch wenn sie vielleicht nur unüberlegt geäussert werden – ohne Bezug, da man oft nur wenige Berührungspunkte mit behinderten Menschen hat oder Eltern, die in Sorge um ihr Kind oder aus Resignation gar schon selber daran glauben.
- „Integration ist etwas, das Eltern wollen, die nicht wahrhaben können, dass ihr Kind behindert ist.“
Auch ich habe bei jedem meiner Kinder trauern müssen – ein Abschied von der Normalität und grosser Angst, was dies für meine Kinder noch alles bedeuten wird – auch nach mir. Aber irgendwann war fertig getrauert. Ich glaube nicht, dass ich nicht wahrhaben will, dass meine Kinder autistisch sind. Ich finde sie perfekt genau so. Damit bin ich nicht alleine. Es existiert eine Kultur rund um Autismus, die Autismus als persönliche Stärke mit individuellen Ressourcen sieht, sich gegen Diskriminierung wehrt, kenntlich macht, dass die Autismus Community zusammenhält „Nicht über uns ohne uns!“ und für Eltern, Lehrpersonen, Therapeuten etc. deutlich macht, dass sich ein autistisches Kind als Ziel aller Bemühungen zu einer starken Persönlichkeit entwickeln soll (vgl. Theunissen, 2019, S. 68.).
Wie die Gesellschaft hingegen mit dem Thema Behinderung umgeht und dabei an privaten Theorien festhält anstatt positive Veränderungen anzustreben, ist alles andere als nur annähernd perfekt. Diese Ignoranz will ich absolut nicht wahrhaben.
„Einen Bruchteil deiner Wünsche wird man höchstens dir gewähren; willst du einen Baum erlangen, musst du einen Wald begehren.“ Russisches Sprichwort
Es ist kräfteraubend, wenn man die Gesellschaft so verändern will, damit alle gewinnen. (Vgl. Raul Krauthausen.) Ich wünsche mir von Herzen, dass meine Kinder gleichwertig und gleichberechtigt als Autisten (und nicht gleich gemacht) dazu gehören dürfen – auf allen Ebenen.
- „Behinderte Kinder sind doch glücklicher unter ihresgleichen.“
Ihresgleichen!? Was verbindet denn die Gruppe behinderter Kinder genau? Ist es die Annahme, dass behinderte Kinder eine homogene Gruppe sind? Dem ist aber nicht so. Individualisierung braucht es überall – auch hier. Warum separiert man sie trotzdem? Kann Separation glücklich machen? Oder macht es eher die Menschen ohne Behinderung glücklich? Geht es am Ende gar nicht um Glück? Um was geht es wirklich?
Es stimmt mich sehr nachdenklich, dass die Autismusklasse in unserer Stadt als Versuch der äusseren Differenzierung ihren Platz an der heilpädagogischen Schule gefunden hat. Wenn schon, dann gehört diese – mit minimal integrativem Charakter wenigstens – der Regelschule angegliedert mit Durchmischung als Teil des Unterrichts. Die Wahl des Ortes alleine schon verdeutlicht eine Haltung der Exklusion. Gleichzeitig weiss ich, dass es den Kindern dort eigentlich gut geht. Die Rahmenbedingungen stimmen mehrheitlich – aber gewisse, die ebenfalls wichtig wären, werden dadurch vernachlässigt. Inklusion ist aber kein Detail, dass man zugunsten anderer weglässt. Macht das Fehlen des Rechtes auf Teilhabe wirklich glücklich?
Ich schätze den Einsatz aller Lehrpersonen und Fachkräfte an heilpädagogischen Schulen sehr und halte sie betreffen innerer Differenzierung für sehr kompetent. Es ist ein politisches Thema. Dieselben Fachleute braucht es natürlich auch in der Integration an der Regelschule. Und so wird es bei uns vermutlich der Fall sein. Das Fachwissen der heilpädagogischen Schule kombiniert mit Integrationsbemühungen – das gefällt mir.
