Mensch mit Kopfhörer – der stereotype Autist oder die stereotype Autistin
Müsste man mit Chat GPT das Bild eines Autisten oder einer Autistin erstellen, sie trügen bestimmt Kopfhörer und vielleicht gar eine Sonnenbrille – so wie hier:
Auch einer meiner autistischen Söhne ist oft mit Kopfhörern unterwegs. Am liebsten würde er diese in der relativ ruhigen Mittagspause zu Hause gar nicht erst abziehen. Das bewog mich dazu, Informationen darüber zu suchen, die dieses gewünschte Dauertragen vielleicht auch so kritisch sehen, wie es mein Bauchgefühl tut.
Fündig wurde ich in Peter Vermeulens Buch “Autismus und das prädikative Gehirn”. Um seine Einwände nachzuvollziehen, muss ich also ein bisschen ausholen…
Wie neurotypische Menschen nach der Theorie des prädikativen Gehirns wahrnehmen und lernen
Sich mit der Theorie des prädikativen Gehirns auseinanderzusetzen, bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen. Vermutlich geht es manchen Menschen exakt so wie mir. Ich nahm bisweilen intuitiv an, dass unser Gehirn wie ein Computer funktioniert: Input (Reize der Aussenwelt), Verarbeitung, Output.
Und das soll nun alles falsch sein!?
Die Erkenntnis der Theorie des prädikativen Gehirns fordert tatsächlich ein totales Umdenken. Man geht unterdessen davon aus, dass Wahrnehmung eben nicht durch Reize der Aussenwelt beginnt, sondern im Kopf (Gehirn), und zwar folgendermassen:
“Der Grundgedanke ist einfach: Das Gehirn mag keine Überraschungen und will daher so weit wie möglich vorhersehen, was passieren wird. Aus diesem Grund wartet das Gehirn nicht darauf, dass die Sinne Informationen aus der Aussenwelt liefern, sondern macht stattdessen selbst Vorhersagen über diese Welt.” Peter Vermeulen (S. 36-37)
Beispiel:
- Das heisst also, ich weiss schon, wie ein Stück Pizza schmeckt, bevor ich es mir in den Mund schiebe.
“Das Gehirn bittet die Sinne nicht um neue Informationen oder Inputs, sondern will eine Rückmeldung zu den Informationen, die es bereits über die Welt hat.” Peter Vermeulen (S. 37)
Somit fordert das Gehirn also ein Feedback, ob die Erwartungen übereinstimmen und passt diese dann an. Es gibt zwei Möglichkeiten der Anpassung: Entweder das Gehirn aktualisiert sein Modell der Welt, damit dieses besser mit den Rückmeldungen der Sinne übereinstimmt, oder es passt durch konkrete Massnahmen die reale Welt an (vgl. Peter Vermeulen, S. 41).
Beispiel:
- Beisse ich also in ein Stück Pizza mit nicht entdeckten Sardellen, die ich absolut nicht mag, möchte ich den Bissen vielleicht am liebsten in der nächsten Servietten verbergen – mein Gehirn reagiert also auf den gemachten Vorhersagefehler. Doch wer weiss, vielleicht mag ich ab diesem Moment Sardellen ja plötzlich, und gehe ab nun davon aus, dass es diese ab und zu auf Pizzen gibt. Falls nicht, studiere ich die Speisekarte in Zukunft besonders gut oder frage auf Besuch nach, ob es vielleicht Sardellen drauf hat und esse womöglich nur den dazu gereichten Salat.
Dass die Sinne beim Wahrnehmen und Lernen nicht an erster Stelle kommen sondern eben die Vorhersage, das ist relativ neu.
“Die alte Vorstellung von “Reiz ➡️ Reaktion” ist einfach nicht richtig.” Peter Vermeulen (S. 37)
Aber eigentlich ist uns schon klar, dass wir bereits wissen, wie ein Stück Pizza schmeckt, bevor wir reinbeissen. Natürlich merken wir dann auch ziemlich plötzlich, wenn wir vielleicht doch nicht ganz alles gewusst haben: Sardellen.
