Deklarative Sprache und Autismus – oder “shut up!!!” 

 

“Shut up!”

Lange Zeit versuchte ich die Aufmerksamkeit meines jüngeren Sohnes und Lust an einem Gespräch mit mir durch Fragen zu beleben. Nicht,  dass ich es übertrieben hätte – ich reduzierte meinen Sprechanteil generell mit meiner wachsenden Autismus Erfahrung. Dennoch – ich brauche den Austausch mit meinen Kindern wie die Luft zum Atmen. Fazit: ich gab alles. Leider war ich damit lange Zeit alles andere als erfolgreich. Es wurde meinem Kleinen trotz meinen diskreten Bemühungen schnell zu viel mit mir. Letztlich meinte er zu allem, was ich von mir gab: “Shut up!” 

 

“Shut up” ist wohl das klarste Feedback, das er mir geben konnte, damit ich es endlich auch verstehe. Mein unaufhörlicher Drang, ihn durch Fragen meinerseits aus der Reserve zu locken, scheiterte abrupt. Aber den Mund halten wollte ich dennoch nicht. Die Sprache ist mein Lebenselixier. Wie weiter also?

 

Per Zufall stiess ich auf ein kleines rotes Büchlein über deklarative Sprache und es wurde mir schnell klar: Fragen sind zweifellos höchst problematisch. 

 

Ja, das war mir tatsächlich nicht bewusst.

 

Deklarative Sprache erklärt in a nutshell 

Laut Linda K. Murphy ist es einfacher zu beschreiben, was die deklarative Sprache nicht ist. Deklarative Sprache beinhalten nämlich keine Befehle und auch keine Fragen. Ersteres ist mir völlig klar – ich entscheide auch lieber selbst als zu müssen. Aber was haben Fragen Problematisches an sich!? So einiges, wie ich plötzlich entdeckte. Fragen sind dadurch so vertrackt, weil es Usus ist, dass man gleich antworten muss. Schon wieder ein Müssen also. Sowohl Imperativsätze als auch Fragesätze haben gemeinsam, so Linda K. Murphy, dass sie Anforderungen im Moment stellen und macht gleich ein Beispiel, damit es für uns klarer wird:

 

Imperativsatz:  

  • Zieh’ deine Schuhe an! (Ich MUSS sofort die Schuhe anziehen.)

 

Fragesatz:

  • Wo sind deine Schuhe? (Ich MUSS sofort beantworten, wo die sind.)

 

Deklarativ sind im Gegensatz dazu Beobachtungen, Kommentare oder Aussagen. Deklarieren kommt nämlich aus dem Lateinischen und bedeutet erklären. Der Deklarativsatz oder auch Aussagesatz genannt ist also eine Satzart, die etwas einfach feststellt – und nicht befiehlt (Imperativsatz) oder fragt (Fragesatz). 

 

Deklarativsatz:

  • Deine Schuhe stehen auf der Treppe. (Beobachtung)
  • Ich finde es eine gute Idee, jetzt die Schuhe anzuziehen. (Kommentar: meine Meinung)
  • Bei dem Wetter friert man ohne Schuhe. (Aussage: was ist wesentlich)

 

Es schwingt nicht gleich hart dieses MUSS mit, da man das Kind so selbst bemächtigt, eine Situation zu bewältigen.

 

“Declarative language creates a situation in which a child can feel empowered to get the help they need, rather than shamed by their vulnerabilities.” Linda K. Murphy (S. 14)

 

Ich darf mein Kind also auf bestimmte Sachverhalte aufmerksam machen und somit seinen Fokus auf das Wesentliche einer Situation lenken, aber so, dass es sich als kompetenten Menschen sehen kann, der sich nicht primär als abhängig und fremdbestimmt fühlt. Es geht um eigene Lösungen, Selbstbestimmung und Selbstvertrauen.