- „Man muss bei jedem Kind individuell schauen, ob eine integrative Sonderschulung auch Sinn macht.“
Inklusion kann nicht scheitern – aber ungenügende Rahmenbedingungen erschweren dieses Vorhaben. Darum verstehe ich Eltern, die prüfen wollen, ob allenfalls der Besuch einer heilpädagogische Schule doch der optimale Weg sein könnte. Natürlich wünschte ich mir in so einem Fall, dass diese Schule dann mindestens an eine Regelschule angegliedert ist und es zu inklusiven Sequenzen kommen kann dadurch.
Inklusion will die Teilhabe aller Kinder – mit frühkindlichem Autismus über Mehrfachbehinderungen bis hin zum Wachkoma. Die Rahmenbedingungen sollen so sein, dass jedes Kind von der gemeinsamen Schulzeit profitieren kann – die Schule passt sich den Kindern an und nicht umgekehrt. Und tatsächlich gibt es Länder wie Finnland, die das ziemlich gut hinbekommen. Finnland schlägt einen Mittelweg ein – so viel Unterricht gemeinsam wie möglich, aber da, wo nötig, gibt es Förderunterricht, die sogenannte Tupa, was soviel wie ‚Schutzraum‘ bedeutet. (Vgl. Karoline.)
Es birgt darum eine Gefahr in sich zu postulieren: „Wir prüfen jede Situationen individuell.“ Genau diese Haltung ist aktuell noch der Tod inklusiver Bemühungen, da es der Freipass ist, bei zu vielen Kindern Gründe zu finden, warum eine Integration nicht möglich ist. Die Fragestellung ist ja eine andere: „Wie machen wir Inklusion möglich!?“
- „Nur ganz wenige Kinder im Autismus-Spektrum schaffen es in der Regelschule.“
Dazu fällt mir spontan ein Zitat ein, dass für mich gleich die Antwort auf diese Aussage beinhaltet.
„Mangels Zutrauen, Ignoranz individueller Fähigkeiten sowie Fehleinschätzungen von Stärken, die Unfähigkeit, spezielle Ressourcen zu erkennen, und mangelnde Ideen, wie vorhandene Kompetenzen autismussensibel gefördert werden könnten, sind weitere soziale Reaktionen, die sich besonders negativ auf eine chancengleiche Bildung auswirken.“ Reinhard Markowetz (2020, S. 17)
Hat eine Lehrperson, schulische Heilpädagogin, Schulleitung, Schulpsychologin etc. ein solches Menschenbild betreffend autistischer SchülerInnen, sind sie die Risikofaktoren, die zum Scheitern inklusiver Bemühungen führen – nicht das Kind. Eine gelingende Inklusion fordert anzuerkennen, dass Autismus keine schwerwiegende, zu eliminierende Krankheit ist, sondern eine neurologische Veränderung in Form eines menschlichen Seins (vgl. Theunissen S. 16). Das betrifft auch das Thema IQ. Immer wieder wird vergessen, dass es eine autistische Intelligenz gibt. Anders ist nicht falsch – das gilt auch für Kinder mit frühkindlichem Autismus, welchen viel zu oft eine Intelligenzminderung attestiert wird, obschon die neueste Forschung diesbezüglich zur Vorsicht aufruft. Dasselbe mit den sogenannten mangelnden sozialen Fähigkeiten, welche allistische Menschen den AutistInnen bei Konflikten gerne unterstellen. Neue Forschung sieht das differenzierter, doch setzt sich diese nur langsam durch. Ja, diese Empathieprobleme zwischen allistischen Menschen und AutistInnen beruhen auf Gegenseitigkeit und bedeuten keineswegs, dass AutistInnen lernen müssen sozial zu sein. Das sind sie nämlich bereits u.s.w. Der Defizitansatz ist noch viel zu allgegenwärtig. Ich finde dies als Mutter autistischer Kinder sehr anmassend und verletzend.
Niemand behauptet, dass die Inklusion autistischer Schüler aufgrund der nicht-allistischen Wahrnehmung der Welt ein Pappenstiel ist. Ich behaupte aber, dass die Integration autistischer Kinder absolut machbar ist. Allerdings fordert dieses Vorhaben ein Umdenken. Das fällt allistischen Menschen oftmals schwer. Auch ich bin immer noch am Lernen. In dem Bewusstsein sollte klar werden, wo das Defizit zu finden ist und folglich die Lösungen zu suchen sind. Zum Glück gibt es ganz viele allistische Menschen, die es drauf haben mit autistischen Kindern oder an sich arbeiten. Ersteres erwarte ich nicht – letzteres aber auf jeden Fall.