Die Crux mit den Vorhersagen über die Welt bei Autismus
Es gibt sehr viele Ideen aus Studien betreffend den autistischen Vorhersagefehlern. Aber ob nun die Zufälligkeit überschätzt wird und mit Bedeutung gefüllt oder einfach generell alles eine Überraschung ist etc., Autist*innen scheinen nach allen bisherigen Infos über das prädikative Gehirn, in ihrer eigenen magischen Welt zu leben, in der Ereignisse scheinbar ohne Grund eintreten (vgl. Peter Vermeulen, S. 61).
“Dadurch, dass Vorhersagefehlern ständig zu viel Gewicht beigemessen wird, werden die Vorhersagemodelle in einem autistischen Gehirn so spezifisch, dass sie für den Versuch, die Welt vorherzusagen, eigentlich unbrauchbar sind. Infolgedessen nimmt die Zahl der Vorhersagefehler systematisch zu, wodurch ein Teufelskreis entsteht, mit erhöhter Wachsamkeit und Alarmbereitschaft (Hypervigilanz) in einer Welt voller Unbeständigkeit und Unvorhersehbarkeit.“ Peter Vermeulen (S. 72)
Beispiel:
- Für Autist*innen kann Pizza essen ein grosser Stress sein, auch wenn meine Jungs Pizza lieben. Machen wir die Pizza selber, ist alles unter Kontrolle. Jeder belegt sie nach dem eigenen Gusto. Streckt man ihnen aber einfach ein ‘unbekanntes’ Stück Pizza hin, ist dieses oft nicht geniessbar – durch die Abweichungen der eigenen Idee von Pizza, die der Belag mit sich bringen kann. Für viele Autist*innen ist dadurch Same Food eine Lösung, um sich vor Überraschungen zu schützen. Auch Fertigprodukte werden manchmal geschätzt, da sie immer gleich schmecken. Kommt dann aber jemand auf die Idee, die Rezeptur zu ändern – ein kleines Drama nimmt seinen Lauf.
Autist*innen sind also, so Peter Vermeulen, absolute Denker*innen in einer relativen Welt.
Was für eine Verunsicherung! Ich hätte richtig Angst, es würde mir plötzlich so ergehen. Autismus ist wirklich keine gute Vorbereitung für diese Welt.
4x Kopfhörer-Alltagsgeschichten
Natürlich gibt es den stereotypen Autisten oder die stereotype Autistin, die den Alltag mit Kopfhörern bestreitet – aber nicht nur. Um ein bisschen zu fühlen, was das Thema Kopfhörer schon nur alleine in meinem Haushalt mit gerade zwei autistischen Jungen bedeutet – hier ein kurzer Einblick:
1. Kopfhörer als Auszeit vom Lernen
Als mein jüngerer Sohn den Kindergarten besuchte, erzählte uns seine Klassenassistenz, dass dieser manchmal während der Lektion im Stuhlkreis aufgestanden sei, die Kopfhörer holte und vermutlich so ungestört vor sich hin träumte. Keine gute Idee – fanden alle.
2. Von Ruhe auf wieder Trubel wechseln – nicht ganz einfach
Da es zügig Richtung Pubertät geht und eigene Bedürfnisse vehementer durchgesetzt werden, wurde der Schulbus erneut Thema. Möglicherweise hat es damit zu tun, dass das Medikinet gerade dann langsam seine Wirkung verliert und ein Rebound nicht ausgeschlossen werden kann. Vielleicht ist er aber auch nur emotional erschöpft nach so vielen Sinneseindrücken und im Overload. Jedenfalls klappen die Fahrten mit Kopfhörern viel besser. Da er aber schon während der Schule gefühlt durchgehend diese trägt, merke ich, wie schwierig es für ihn ist, sie zum gemeinsamen Mittagessen zu Hause wieder abzuziehen. Ich muss dann zu Beginn wirklich sehr, sehr leise sein und Gespräche werden nur bedingt toleriert.