 

Drucksensible autistische Kinder und Jugendliche brauchen etwas anderes

Wir wissen ja, autistische Kinder oder jugendliche Autist*innen mit pathological demand avoidance-Profil haben ein Angst getriebenes Bedürfnis nach Autonomie und sind somit extrem drucksensibel. Fragen oder Aufforderungen können rasch zu einer Stressantwort im Körper führen. Darunter versteht man  Fight-, Flight- und Freezeantworten. Und dieses “shut up” war ganz klar die fight Reaktion meines jüngeren Sohnes auf meine gut gemeinten Fragen hin. Man könnte es auch als Ankündigung sehen, dass er jegliches Eingehen auf mich still abblocken wird. Aber genau darum, weil es so ein heftiges Feedback ist, gefällt mir dieses “shut up” ja auch – durch seine Unmissverständlichkeit.

 

Drucksensible Autist*innen wollen aufgrund dieser Angstreaktionen nicht dauernd ‘müssen’, denn genau dies ist ja der Auslöser dafür. Sie brauchen Autonomie, sonst geht buchstäblich gar nichts mehr in dieser für das autistische Gehirn ziemlich unvorhersehbaren Welt. Mit deklarativem Kommunikationsstil kann man ihnen jedoch entgegenkommen und ein Gefühl von Sicherheit durch Selbstwirksamkeit schenken, ohne dass sie sich selbst überlassen sind.

 

Das geht gar nicht deklarativ. Oder doch?

Um das Gefühl zu bekommen, wie sich die deklarative Sprache im Alltag anfühlen kann, hat mich Linda K. Murphy (vgl. 79-80) inspiriert. Beispiele aus der Praxis sind immer hilfreich.

 

  1. Frage oder Befehl 
  2. Dasselbe in deklarativer Sprache

 

  • Was habe ich vorhin gesagt?
  • Es nimmt mich Wunder, ob du noch weisst, was ich vorhin gesagt habe.

 

  • Teile die Spielsachen bitte mit deinem Bruder!
  • Schau, dein Bruder interessiert sich auch für deine Spielsachen. 

 

  • Was sieht man auf diesem Bild?
  • Ich bin gespannt, ob du erkennst, was man hier sieht.

 

  • Hol’ deine Znüni Box, es ist schon spät!
  • Du, die Pause ist bald vorbei und deine Znüni Box ist noch im Thek.

 

  • Bitte hänge deine Jacke auf!
  • Deine Jacke liegt in der Garderobe auf dem Boden.

 

Diese Beispiele zeigen nochmals sehr schön auf, dass die deklarative Sprache einerseits ermutigen soll, eigene Lösungen für ein Problem zu finden. Wir machen lediglich auf das Wesentliche einer Situation aufmerksam – als Unterstützung. Andererseits ist es ein Gesprächsstil, der gerade bei drucksensitiven Kindern und Jugendlichen ihre Autonomie nicht untergräbt und durch Fremdbestimmung Angst macht und triggert. Es sind die eigenen Lösungen. Es handelt sich um die eigene Wirksamkeit – Vertrauen in sich selbst und letztendlich Selbständigkeit.

 

Wann braucht es den Imperativ?

 

Laura K. Murphy wird oft gefragt, ob der Imperativ denn gar nicht sein dürfe. Selbstverständlich darf der Imperativ sein. In zwei Situationen macht der sogar absolut Sinn (in Anlehnung an Clare Truman, S 28-29): 

 

1. Wenn es um Sicherheit geht

 

Regel für alle:

  • Ich gefährde durch mein Verhalten weder mich noch andere

 

2. Wenn man Grenzen setzen muss

 

Regeln für alle:

  • Ich tue niemandem weh 
  • Ich drohe nicht
  • Ich mache keine Sachen absichtlich kaputt
  • Ich schau, dass es in unserem zu Hause allen gefallen kann und helfe mit

Natürlich lohnt es sich, wenn man die Zeit dafür hat, dies deklarativ zu lösen, denn es wäre schön, es ginge so.

Deklarativ: 

  • Oh, ich rege mich sonst ziemlich auf. Bitte nicht…

Durch die deklarative Sprache haben wir eine Möglichkeit, dem Kind den Kontext aufzuzeigen und manchmal sind es auch wir und unsere Gefühlslage. Das ist sehr hilfreich. Zaubern und alle Querelen so beseitigen, können wir trotzdem nicht. Letztlich gehört es zum Wesen des Kindes/Jugendlichen, dass manchmal auf der eingeschlagenen Spur verharrt wird. In solchen Situationen kann es zum Imperativ kommen.