- „An der heilpädagogischen Schule lernen behinderte Kinder doch viel besser.“
Ist ein behindertes Kind an der heilpädagogischen Schule tatsächlich besser aufgehoben? Oder ist es nicht eher so, dass Fehler im Schulsystem zuerst bei den Kindern auffallen, die sich nicht einfach so anpassen können und falsche Schlüsse gezogen werden?
„Wenn eine Lehrerin einen Zweitklässler fragt, was 4+7 ist, dann will sie – nachdem sie ihm das Addieren beigebracht hat – die Antwort 11 hören. Und zwar unabhängig davon, ob das Kind gerade Lust hat zu rechnen oder nicht.“ Jennifer Lambrecht
Mein jüngerer Sohn macht solche Unterrichtssequenzen, bei denen man einen gegebenen Input immer wieder zuverlässig in einen Output verwandeln muss, nicht unbedingt mit. Er ist kein Roboter – kein Kind ist ein Roboter (oder auf „wissenschaftlich“ nach Niklas Luhmann entnommen dem Blog Elfenbeinhochhaus: triviale Maschine). Er braucht Lerninhalte, die seinen Interessen entsprechen und Bedeutung haben und Zeit für eigene Gedanken und Überlegungen geben und will mitbestimmen, was er lernen will. Oder er muss sich zuerst von der anstrengenden Pause erholen oder hat vielleicht einen besonders guten Tag und ist ganz aufgeregt dadurch etc. Laut Jennifer Lambrecht schafft schulische Inklusion keine neuen Probleme – sie macht nur die Unzulänglichkeiten des Systems offenkundig.
Wenn ich an die Lehrpersonen meiner beiden Kinder denke, realisiere ich, dass der Unterricht durchaus auch entdeckend und selbstbestimmt ist. Neu ist diese Art zu unterrichten also nicht. Es darf aber noch viel extremer werden, sich ausweiten auf ungewohnte Gebiete. Natürlich habe ich auch noch keine Erfahrung, wie man einem Kind, das absolut autodidaktisch schaltet und waltet zum Lesen etc. begleitet. Ich traue dies meinem Sohn in seinem Lernstil durchaus zu – aber als Kind und ’nicht-Roboter‘. So zu lernen hat eine andere Dimension zeitlich und vielleicht auch inhaltlich. Mit dem Lehrplan darf man also getrost einen Papierflieger falten. Dies braucht Mut, einen ganz neuen Weg einzuschlagen und zudem Vertrauen ins Kind, ja, dass es ein kompetenter Lerner ist trotz oder gerade wegen seines Autismus.
Was man betreffend Lernstil mit autodidaktischen Charakter nicht vergessen darf, ist dass manche Kinder als digital native längst YouTube Lerner geworden sind.
„Sie glauben nicht, dass man jemandem zum Beispiel den Satz des Pythagoras in 2 1/2 Minuten bei Youtube beibringen könnte? Fast eine halbe Million Schüler sieht das anscheinend anders.“ Andreas Ilg
Das entspricht meinen beiden Kindern. Es muss keineswegs gleich der Satz des Pythagoras sein und auch nicht nur 2 ½ Minuten dauern. YouTube Lernen klappt bei meinem jüngeren Sohn auch, wenn er den menschlichen Körper und die inneren Organe genauer unter die Lupe nehmen will oder sich interessiert, wie ein Geschirrspüler funktioniert und wie man den repariert etc. Google talk macht das möglich – lange vor dem Schriftspracherwerb.
