Vom Zählen – wo zwischen 0 und 100 mein Sohn mit atypischem Autismus wohl gerade steckt?

 

Das, was man sieht, ist nur das, was man sieht

Genau. Manchmal braucht es viel mehr Tiefblick mit aufmerksamster und schier durchgängiger Beobachtung, um zu erahnen, welcher Entwicklungspunkt mein 6-jähriger Sohn mit atypischem Autismus aktuell erreicht hat. Vor allem auch, weil er mich oft nur punktuell an seinen Kompetenzen teilhaben lässt. Er ist so sehr bei sich, dass er meine Bewunderung als Ansporn nicht braucht. Aber ich darf mich mit ihm freuen, wenn es soweit ist. Oftmals zeigt er den Fortschritt erst wenn er etwas zu 100% kann. Der ganze Entwicklungsbereich von 0 bis 99 bleibt verborgen. Ich erkläre mir das so, dass mein jüngerer Sohn nach dem Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit sich einen weit längeren Zeitraum als nicht-autistische Kinder mit der Detailwahrnehmung beschäftigt, bevor er sich dem Gesamtzusammenhang stellen mag. Erst nach zeitintensiver bottom-up Arbeit, kommt er beim top-down Prinzip an. Manchmal scheint er sich auch darin zu verlieren – auf Kosten des Überblicks.

 

“Letztendlich geht es um Hilfen zum Erkennen von Zusammenhängen in bestimmten Situationen.”

Georg Theunissen

 

Um zu erahnen, wie ich meinen Sohn allenfalls genau in diesem ‚Erkennen von Zusammenhängen‘ unterstützen kann, muss ich mich informieren, was das Zählen genau beinhaltet und wie viel Detailwissen es braucht, um den Überblick zu erhalten.

 

Was noch vor dem Zählen kommt

Sogar die Tierverhaltensforschung beschäftigt sich mit dem Zählen. Wie werden Feinde wahrgenommen? Es macht betreffend Anzahl der Feinde nämlich einen Unterschied hinsichtlich Fluchtverhalten und ist somit überlebenswichtig.

Auch Säuglinge scheinen den Unterschied von zwei identischen Gegenständen auf plötzlich drei zu bemerken. Ab 6 Monaten reagieren sie irritiert, wenn sich zwei identisch aussehende Figuren hinter einer Wand verstecken, eine kommt hervor und beim Blick hinter die Wand sind plötzlich zwei anstatt nur eine dort. Also eine erste Addition, die nicht aufzugehen scheint.

Zwischen 2 und 3 Jahren unterscheiden Kinder Gegenstände so: “Ist es eins oder sind es viele?” Sie wissen auch, dass mit dem Zählen eine unterschiedliche Anzahl Gegenstände eruiert werden kann, aber auf die Frage nach der Anzahl hin, kommt eine willkürliche Menge noch. Das Zählen bis 3 oder 5 geht also, aber das Bestimmen der genaue Anzahl ist zu schwierig.

Während der Unterschied “eins und viele” unterdessen gut differenziert wird, bereiten die Steigerungsformen wie z.B.  wenig – mehr – am meisten weiterhin Kopfzerbrechen. Diese wichtige Unterscheidung, die noch vor der Beschreibung exakter Mengen erworben wird, hat seine Tücken. Denn gleich ausgefüllter Platz heisst nicht, dass es sich um gleich viele handelt. Gleiche Anordnung ist für Mengen also nicht wichtig. Dies ist ziemlich abstrakt und sprachlich herausfordernd – gleich viele, gleiche Anordnung, gleich viel Platz kann gleich oder sehr ungleich sein. Je nachdem.