Imperativ:

  • Hör’ auf!
  • Stopp!
  • Jetzt ist Schluss!

Natürlich ist nicht damit zu rechnen, dass das allen Beteiligten Spass macht, aber es ist unser Job als Eltern, Verantwortung zu übernehmen, wenn oben erwähnte “eine plus vier Regeln” missachtet werden. Da ein Unterbinden eines Verhaltens eine klare Kritik ist und somit etwas mit einem macht, muss nicht gleich besprochen werden, was nun aus dem Ruder lief und wie es das nächste Mal besser laufen könnte. Das darf getrost auf danach verschoben werden, wenn alle Wogen geglättet sind und so überhaupt erst wieder gelernt werden kann – mit Gehirn ohne Stress. 

Eines dürfen wir dabei aber nie vergessen:

We all do it well when we can, and when we can’t we give each other grace.” Amanda Diekman (im Anhang ihres Buches)

 

Stolpersteine 

Rückschläge gehören zum Leben. Aufgeben sollte man aber trotzdem nicht. Laut Linda K. Murphy liegt es oftmals an genau vier möglichen Gründen, warum wir vielleicht rasch mal denken, das klappe ja gar nicht mit dieser deklarativen Sprache.

 

Dann ist es Zeit uns zu reflektieren (vgl. S. 78). 

 

  1. Gebe ich dem Kind auch wirklich genug Zeit, um das Gesagte zu verarbeiten?
  2. Habe ich die Aufmerksamkeit des Kindes überhaupt, damit es parat ist, um auf mich einzugehen? Ist der Zeitpunkt günstig?
  3. Wie kompliziert habe ich mich ausgedrückt? Kann es den Inhalt so überhaupt verstehen?
  4. Gewohnheiten zu ändern braucht Zeit. Vielleicht will ich zu schnell vorwärts?

 

Der letzte Punkt mit den Gewohnheiten gilt auch für uns. Bis wir es mit unserem neuen Kommunikationsstils drauf haben, fallen wir noch ab und zu in alte Muster zurück – sprich den Imperativ (oder in meinem Fall mehrheitlich die Fragen). Es soll uns nicht anders ergehen. Auch wir sind in einem Lernprozess und müssen uns von alten Gewohnheiten verabschieden. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir sollten uns zudem bewusst sein, dass oft Zeitdruck der Grund des Scheiterns unseres deklarativen Sprachstils ist. Vielleicht schaffen wir es ja, so zu planen, dass wir nicht pressieren müssen oder wir sind gütig mit uns und gestehen uns ein, dass das halt ab und zu unumgänglich ist.

 

Fazit – meine Erfahrungen 

Zwei Wochen lang bin ich nun aktiv daran und habe mir querbeet notiert, was für Erfahrungen für mich wichtig oder interessant sind. Es handelt sich also um eine Sammlung von persönlichen Aha-Erlebnisse mitten in meiner beginnenden Entwicklung:

 

Calm down – Mami: 

  • Aussagesätze kann man entweder wie eine Radio-Sprecherin bei den Nachrichten von sich geben oder mit Drama, wie in einer Soap, zu was ich leider neige. Prosodie voller Dramatik kommt hier nicht wirklich gut an. Also: Drama raus und Nachrichten-Sprecherin rein in meine Stimme. Das wird viel besser akzeptiert.

 

Info Dumping respektieren: 

  • Auch die deklarativen Beiträge meines jüngeren Sohnes sind nicht unbedingt eine Aufforderung zum Gespräch, sondern Hinweise auf eine Sache: “Ein Flugzeug.” Ich darf meinem Drang immer zu antworten auch mal nicht nachgehen, da dies gar nicht (oder nicht immer) erwünscht ist.

 

Zeitpuffer einplanen: 

  • Zeitdruck ist der Tod deklarativer Sprache. Also plane ich immer noch 10 min TV oder Handy ein, bevor der Weg zum Schulbus oder ähnlich in Angriff genommen wird. Und für diese kurze Zeitspanne stelle ich den Time-Timer ein – noch 7 min ans Handy. 