- „Aufgrund der behinderten Kindern in der Klasse, schafft es mein Kind nicht ins Gymnasium.“
Diese Angst grassiert mehr oder weniger unausgesprochen da, wo ich wohne. Und tatsächlich gibt es hier einige Kinder/Jugendliche, bei denen das Gymnasium schier Familientradition ist – manchmal auch passend, aber nicht für jedes Kind unbedingt der richtige Weg. Das ist manchmal mit viel Frust verbunden. Generell wird Leistung hoch bewertet. So gehen hier auch fast alle Kinder in die Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium, und zwar egal, ob man wirklich an die Prüfung will oder nicht. Man hat Angst, man könnte etwas verpassen. Inmitten dieses Leistungsdruckes fühlen sich manche Familien bedroht durch Kinder, die integriert werden und haben Angst, dass sie als Familie so in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden und zu kurz kommen. Aber Entwicklungsbesonderheiten wie Dyskalkulie, Legasthenie, auditive Verarbeitungsstörungen, Hochbegabung etc. sind überall vertreten und lassen keine Bildungsschicht aus.
„Der Weg, auf dem die Schwachen sich stärken, ist der gleiche wie der, auf dem die Starken sich vervollkommnen.“ Maria Montessori (vgl. Montessori-Pädagogik leicht umgesetzt S. 8)
Das eine schliesst nach Maria Montessori das andere nicht aus. Das Umdenken in einer inklusiven Klasse kann eine Chance für alle sein. Für viele Kinder ist es nämlich eine Bereicherung, wenn sie ebenfalls vom heilpädagogischen Setting profitieren können. Aber auch die Kinder, die wiederum mehr schulische Nahrung brauchen, profitieren ebenfalls von der (inneren) Differenzierung. Und so erwähnt das Magazin N#mmer die Erich Kästner Gesamtschule und beruhigt, dass es keinen Leistungsabfall aufgrund der Inklusion gegeben habe – im Gegenteil. Was für autistische Kinder gut ist, ist in der Regel für alle gut. (Vgl. Richard Mills.)
- „Das autistische Kind stört die anderen Kinder beim Lernen.“
Zu Beginn des ersten Kindergartenjahres griff unser jüngerer Sohn manchmal zu lautmalerischem Stimming. Auch heute ist das selten noch der Fall. Da dieses Verhalten während der geführten Aktivität die Klasse stört, bekommt er aus der Sensorikkiste ein kleines Fell beispielsweise, das sein Stimming so lenkte, dass es sozial verträglich wird. Ich finde das prinzipiell eine gute Idee. Und dennoch möchte ich die Gedanken von Becky Wood aus ihrem Blog kurz zum Nachdenken unsere Situation betreffend wiedergeben. Oft wird ja angenommen, dass das autistische Kind stört. Und so war es manchmal auch. Mein Sohn störte, wenn die Klasse Ruhe brauchte – teilweise durch lautmalerischem Stimming während der geführte Aktivität. Gleichzeitig wollte man immer, dass er sich mitteilt, auch wenn er das gerade nicht wollte oder konnte. Dann hätte er also ’stören‘ sollen. Wiederum störte ihn der Geräuschpegel der anderen Kinder, wenn er Ruhe zum Arbeiten gebraucht hätte. Arbeitete er wiederum fokussiert, hätte er oftmals lieb gemeinte Fragen zur Situation beantworten sollen, die ihn wiederum aus dem Flow rissen etc. Wenn es also um das Thema des Störens geht, bitte ich seit den mich inspirierenden Gedanken von Becky Wood, dies differenziert anzuschauen und möchte Lösungen für alle. Es wäre zu einfach zu behaupten, dass das autistische Kind die anderen Kinder stört.
- „Oft werden behinderte Kinder in der Regelschule nur geplagt.“
Das ist eine Aussage, die wohl alle Eltern erschreckt. Niemand will sein Kind Mobbing aussetzen. Aber wie so oft, wenn es um das Thema Inklusion geht, ist das weder der Fehler der Eltern, die Inklusion wünschen, noch der des behinderten Kindes, das durch sein besonderes Verhalten vielleicht aneckt. Auch löst man das Thema nicht, indem man das Kind aus Angst davor in die heilpädagogische Schule schickt und sich so einen Schonraum erhofft.
