Als mein kleiner Sohn 3 ½ Jahre alt war, bemerkten mein Mann und ich bei ihm eine sehr aussergewöhnliche Entwicklung. Wir ahnten, dass auch unser zweites Kind das Autismusspektrum tangieren könnte. Damit hatten wir Recht. In einer Weiterbildung bei Claudia Surdmann bekam ich viele Ideen zur liebevollen Förderung. Das entspricht auch ganz dem Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit, deren Vertreter für Personen im Autismus-Spektrum ein geeignetes Umfeld, Ermöglichungsräume in natürlichen Settings und Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft möchten. Die Vertreter der Theorie der intensiv erlebten Welt wiederum wünschen Lernsituationen herbei, die weder sensorisch, kognitiv, sozial noch emotional überfordern und die Interessen und Stärken einer autistischen Person ins Zentrum stellen. Nach der Monotropismus Hypothese sind die Spezialinteressen einer autistischen Person so wichtig, da durch diese eine Brücke zu anderen Menschen geschlagen werden kann etc. Viele dieser neuen Erklärungsansätzen des Autismusspektrums sprechen mich an, da ich mein Kind durch genau so eine ressourcenorientierte ‘Autismusbrille’ betrachtet und gefördert haben möchte.
Wen habe ich da vor mir? Von deinen Interessen
Es gibt so viele schöne Bilderbücher. Gerne hätte ich dir diese erzählt, da ich Bilderbücher mag. Aber du wolltest keine Geschichten hören. Nicht von Tobias’ Garten – dem Wald. Auch nicht von der Bärenhöhle, wie sich die Maus und der Hase einen Winterplatz suchen. Gemeinsam eine tolle Zeit zu verbringen, das war für dich ganz anders definiert. Meine Aufgabe bestand darin, dich zu beobachten. Mich vis-a-vis auf selber Höhe von dir hinzusetzen. Einfach mitzumachen. Oft war das der Spielsand. Du grubst Löcher – ich daneben auch. Oder du klettertest auf das Trampolin. Ich auch. Wir hüpften zusammen.
Daddy finger, daddy finger, where are you!?
“Daddy finger, daddy finger, where are you? Here I am, here I am, how do you do…”
Du liebst dieses Fingervers-Lied. Noch heute. Warum es gerade englisch sein musste? Ich könnte mir vorstellen, dass dir die Prosodie zusagt und dich wie ein Zauberspruch in den Bann zieht.
Ich habe dir diesen Vers vorgesungen, wir haben ihn gemeinsam gesungen, ich konnte plötzlich innehalten und du hast ihn, nach einem fragenden Blick zu mir, alleine weiter gesungen.
Ah, so geht das. Von Alltagsroutinen
Veränderungen verunsichern dich. Sicherheit bekommst du, wenn sich dein Alltag gleichförmig gestaltet. Du magst Schaumbäder. Schaumbäder gehen so: Mami lässt warmes Wasser in die Wanne plätschern, du darfst den Badeschaum in die Wanne leeren, Mami macht den Wanne-Tritt parat. Gemeinsam ziehen wir dich aus. Das Pijama hängen wir über die Heizung. Ab geht es in die Wanne. Du probierst etwas Schaum. (…) Manchmal möchtest du auch vormittags ein Bad. Wenn du den Wanne-Tritt parat stellst, weiss ich, was Sache ist.
Spass abwechselnd zu zweit. Vom Ventilator und den Federn
Totale Begeisterung hast du immer bei Maschinen gezeigt. Viele Knöpfe, die etwas bewirken. So ziemlich auf Platz 1 war lange Zeit der Tischventilator. Nachdem du alle Knöpfe ausprobiert hast, wolltest du Dinge davon fliegen lassen. Wir testeten alles Mögliche – mal du, dann ich, wieder du etc. Federn, Papierschnipsel, Kreppbänder mit Klebeband befestigt.
Nachahmen – das T-Shirt
Als du mit 3 ¾ Jahren mit der Spielgruppe gestartet hast, war ein richtig heisser August. Den ganzen Sommer über hast du immer lange Hosen und Pullover getragen. Kurze Ärmel und Hosenbeine, das fühlte sich total falsch an. Ich war immer auf der Suche nach dünnen Stoffhosen und leichten Shirts. Als ihr in der Spielgruppe eines Freitagmorgen mit dem Znüni gestartet habt, hast du die anderen Kindern plötzlich intensivst beobachtet. Alle mit Shorts und T-Shirts. Das fühlt sich also doch nicht so falsch an. Und du krempeltest deinen Pullover zu den Ellbögen hoch. Ich glaube, dass gerade darum – inklusive – Gruppen so wichtig sind.
Kleiner Trick – damit ich nicht immer Gedanken lese
Ich liebe dich so sehr und kenne dich so gut, dass ich manchmal vermute, viele deiner Gedanken lesen zu können.
“Machen Sie weniger, damit Ihr Kind mehr macht.” Rogers, Dawson & Vismara
Darum war es für mich sehr hilfreich zu hören, dass ich mit Fingerspitzengefühl dies auch mal lassen soll. Damit du dich mitteilen musst – mit Blickkontakt, Mimik, Lauten, Gesten oder Sprache. Viel Spass bereitet es dir, wenn wir in unserem Naschgarten Beeren suchten und danach damit Muffins kreieren. So gab ich dir als Angebot “Muffins backen” – streckte dir dabei mit der einen Hand das Muffinblech hin und mit der anderen ein Bilderbuch. “Was willst du?” Klar, du zeigtest sofort auf das Muffinblech.