 

Ich habe tatsächlich zwei interessante Wochen hinter mir. Es ist sehr spannend, am eigenen Gesprächsstil zu arbeiten. Ich lernte mich besser kennen mit meinem Flair für Drama und Spannung. Damit habe ich viele, viele Kinder glücklich gemacht – aber in diesem einen Punkt nicht unbedingt meine, oder dann nur, wenn wir es zusammen lustig haben und klar signalisiert wird, dass jetzt Zeit dafür ist. 

 

Meine wichtigste Erkenntnis ist aber, dass mein Kleiner viel offener ist, um sich mitzuteilen, wenn er sich nicht vor einem Gespräch schier fürchten muss und ich anerkenne, nun kommt Info-Dumping pur nur. Das ist mir im Prinzip keineswegs neu und dennoch staune ich wieder einmal darüber, wie ich meinen Jungs dieses interaktive Ping Pong im Gespräch sehr störend und bisher ziemlich hartnäckig aufdrängen wollte und manchmal aus Gewohnheit immer noch will. Leider habe ich dabei unsere hausinterne Neurodivergenz wieder einmal nicht vollumfänglich begriffen. Ich darf ihre Infos als Nähe geniessen und “bitzli chille” (= runter fahren). Ich muss durch für sie schier krampfhaft gesuchtes “Ping Pong” nicht immer signalisieren, dass ich voll dabei bin – einfach zuhören, runterfahren und mich mal zurücknehmen. Sowieso darf ich durch die deklarative Sprache ganz viel Verantwortung abgeben und quasi als Selbstverantwortung meinen Kindern übergeben. Auf ganz vielen Ebenen heisst das für mich also: einen Schritt zurück. Und das Interessante daran ist, sie geniessen diesen kleiner werdenden Druck meinerseits, der aus der Idee gipfelte, dass ich für alles verantwortlich bin und es zudem sehr gut machen will. 

 

Hey, da sind zwei eigenständige und bereits sehr kompetente Menschen unter meinen Fittichen herangewachsen und es ist gut, dass ich das endlich bemerke.

 

 

 

 

 

 

Literaturliste 

 

Co-Regulation = hilft, wie verhalten

Deklarative Sprache = hilft, wie sprechen

L. K. Murphy. (2020). Declarative Language Handbook. Using a Thoughtful Language Style to Help Kids with Social Learning Challenges Feel Competent, Connected, and Understood. 

 

Truman, C. (2021). The Teacher’s Introduction to Pathological Demand Avoidance. Essential Strategies for the Classroom. London: Jessica Kingsley Publishers.

—–) Regeln in Anlehnung an Clare Truman hat (vgl. S 28-29)

 

Diekman, A. (2023). Low-Demand Parenting. Dropping Demands, Restoring Calme, and Finding Connections with your Uniquely Wired Child. London: Jessica Kingsley Publishers.

 

The Neurodiversity Podcast (@NeurodiversePod) hat an 8:32 PM on Do., Jan. 19, 2023 gepostet:

Often, neurodivergent people have a completely different communication experience than neurotypicals. Linda Murphy, the author of The Declarative Language Handbook, joins us on Episode 155 with ideas reframing communication and breaking down barriers. https://t.co/IB7aXwFZtF https://t.co/oceeom1XtZ

(https://x.com/NeurodiversePod/status/1616156674368077828?t=XLnh0JQSAN864HpdlLT4DQ&s=03)

 

 

Die Strategie „deklarative Sprache“ ist eine Möglichkeit, einen verbalen Hinweis zu geben, sodass der Empfänger aufgefordert wird, über eine Lösung nachzudenken, und nicht aufgefordert wird, die Lösung zu finden . Dies ist ein subtiler, aber entscheidender Unterschied, wenn wir versuchen, Unabhängigkeit aufzubauen.

https://www.massgeneral.org/children/aspire/blog/using-declarative-language-to-support-independence

 

 

 

Satzarten:

 

Der Aussagesatz (Deklarativsatz)

Deklarieren kommt wie fast alle Begriffe in der Grammatik aus dem Lateinischen und bedeutet erklären. Im Aussagesatz erklärt man also etwas, man stellt es fest, sagt es aus.

https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/deutsch/artikel/satzarten#