Alle, die im System Schule arbeiten, wissen, dass Mobbingprofilaxe unabdingbar ist. Dass Menschen anders und gleichzeitig gleichwertig sind, muss besprochen und gefühlt werden – der Umgang gelernt. Das hat man auch vor fast 40 Jahren schon so gemacht, als noch niemand von Inklusion sprach. In meine Klasse ging ein Mädchen mit einer Cerebralparese. Wir lasen dadurch alle das SJW Heft von Elisabeth Heck: „Der Schwächste siegt“. Und wir kletterten nur eine Hand gebrauchend die Sprossenwand hoch – oder versuchten es zumindest etc. Mein Unterstufenlehrer hatte es ziemlich drauf.
Für Autismus hiesse das, dass in einem Klassengespräch Stimming, Meltdowns, Reizüberflutung, gewisse Sonderregelungen etc. altersangepasst erklärt werden und versucht, sich in die Situation des autistischen Kindes hineinzuversetzen. Verstehen führt vielleicht zu Verständnis.
„Um handlungsfähig zu werden, braucht es alle drei Ebenen: Man muss mitfühlen – erkunden, wie Diskriminierung von den betroffenen Menschen wahrgenommen wird, und sich in Empathie üben.“ Mai-Anh Boger
Wie würde es wohl mir dabei gehen, wenn das meine kleine Schwester wäre, die da eben einen Meltdown hat? Wie fühlt sich das wohl für das autistische Kind aus der Klasse an? Was würde ich mir von den anderen Kindern erhoffen, wenn mir das in der Schule passieren würde? Wie kann ich das autistische Kind im Alltag unterstützen? Wer hilft mir weiter, wenn ich beobachte, wie das autistische Kind geplagt wird?
- „Integration ist nur für behinderte Kinder gut, die mit schulischem Trubel auch umgehen können.“
Auch das ist ein Satz, der oft nicht reflektiert geäussert wird. „Es sind 25 Kinder auf engstem Raum, ich kann nicht …“ Leider würde das bedeuten, dass der Grossteil autistischer Kinder in dem Fall scheitert.
„Aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien legen die Annahme einer übersteigerten neuronalen Empfindlichkeit und Reaktion auf sensorische Reize oder Emotionen nahe.“ Georg Theunissen (S. 196.)
Das erklärt sehr schön, warum autistische Kinder eine autismusfreundliche Umgebung brauchen. Was für ein Kind mit einer Gehbehinderung vielleicht Treppen sind, für ein Kind mit selektivem Mutismus möglicherweise die verbale Beteiligung am Unterricht, ist für ein autistisches Kind halt oftmals Trubel. Und Trubel sollte ein autistisches Kind – diesem Mythos zufolge – für eine gelingende Integration aushalten können? Und falls nicht, ist Separation die Antwort? Es sind also nicht die Rahmenbedingungen zu verändern?
Seit Covid-19 weiss ich, dass Menschen durchaus fähig sind ihre Komfortzone zu verlassen und kreativ und flexibel schwerwiegende Themen anzugehen. Aber wie schafft man es gegen den Trubel anzugehen? In Grossbritannien gibt es beispielsweise den Low Arousal Approach mit vielen Ideen ‚gegen Stress‘. Aber auch der hier in der Schweiz gut bekannte Teacch Ansatz hat Strategien parat, wie es einem Kind mit einer hypersensitiven Wahrnehmung in der Klasse gut gehen kann etc. Klar, das ist eine grosse Anpassungsleistung seitens System Schule – aber auch hier gilt, dass selbst davon manches andere Kind profitieren wird. Es lohnt sich also diesen oder jenen Ansatz didaktisch drauf zu haben. Es gibt Bücher, Kurse, YouTube Filmchen, Pinterest ist voll von Ideen,Twitter lässt uns gar den Profis folgen und um Rat fragen etc. Auch das gehört zu den Rahmenbedingungen. Also!?
Ausser man tut es
- „Inklusion ist eine Utopie.“
Ausser man an tut es. Im zweiten Teil des Zitates weist uns Erich Kästner darauf hin, dass es schlecht bleibt, wenn wir uns nicht darauf einlassen, nichts tun und untragbare Zustände einfach akzeptieren. Ich fürchte mich vor einer Gesellschaft, die sich nur für Themen interessiert, die sie selber betreffen. Es kann für jedes Individuum rasch zu einem Perspektivenwechsel kommen.