3. Ja nicht auffallen
Hier vermelden ich keine Kopfhörer Erfolgsstory. Seit mein älterer Sohn in der Schule ist, haben es diverse Heilpädagog*innen probiert, ihn davon zu überzeugen. Er will aber keine offensichtliche Sonderbehandlung und dadurch auffallen. Es sei für ihn wie eine Strafe! Gerne hätte ich ihm für die Zugfahrten zum Schnuppern, vor allem, wenn dieser lautstark einfährt und zu einem grossen Stress wird, Kopfhörer mitgegeben. Aber schon alleine das Wort ‚Kopfhörer‘ triggert ihn. (Dabei hätten wir ein paar coole Noise Cancelling Kopfhörer, die mein Mann sicher gerne ausleihen würde.)
4. Druck am Kopf stört
Ich behaupte, dass es betreffend Kopfhörer bei meinem älteren Sohn nicht nur ums Auffallen geht. Schon als Baby musste ich Pullis und Shirts mit weitem Kopfloch kaufen. Er wehrte sich sonst extrem. Ich erklärte mir das damals so, dass er als Sterngucker ja vor der Geburt gefühlt Tage lang vergeblich durch mein Becken zu rutschen versuchte. Natürlich ist diese Erklärung möglich, doch vielleicht zeigte sich so auch einfach nur sein Autismus mit einer Hyperreaktivität.
Da Kopfhörer oft und schier überall als vermeintliche Patentlösung gegen Reizüberflutungen eingesetzt werden, macht es absolut Sinn, mehr über die sensorische Verarbeitung von Autist*innen zu erfahren. Denn schon alleine diese vier Episoden aus unserem Familienleben zeigen auf, dass alles etwas komplizierter zu sein scheint – von totaler Liebe bis hin zu akuter Ablehnung.
Das prädikative Gehirn und die sensorische Verarbeitung
Laut Peter Vermeulen gibt es drei Aspekte im sensorischen Profil von Autist*innen:
- Zu stark auf Reize reagieren
- Nicht oder nicht stark genug auf Reize reagieren
- Selbststimulation oder Reiz suchendes Verhalten
Auch wenn jedes Reizprofil individuell ist, so zeigen vermutlich die meisten Autist*innen alle drei Aspekte (vgl. Peter Vermeulen, S. 77). Aber anstatt, dass Peter Vermeulen nun von Hypersensitivität und Hyposensitivität sprechen würde, wählt er dafür die Begriffe Hyperreaktivität und Hyporeaktivität, und zwar aus der für mich sehr überraschenden Tatsache, dass es keine Evidenz für die Existenz einer Hyper- und Hyposensitivität bei Autismus gibt (vgl. Peter Vermeulen, S. 78). Und nun wird es interessant betreffend meiner Frage zu den Kopfhörern, denn Jay Lucker schlussfolgert sogar, dass die Anzahl autistischer Kinder, die laute Geräusche nicht ertragen, kleiner ist, als bisher angenommen. Die extreme Reaktion auf laute Geräusche ist ihm zufolge nicht im auditorischen System zu finden, wie bisher ja angenommen wurde, sondern im emotionalen System (vgl. S. 81).
“Autistische Kinder sind also nicht lärmempfindlicher, sondern reagieren stärker und emotionaler auf Geräusche.” Peter Vermeulen (S. 82)
Das wirft natürlich Fragen auf, ob das mit allen sensorischen Themen der Fall ist – was nicht heissen soll, dass da nicht unglaublicher Leidensdruck und Stress vorhanden ist, aber halt anders interpretiert werden muss. Es gibt Forschungsergebnisse, die das klar bejahen. Auch wenn Autist*innen und neurotypische Menschen bei Versuchen mit Lautstärke oft ähnlich reagierten, nicht so bei kontinuierlichen Geräuschen und bei Hintergrundgeräuschen. Letztere konnten diese mit der Zeit ignorieren, bei Autist*innen war der Gewöhnungseffekt erschwert. Das autistische Gehirn reagiert folglich stärker auf Reize, obschon es nicht empfindlicher ist. Und natürlich hat die Theorie des prädikativen Gehirns eine Antwort darauf.
