(= erste Form visueller Denker)
Bilderdenker
Schon Albert Einstein soll einmal geäussert haben:
“If I can`t picture it, I can`t understand it.”
Tatsächlich geht es manchen Menschen im Autismus-Spektrum so. (Aber nicht allen – es gibt auch noch die Musterdenker, Wortspezialisten etc.) Sie denken als Bilderdenker in fotorealistischen Bildern. Ein bisschen daran teilhaben lässt mich unser 6-jähriger Sohn in seinen Zeichnungen. Lange wollte er gar nicht zeichnen oder dann waren es nur Bewegungen mit Farbe auf Papier. Aber als er dann startete, staunte ich nicht schlecht Ein bottom-up Spezialist braucht nach dem Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit (enhanced perceptional functioning) wohl einfach länger, bis das Detailwissen gesammelt worden ist. Und da gibt es für bildhafte Denker wahrlich viele Details.
Bäume aus Büchern wachsen lassen
Für mich ist das Denken in Bildern ein ganz anderer Zugang zur Welt. Ich denke in einer Kombination aus Wörtern und verallgemeinernden Bildern. Nicht so für Temple Grandin. Sie erklärt das so, dass sie als visuelle Denkerin sogar Texte lesend immer gleich in Bilder übersetzen muss, um zu verstehen. Liest sie das Wort Baum, muss sie quasi Bäume aus Büchern in ihre eigene “Sprache” wachsen lassen. Für den Spracherwerb visueller Denker würde das folglich bedeuten, dass sie Worte immer in Bilder umdenken müssen um zu verstehen. Bilder wiederum in Sprache übersetzen, um zu kommunizieren. Für mich wirkt dadurch die verbale Kommunikation wie eine Fremdsprache. Es ist dauernde Übersetzungsarbeit – von einer autistischen Wahrnehmung in eine neurotypische und umgekehrt … mit kulturell grossen Unterschieden. Nun verstehe ich auch, warum es meinem jüngeren Sohn oft zu schnell geht und er sich ausklinkt. Er brauchte Zeit, um seine Bäume wachsen zu lassen.
So zeichnet mein jüngerer Sohn auch oftmals Regeln für mich auf. Will er nicht, dass ich nun in der Lounge draussen lese, zeichnet er rasch eine Verbotstafel mit durchgestrichenem Sofa. Will er nicht, dass ich zuviel Zeit mit dem Handy auf Twitter verbringe – eine Verbotstafel mit durchgestrichenem Handy. Nicht, weil er dies nicht verbal lösen könnte – weil es ihm liegt dies bildnerisch mitzuteilen.
“Visuelle Denker können somit bei einem Gedanken oder einer Information eine Fülle von gespeicherten Bildern durch Assoziationen abrufen, bei der das Gehirn (Gedächtnis) quasi wie eine Google Suchmaschine (Grandin 2011, 33) operiert. Dabei werden beispielsweise Begriffe wie Stopp in konkrete Bilder umgewandelt, so zum Beispiel mit einem Stoppschild als Verkehrszeichen, mit einem Schülerlotsen, der ein Stoppschild hochhält oder einem Auto, das an einer Strassenkreuzung anhält, visualisiert.” Georg Theunissen
Das erklärt, warum mein Sohn gerne YouTube Geschichten schaut wie beispielsweise „Tom und das Erdbeermarmeladenbrot mit Honig“ oder Sachbücher mit vielen Bildern studiert – nicht aber Texte vorgelesen bekommen will. Ohne Bild/Bilder ist es für ihn anstrengende Übersetzungsarbeit. Das muss er im Alltag schon immer. Geschichten sollen Spass machen.
Was meinen Sohn auch unterstützt, ist, wenn er zu Bildern Situationen sammeln muss. Das hilft ihm beispielsweise in der Welt komplexer Gefühle sich zurechtzufinden. Aber auch hier steht das Bild im Zentrum. Aktuell ist er begeistert von Gesichtsausdrücken in Cartoons.
Die Herausforderung bildhaften Denkens
Das Gedächtnis ist bei visuell denkenden Menschen im Autismus-Spektrum nach Temple Grandin wie ein Google-Bilder-Suchmaschine. Das birgt auch Gefahren in sich.
“Allerdings kann die eben genannte Assoziationsleistung auch chaotische Züge annehmen, indem die Person vor lauter Details, assoziierten oder ähnlichen Dingen den Zusammenhang nicht mehr herzustellen beziehungsweise (wie schon zuvor angedeutet) das Wesentliche zu erfassen vermag.” Georg Theunissen
Das ist die grosse Herausforderung und Risiko bei der autistischen bottom-up Wahrnehmung. In dem Fall ist eine neurotypische top-down Wahrnehmung viel effizienter.
Für meinen Sohn heisst das, dass man ihm Strukturierungshilfen visuell anbietet. Der Teacch Ansatz nutzt das. Durch Strukturierung und Visualisierung werden Zusammenhänge verdeutlicht und komplexe Situationen durchschaubar (vgl. Praxis Teacch). Ich habe somit immer Papier und Bleistift in Griffnähe und zeichne Abläufe rasch auf. Aktuell zeichneten wir zusammen, wie viele Male er noch schlafen muss, bis seine Patentante ihm Rollerblades kauft und mitbringt. Jeden Tag streichen wir nun einen Kreis für 1x schlafen durch – bis zum von ihm gezeichneten Bild der Rollerblades. Das gibt ganz viel Sicherheit.
Der Vorteil bildhaften Denkens
Eine neurotypische top-down Wahrnehmung hat wiederum den grossen Nachteil, dass sie viele Wahrnehmungen einfach übersieht. Dadurch ist es nicht zulässig, dieses reduzierte Wahrnehmen der Welt als besser darzustellen.
“Gelingt es durch Lernprozesse, Strukturierungshilfen, (sprachliche) Kategorienbildung o. Ä. , die chaotischen und überbordenden Assoziationskaskaden (ebd.) zu ordnen und zu strukturieren, zeigt sich das visuelle Denken in der Regel als besonders leistungsfähig, ja sogar leistungsfähiger. (…)” Georg Theunissen
Nach Temple Grandin wäre es nun ein grosser Fehler beide Denkformen gegeneinander auszuspielen. Denn – recht hat sie – so brauchen erfolgreiche Projekte alle Formen des Denkens. Neurodiversität ist folglich eine Chance für eine Gesellschaft und bereichernd.
Literaturliste
Grandin, T. (2011). The way I see it. Arlington, TX (Future Horizons) (2nd ed.) (s. 33)
Theunissen, G. Hrsg. (2016). Autismus verstehen. Aussen- und Innensicht. Stuttgart: Kohlhammer. (s. 83-85)
Theunissen, G. (2014). Menschen im Autismus-Spektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer. (s. 92-109)
Tuckermann, A., Häussler, A., Lausmann, E. (2012). Herausforderung Regelschule. Unterstützungsmöglichkeiten für Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen im lernzielgleichen Unterricht. Dortmund: Borgmann Media.