(vgl. Kurt Hess, 65-70)

 

Die Entwicklung des Zählens kurz vor dem Kindergartenalter

Zählen wie ein Abzählreim

Ungefähr ein Jahr vor dem Kindergartenstart, kennen die Kinder die Reihenfolge der Zahlen bis ca. 3 oder 5. Sie zählen, weil das Spass macht wie ein Abzählreim. Auf die Frage hin, wie viele Puppen es sind, kommt noch eine willkürliche Menge. Generell machen Abzählreime oder Fingerverse hier Sinn. Jeder Finger hat – im letzteren Beispiel – seine fixe Rolle. Das ist wie beim Zählen. (Das nennt sich somit stabile Reihenfolge.)

 

Zählen beschreibt eine Anzahl

Bald darauf erfassen sie, dass Zahlen eine bestimmt Anzahl beschreiben. Dass die exakte Anzahl durch Zählen ermittelt werden muss, wissen sie hingegen noch nicht. (Die Zähltechnik, dass jedem Element eine Zahl zugeordnet wird, lässt sich nun langsam mit Würfelspielen o.ä. entdecken, wie zum Beispiel Lotti Karotti.)

 

Die Entwicklung des Zählens im Kindergartenalter

Zählen, um die exakte Anzahl zu ermitteln

Nun können Kinder durch das Zählen Mengen ermitteln. Sie wissen, immer die zuletzt genannte Zahl bedeutet, dass es genau so viele sind. (Das nennt sich Kardinalzahlprinzip.) Aber dass bei 8 Autos eines weniger dann 7 sind oder eines mehr 9, das ist noch zu abstrakt.

 

Zählen mit Bezug auf andere Mengen

Erst jetzt durch die stabile Reihenfolge, die 1:1 Zähltechnik und das Kardinalzahlprinzip, wird ein flexibles Zählen möglich. Das Kind weiss, was 8 Autos sind, dass zwei weniger 6 Autos sind, eines nochmals dazu 7 Autos.

(vgl. Kurt Hess, 57 – 59)

 

Wie kann ich meinen Sohn im Erkennen von Zusammenhängen unterstützen?

Nach der Theorie über eine Welt, die sich zu schnell bewegt oder verändert, ist es hilfreich, wenn Zahlen/Mengen durch Erfahrungen handelnd mit Wiederholbarkeit kennengelernt werden. Das entspricht zudem dem Wesen kleiner Kinder – oder zumindest meines jüngeren Sohnes. Mengen sollen gespürt und auf Referenzen (wenig – mehr – am meisten) aufmerksam gemacht werden und gleichzeitig ist es wichtig diesen Eindruck zu versprachlichen. Noch bevor “5 Steine bedeuten die An-Zahl 5”, sollte “da hat es weniger Steine, da hat es am meisten Steine etc.” wahrgenommen werden. Es eignen sich nun Mathe am Flussufer mit vielen Steinen, Mathe am Brunnen mit Giesskanne ausgerüstet, Mathe im Spielsand mit Schaufel und Kessel etc. Handlung sollen verinnerlicht und durch durch Wiederholung in Sprache umgesetzt werden.

Gleichzeitig bietet es sich an Mengen zu zählen und das Symbol dafür einzuführen. Man kann Steine zählen, man kann Tambourin Schläge zählen, man kann Handlungen zählen etc. Visuell sichtbare und bestehende Gegenstände real oder auf einem Bild eignen sich besonders gut, da sie Zeit durch Beständigkeit und somit Wiederholung im Zählen zulassen. Kinder im Autismus-Spektrum brauchen das – Zeit durch visuelle Strategien, Reduktion der Anforderungsfülle und Reizüberflutung.

Zudem sollten Aufträge nicht zu komplexe Informationen enthalten. Am Besuchstag zum “LP 21 Mathe kompetenzorientierter Unterricht”, musste mein Sohn auf dem Tisch ein Level suchen, das ihm behagt, dort Gegenstände zählen und dies in irgendeiner Form festhalten. Das war viel zu kompliziert und weit mehr Herausforderung als ausschliesslich Mathe. Es sollte wohl zeigen, wie Kinder sich selbständig Kompetenzen aneignen. Die Schulleitung ordnete das so an – vergass aber uns dabei. Einige Kinder konnten dies auch. Die Eltern waren beeindruckt. Ich eher verzweifelt, auch wenn die Klassenassistenz, die ich sehr schätze, sofort unterstützt hätte. Auch Autisten sind manchmal Autodidakten. Aber in einer verlangsamten Welt, in der man verweilen darf. Steine und Sand und Wasser und Holzschnitzel und Tannzapfen und Schnecken und … – stundenlang.