“Aus verschiedenen Studien, aber auch aus Schilderungen autistischer Menschen selbst, wissen wir, dass es für Menschen mit Autismus schwieriger ist, sich an verschiedene Reize anzupassen oder sich an sie zu gewöhnen. Das hängt in erster Linie mit der Vorhersehbarkeit zusammen. Wenn ein Reiz wiederholt auftritt, bezieht ihn das Gehirn in seine Vorhersage über zukünftige Ereignisse ein. (…) Wenn sich Menschen mit Autismus nicht so gut an bestimmte Reize gewöhnen können, muss die Unvorhersehbarkeit eine wichtige Rolle spielen.” Peter Vermeulen (S. 85)
Oder wie es Van de Cruys und sein Team, zitiert in Peter Vermeulens Buch, ausdrücken:
„Unvorhersehbarkeit ist der Kern der Reizüberflutung bei Menschen mit Autismus.”
Ziemlich überraschend für mich…
Wie schützt man denn nun Autist*innen vor einer Reizüberflutung?
Ein autistisches Kind oder einen autistischen Erwachsenen vor einer Reizüberflutung zu schützen, heisst nach Peter Vermeulen, dass man etwas gegen die Vorhersagefehler tun muss, denn dem autistischen Gehirn fehlt für eine gute Vorhersage die notwendige Kontextsensitivität (vgl. S. 90).
“Wenn das Gehirn allen Vorhersagefehlern, die im jeweiligen Kontext unwichtig sind, dennoch Aufmerksamkeit schenkt, kommt es zu einer Reizüberflutung.” Peter Vermeulen (S. 90)
- Selbst erzeugte Sinnesreize führen zu einer geringeren Gehirnaktivität als solche, die von der Umwelt erzeugt werden. Selbst erzeugte Reize sind besser vorhersehbar (vgl. S. 86).
- Wird ein Reiz häufig wiederholt, wird die Reaktion des Gehirns darauf kleiner. Das gilt für alle Menschen – mit und ohne Autismus (S. 92).
- Hingegen lösen erwartete Wiederholungen und erwartete Veränderungen nur bei nicht-autistischen Menschen eine geringere Gehirnaktivität aus. Autisten sind also weiterhin überrascht, auch wenn sie eigentlich nicht überrascht sein müssten (S. 92).
- Das autistische Gehirn ist wenig überrascht, wenn es überrascht sein sollte (= hyporeaktiv) und sehr überrascht (= hyperreaktiv), wenn ein Ereignis im Rahmen des Erwartbaren liegt. Alles unbewusst und aufgrund einer zu geringen Kontextsensitivität (S. 92).
- Eine erwartbare Ausnahme, die das autistische Gehirn eben trotz der Erwartbarkeit überrascht, kann sowohl ein Reiz oder das Fehlen eines Reizes sein oder eben eine Wiederholung oder Veränderung.
Die sensorischen Probleme autistischer Kinder und Erwachsene werden oft zu einfach dargestellt, da gebe ich Peter Vermeulen absolut Recht. Es ist in der Tat alles ziemlich komplex.
“Angst, Stress und Verunsicherung sind die Schlüsselelemente der Reizüberflutung in unvorhersagbaren Situationen. Wenn wir Menschen mit Autismus bei der Bewältigung dieser Symptome unterstützen wollen, dürfen wir uns nicht in erster Linie auf die Reize selbst konzentrieren, sondern auf die Hyperreaktivität, die sie im Gehirn hervorrufen. Und da sich die sensorische Hyperreaktivität nicht in den sensorischen Arealen des Gehirns, sondern im limbischen System manifestiert, müssen wir unsere Aufmerksamkeit in erster Linie darauf richten.” Peter Vermeulen (S. 93-94)
Reizreduzierung ist, so Peter Vermeulen, das neue Modewort in der Welt des Autismus. Und klar, alle Menschen mögen dies als Entschleunigung ab und zu. Aber autismusfreundlich heisst trotzdem nicht automatisch reizarm.