Zur Aufmerksamkeit – Step by Step
a) Es bereitete dir immer grossen Spass mit der Murmelbahn zu spielen. Ich setzte mich oft vis-a-vis vor dich hin und schaute dir zu. Dann habe ich benannt, was du tust/hältst/denkst etc.: “Das ist eine grosse Murmel. So eine lange Murmelreihe. Eine rote Murmel.” Und schliesslich liess auch ich einige Murmeln runter kullern.
Die gemeinsame Aufmerksamkeit wird durch den Erwachsenen hergestellt.
b) Ich weiss, dass du gerne Beeren in unserem Naschgarten sammelst. “Da hat es Felsenbirnen – ganz viele. Diese ist besonders gross. Schau, auf dieser Beere sitzt eine Ameise.”
Das Kind folgt dem Aufmerksamkeitsfokus des Erwachsenen.
c) Du liebst das Trampolin in unserem Garten. Gerne bist du dann wie ein Reiter auf meinen Rücken gesessen und ich wippte rauf und runter. Machte ich eine Pause, hast du laut gerufen: “Nochmals!”
Das Kind initiiert gemeinsame Aufmerksamkeit.
d) Die Natur ist in vieler Hinsicht das perfekte Lernfeld. Du siehst eine Raupe und fragst: “Was ist das?” Und schaust mich die Antwort abwartend an.
Die geteilte Aufmerksamkeit ist dann erworben, wenn das Kind kontrolliert, ob das Gegenüber auch schaut. Aber das kann man nicht provozieren. Nur die drei Stufen davor.
Bilderbücher – wie du doch noch gefallen daran gefunden hast
Nicht-autistische Kinder benennen, was im Bilderbuch geschieht und schauen, ob der Erwachsene auch schaut. (Aufmerksamkeit: d)
Du wolltest das Buch “Der Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat” aber immer genau gleich von mir erzählt haben. Wenn ich dann einen Stopp machte, erzähltest du weiter. Es war dir auch wichtig, dass ich die Geschichte immer gleich erzählte. Schliesslich erzähltest du mir das ganze Buch, und zwar 1:1 den Originaltext. (Aufmerksamkeit: c)
Bananenmus im Haar – vom Erzählen
“Was hast du heute in der Spielgruppe/Kindergarten gemacht?” Dein Bruder hat seit jeher zu Hause und “schulisch” akkurat voneinander getrennt. Du interessierst dich auch nicht dafür. Wenn mitteilen, dann Bedürfnisse: “Ich habe Hunger. Ich will das Spiel da oben. Ich will zu Mami.” Oder dann die Zurückweisung: “Halt-stopp-nein.” (Du sagst diese drei Worte gleich als Einheit.) Etwas, das dich interessiert, ist immer hilfreich: “Was ist das?” (Lange nanntest du dies: “Was ist das da an?”) Oder dann dich lautstark bemerkbar machen, damit wir wissen – du bist auch noch da. Das Erzählen ist wirklich nicht einfach. Du siehst den Sinn darin (noch) nicht – aber ‚Mami‘ schon. Es verbindet – eine Beziehungssache also. Wenn du ein gefaltetes Flugzeug, einen Farbfleck auf der Hose oder etwas Bananenmus im Haar mit nach Hause bringst, dann kommt ein bisschen ausserhalb mit zu mir. Und damit auch das Gespräch.
Es ist ein schöner und spannender Weg mit Kindern im Autismus-Spektrum, wenn man zuschauen darf, wie diese plötzlich entdecken, dass sie auf ihr Gegenüber eine Wirkung haben und somit auch die bewusste Möglichkeit zur Veränderung von Situationen. Das bedeutet, dass das Kind plötzlich aufmerksam wird und auf Hinweisreize im Miteinander reagiert. Das dünkt mich eine wichtige Voraussetzung für die soziale Interaktion/Kommunikation – das Erkennen von “eigenen Gefühlen” und schliesslich sogar des “Gedankenlesens” etc.
Ein grosses Dankeschön gehört meinen Kindern. Wenn ich mich erinnere, was ich schon alles erleben durfte auf diesem aussergewöhnlichen Entwicklungsweg, dann möchte ich gleich Silke Bauerfeind aus Ellas Blog zitieren:
“Ein Kind mit Autismus zu begleiten, ist auch eine Reise zu sich selbst.”
All das Wissen, das ich durch meine Kinder bekomme, verändert mich. Eine Reise zu mir selber. Und sie geht weiter.
Literaturliste
Skript von Claudia Surdmanns Fortbildung “Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen. Vertiefungstag Therapie” am Zentrum für kleine Kinder in Winterthur.
Rogers, S. J., Dawson, G., Vismara, L. A. (2016). Frühe Förderung für Ihr Kind mit Autismus. Das Early Start Denver Model in der Praxis. Paderborn: Junfermann Verlag.
(Es mag vorkommen, dass ich Bücher sehr anregend und hilfreich finde, auch wenn ich gewisse Philosophien darin nicht voll umfänglich teile. Ich fühle mich frei zu zücken, was zu uns passt. Und für diese Teile bin ich sehr dankbar.)