„Wer von Grenzen der Inklusion spricht, spricht eigentlich nur über die Grenzen seiner eigenen Bereitschaft, Inklusion zu ermöglichen.“ @KirstenKirsten
Und somit finde ich es traurig und eine verkehrte Welt, dass ich mich dadurch fragen muss, ob mein Kind es auch in der 1. Klasse als Integration schaffen wird. Denn ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese erwähnte Bereitschaft da sein wird. Denn nicht das autistische Kind kann/sollte sich der ‚Normalität‘ anpassen – die Schule muss eine autismusfreundliche Atmosphäre schaffen. Ich ahne, dass dieses Umdenken Neuland und somit herausfordernd und anstrengend ist, aber man tut damit letztlich etwas Gutes. (Vgl. Erich Kästner.) Meine Hoffnung ist gross und ich weiss, es könnte durchaus klappen. Ich habe das schon erlebt.
UN Behindertenrechtskonvention, Artikel 24: „(…) die Vertragsstaaten gewährleisten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen.“
Der englische Vertragstext gilt, auch wenn ‚inclusive‘ mit ‚integrativ‘ übersetzt wurde (vgl. Lambrecht S. 16). Seit ich das weiss, verwende ich Inklusion und Integration als Synonym.
Das Herzstück der Inklusion: Beziehungen ❤️🧡💛💚💙💜
Ich bin allen Menschen, die sich auf das Abenteuer Inklusion eingelassen haben und es noch werden, sehr dankbar. Es ist auf jeden Fall eine Herausforderung, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass es passt. Das braucht viel Engagement und Goodwill von allen beteiligten. Aber es ist – wie schon erwähnt – ein realistisch umsetzbarer Prozess.
Das Herzstück der Inklusion und um einiges schwieriger zu bekommen, sind jedoch die dafür notwendigen Beziehungen – die auch gewisse Rahmenbedingungen, die noch nicht optimal sind, ausmerzen können. Das zeigt auch, wie zerbrechlich dieses Vorhaben ist und wie viel gleichzeitig möglich ist, wenn man die auf sicher hat.
„Das Herzstück erfolgreicher Inklusion sind Beziehungen. Daher ist es sinnvoll, ein positives Schulklima und ein Umfeld zu schaffen, in der diese Beziehungen als wesentliche Komponente inklusiver Arbeit gedeihen können.“ Mara Sapon-Shevin (2007, S. 166.)
Dennoch halte ich Inklusion keineswegs für eine Utopie – aber ein bisschen Idealismus von allen Seiten, das braucht es schon. Denn es gibt nichts Gutes. Ausser man tut es – einfach mal beginnen…
Literaturliste
Lambrecht, J. (2020).Warum machen wir nicht einfach Inklusion? Entwicklung einer Theorie schulischer Inklusion. Bielefeld: wbv Verlag. (S. 17 & 19.)
Sind Kinder triviale Maschinen? Warum Unzulänglichkeiten im Schulsystem durch meine Kinder entlarvt werden:
Sauer, I., Strecken, Ch. (2019.) Montessori-Pädagogik leicht umgesetzt. 77 praxisbewährte Tipps zu allen Bereichen des Regelunterrichts ichin der Grundschule. Augsburg: Auer Verlag. (S. 8.)
Boger, M. – A., (2019). Subjekte der Inklusion. Die Theorie der trilematischen Inklusion zum Mitfühlen. Münster: Edition Assemblage. (s. 13.)
Markowetz, R. (2020.) Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung im inklusiven Unterricht. Praxistipps für Lehrkräfte. München: Ernst Reinhardt Verlag. (S. 17.)
Sapon-Shevin, M. (2007.) Widening The Circle. The Power of Inclusive Classroom. Boston: Beacon Press. (S. 166.)
Theunissen, G., Sagrauske, M. (2019). Pädagogik bei Autismus. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. (S. 196.)
Theunissen, G. (2014). Menschen im Autismusspektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer.
(S. 16.)
Grenzen von Inklusion = Grenzen der Bereitschaft:
Kirstenmalzwei (@KirstenKirsten) twitterte um 7:20 vorm. on Do., Dez. 05, 2019:
24 #Inklusion s-Weisheiten
– der #Adventskalender von kirstenmalzwei.