“Remington ist der Meinung, dass die Reduzierung des sensorischen Inputs sogar einen negativen Effekt haben könnte, weil Kinder mit Autismus eine grössere Wahrnehmungskapazität haben und daher Inputs brauchen, um konzentriert zu bleiben.” Peter Vermeulen (S. 95)
Stressreduktion durch Glücksgefühle und Freude
Peter Vermeulen doppelt also mehrfach nach, dass sensorische Hyperraktionen bei Autist*innen im eigentlichen Sinne keine sensorischen Probleme sind, sondern eine emotionale Reaktion des limbischen Systems. Somit ist für ihn Prävention betreffend einer sensorischen Hyperreaktion ganz klar Stressreduzierung (vgl. S. 112).
“Anstatt zu versuchen, den Stress bei Menschen mit Autismus zu reduzieren, ist es wahrscheinlich klüger, eine andere und positivere Strategie zu verfolgen, nämlich einen Ansatz, der darauf abzielt, Glücksgefühle und Freude zu stärken.” Peter Vermeulen (S. 112)
Streichelt mein älterer Sohn seine über alles geliebte Katze und sie reibt ihren Kopf an ihm, hat er keine Probleme mit Berührungen, auch wenn er sonst nicht berührt werden will. Auch Geometry Dash kann er in aller Lautstärke spielen, obschon er sonst auch darin betreffend ‘zu laut’ sehr hyperreaktiv reagiert. Wenn es also darum geht, die eigenen Vorlieben und Interessen zu pflegen: kurzfristige Spontanheilung schier. Natürlich sind das alles Handlungen, die oft und gerne und natürlich freiwillig bewältigt werden – bestenfalls sogar im Flow. Durch so viel Selbstbestimmung treten selbstverständlich keine Vorhersagefehler auf. Dasselbe gilt auch, wenn er seine Umgebung kontrollieren kann. Früher durfte ich nie staubsaugen, wenn er zu Hause war. Unterdessen darf ich ihn informieren und er schliesst die Tür seines Zimmers.
Kopfhörer – die Patentlösung???
Autistische Gehirne sind, so Peter Vermeulen, nicht empfindlicher für Licht, Geräusche, Berührungen etc. Klar, wenn ein autistisches Kind von einem Reiz sehr gestresst wird, kann die Eliminierung dieses Reizes kurzfristig Erleichterung bringen und dem Gehirn Ruhe schenken, aber langfristig ist das trotzdem nicht zu empfehlen. Warum? Wir wissen nun, dass sich das Gehirn dem Modell der Welt anpasst und somit wird das Gehirn noch empfindlicher für diesen Reiz (vgl. Peter Vermeulen, S. 96).
“Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung sind eine grossartige Lösung für Menschen, die von einem bestimmten Geräusch gequält werden. Sie werden nicht mehr von Vorhersagefehlern geplagt, weil sie keinen unerwarteten Geräuschen mehr ausgesetzt sind. Aber wenn sie die Kopfhörer zu oft und zu lange tragen, wird ihr Gehirn schliesslich ‘lernen’, dass die Welt ein ruhiger Ort ist, und wird dann sein Modell der Welt anpassen, um dieses neue ‘Wissen’ abzubilden. Wenn sie dann in Zukunft wieder Lärm ausgesetzt sind (was auf die Dauer unvermeidlich ist), auch wenn es sich nicht um laute Geräusche handelt, wird ihr Gehirn durch den nun unverhältnismässig grossen Vorhersagefehler überrascht und sie werden dadurch überreizt.” Peter Vermeulen (S. 96)
Dadurch ist das dauernde Tragen von Kopfhörern und Sonnenbrillen keine gute Idee.