Heute (5):
„Wer von Grenzen der Inklusion spricht, spricht eigentlich nur über die Grenzen seiner eigenen Bereitschaft, Inklusion zu ermöglichen.“ https://t.co/rTzIJKCotr
(https://twitter.com/KirstenKirsten/status/1202472774868119553?s=03)
Warum es die Finnen besser machen mit Inklusion – Karoline:
https://magazin.sofatutor.com/lehrer/inklusion-warum-es-finnen-besser-machen/
Was für autistische Kinder gut ist, ist in der Regel für alle Kinder gut:
Richard Mills (@richardmills18) twitterte um 3:13 PM on Di., Mai 19, 2020:
What’s good for #autistic people tends to be good for everyone- #AccessForAll #Inclusion
(https://twitter.com/richardmills18/status/1262733027823759361?s=09)
Eine wunderbare Seite für alle, die Argumente brauchen gegen das Vorurteil, dass Inklusion voller Nachteile ist:
„Es gibt nichts Gutes. Ausser man tut es.“ Erich Kästner
http://www.rhetorik-netz.de/es-gibt-nichts-gutes-ausser-man-tut-es
Warum Kinder mit Förderbedarf schneller kapitulieren als andere Kinder – diese aber auch leiden:
Neue Ideen für die Schule von Andreas Ilg:
Der Bundesrat empfahl 1959 das Frauenstimmrecht abzulehnen:
Die Erich Kästner Gesamtschule als positives Beispiel betreffend Inklusion:
N#mmer. Das Magazin für AD(H)Sler und Astronauten. Schwerpunkt Schule und Arbeit. Nr. 02/2015
Werkstätten für behinderte Menschen – warum diese von Raul Krauthausen zu Recht kritisch beurteilt werden:
https://www.xing.com/news/klartext/werkstatten-fur-behinderte-menschen-ein-verklartes-system-3879
The wrong kind of noise (Becky Wood):
https://woodbug.blog/2018/07/14/the-wrong-kind-of-noise/
Bei Inklusion geht es uns nicht darum, die Debatten zu gewinnen. Wir wollen, dass alle gewinnen – durch Inklusion! Raul Krauthausen
https://raul.de/allgemein/wie-wir-uns-die-koepfe-doch-nicht-einschlagen/
Ideen, wie mit dem Trubel Schule umgegangen werden kann:
Low Arousal Approach
https://m.youtube.com/watch?v=u39UQV932Ug
The Teacch Approach
Pinterest zu Teacch
https://www.google.com/amp/s/www.pinterest.es/amp/evamacho/material-teacch/
Rahmenbedingungen für gelingende Inklusion:
Knüpperfahrenberg, B. (2011.) Schule in Bewegung. Die Voraussetzung für erfolgreiches gemeinsames Lernen in der Schule, in: Bundesverband Autismus Deutschland e.V. (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit Autismus, Karlsruhe. (S. 366.)
„Eine Bereitschaft der allgemeinen Schule und ihrer Administration, einen inklusiven Unterricht zu unterstützen und sich den entsprechenden Erfordernissen zu stellen, ausreichend räumliche und materielle Ressourcen (Nebenräume, Rückzugsmöglichkeiten, spezielle Medien), kleine Klassen, Einsatz von Lehrkräften mit Fachwissen über Autismus und entsprechenden Handlungskompetenzen, Bereitschaft der allgemeinen Lehrkräften zur Kooperation mit sonderpädagogischem Kräften (am besten Zwei-Lehrer-Prinzip), PraxisberaterInnen für Autismus und Schulhelfern, Aufgeschlossenheit aller Lehrkräfte für einen inklusiven Unterricht, Fort- und Weiterbildung in Bezug auf Autismus, Zusammenarbeit mit Eltern autistischer SchülerInnen, Zusammenarbeit zwischen Schule und Autismus-ExpertInnen, therapeutischen Fachkräften, Sozial- oder Kinder- und Jugendamt, Bereitschaft für eine innere Differenzierung des Unterrichts und eine Orientierung am Prinzip: soviel gemeinsam wie möglich, soviel differenziert wie nötig.“