Anstelle sollte man die Aufmerksamkeit dem limbischen System schenken, so, wie es Hyperakusisexpert*innen tun. Man empfiehlt auch hier nicht das Tragen von Kopfhörern, sondern legt ihnen Entspannungsübungen und eine kognitive Verhaltenstherapie nahe. Es geht auch darum, Ängste abzubauen und Geräusche anders zu bewerten. Zudem soll es akustische Therapien geben, die mit Rauschen arbeiten, so, wie man es in der Tinnitus-Behandlung manchmal zu tun pflegt, indem vielleicht ein Ventilator das Ohrgeräusch überdeckt. Man hofft also, dass durch monotonem weissem Rauschen das Gehirn keine Vorhersagefehler mehr macht und so bestenfalls lernt, ihm keine Bedeutung mehr zu schenken (vgl. Peter Vermeulen, S. 96-97). Ich bin gespannt, ob es in Zukunft auch akustische Therapien für Autist*innen geben wird, was nicht heissen soll, dass es solche ohne meines Wissens vielleicht schon gibt.
Fazit: auch Kopfhörer brauchen Pause
Auch wenn man das Tragen von Kopfhörern unbedingt kritisch betrachten sollte, sind sie prinzipiell eine gute Sache und dürfen selbstverständlich genutzt werden. Es ist aber wichtig, dass man einen konstruktiven Umgang findet. Einerseits sollte man sich damit nicht schaden (Gewöhnung), andererseits macht es Sinn auch noch mit anderen Ansätzen (ausser der Reizreduktion) dem emotionalen Stress (limbisches System) entgegenzuwirken:
- Glücksgefühle und Freude stärken = beste Stressprophylaxe
- Mit Entspannungsübungen das Gehirn austricksen
“Schlürfatmen ist toll. Und auch ganz einfach. Du musst nur deine Lippen spitzen, so als ob sie einen Strohhalm umschliessen würden. Und nun atme durch diesen Strohhalm die Luft tief ein, langsam und genussvoll, mindestens sechsmal hintereinander.“ Dr. med. Claudia Croos-Müller (S. 16, Kopf hoch)
- Kein Dauertragen – also nicht als die Patentlösung
- Gezielt einsetzen bei grossem Stress. Da ein sehr wichtiges Hilfsmittel
- Das limbische System besser kennenlernen – ein bisschen YouTube drüber schauen
- Psycholog*in oder Ergotherapeut*in oder … fragen, ob er/sie unterstützen kann, Lärm positiver zu bewerten
- Kontrolle bei Geräuschen: Wenn das Geräusch selbst gemacht erträglich ist, es das autistische Kind ausführen lassen: Gong als Signal in der Schule oä
- Kopfhörer als Sicherheit immer mit dabei im Rucksack und nicht unbedingt schon damit an den Ohren aus dem Haus
- …
- Als Eltern, Lehrpersonen etc. ‘darüber’ Verantwortung tragen. Nicht nur anbieten vor/bei Lärm, was sehr wichtig ist. Ebenfalls andersrum: Auch Kopfhörer brauchen Pause
Ich weiss, Kopfhörer leben nicht und brauchen somit auch keine Pause. Aber für meinen jüngeren Sohn ist es einfacher ohne zu viel direkten Druck. Es hilft oftmals, wenn ich meine ‘Befehle’ quasi ein bisschen verschleiere – hier mit Hilfe von Objektpersonifizierung.
Darum ist mir nun klar, was ich zu tun habe, wenn mein jüngerer Sohn über Mittag, den wir in der Regel nur zu zweit verbringen, die Kopfhörer nach der turbulenten Schulbusfahrt anbehalten will: Wir schicken diese ebenfalls in eine Pause.
Literaturliste
Dieses Buch ist ein klares Muss für alle Autismus Interessierten – finde ich. Es liest sich wie ein Krimi. Extrem spannend.
Croos-Müller, C. (2011). Kopf hoch. Das kleine Überlebensbuch. Soforthilfe bei Stress, Ärger und anderen Durchhängern. München: Kösel-Verlag