 

Life Hacks

  • Weniger – mehr – am meisten
    • Mathe im Sandkasten, am Brunnen, mit Holzschnitzel, am Flussufer mit Steinen, Wald mit Tannzapfen und dazu Spielmaterial wie Giesskanne, Becken, Tablett, Spielplatzrand nutzen etc. Die Begriffe brauchen zusätzliche Mengen. Es geht bei diesen Steigerungen um Referenzen. Diese gemachte Wahrnehmung dann versprachlichen.

 

  • Fingerverse, Abzählreime etc. verdeutlichen eine stabile Reihenfolge, wie es schliesslich dann auch beim Zählen gilt. (Stabile Reihenfolge.)

 

  • Würfelspiele, die aufzeigen: jedes Element ein Zahlwort. (Zähltechnik – 1:1 Zuordnung.)

 

  • Viel Zählen – beim Backen “gib mir 12 Peka Nüsse”, beim Verteilen “jeder bekommt drei Kreidestifte” etc. (Kardinalzahlprinzip – die zuletzt genannte Zahl bezeichnet die An-Zahl.)

 

********** Bis hierhin sollte im Kindergarten erworben sein. **********

 

  • Zählen geht noch anders als: 1, 2, 3, 4, … (Ideen von meinem älteren Sohn mit Asperger Syndrom, der dem Mathe-Mythos entspricht.)
    • Vorwärts – rückwärts
    • Gerade Zahlen – ungerade Zahlen zählen
    • Von einer beliebigen Zahl aus zählen bis zum nächsten Zehner. Mal vorwärts. Mal rückwärts.
    • Zähl-Olympiade mit Stoppuhr.
    • Fibonacci Reihe etc.

 

  • Lesen und Schreiben von Zahlen bereits im Kindergartenalter, da es vielen Kindern – irritierender Weise – einfacher fällt, Mengen so darzustellen als geordnet wie z.B. auf dem Würfel in Punkten o.ä. (vgl. Kurt Hess, s. 60).

 

  • Mengen vergleichen: Sind 7 Zimtsterne gleich viel wie 7 Mailänderli? Was ist der Unterschied zwischen 11 Brunsli und 9 Chräbeli?

 

********** Und falls das auch noch Spass macht – warum also nicht!?**********

 

Wo mein Sohn in der Zählentwicklung wohl gerade steckt?

Ich habe einige Situationen revue passieren lassen, um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen.

Daddy finger, Daddy finger, where are you

Du kennst die fixen Rollen der Finger in diesem Fingervers-Lied.

 

Eins oder viele – weniger/mehr/am meisten

Fliegt ein Flugzeug über unser Hausdach, dann interessieren dich die Turbinen. Manche haben zwei – manche vier. Das benennst du auch mit den Zahlen 2 oder 4. Ich bin etwas unsicher, ob allenfalls 2 für wenig und 4 für mehr steht. Oder zählst du tatsächlich?

Was du im Alltag oft brauchst, wenn du zum Beispiel noch nicht satt bist, ist: “Ich will nochmals eines.” Oder wenn ich dich kitzle und du willst, dass ich ich nicht damit aufhöre: “Mehr!”

 

Gesundheit

Niese ich dreimal nacheinander, wünschst du auch dreimal Gesundheit. Und du erwartest von mir in dem Fall “danke-danke-danke”.

 

Gleich viele – teilen

Du hast einen starken Gerechtigkeitssinn. Wenn ich dir vier Riegel Yoghurette gebe, schenkst du mir manchmal eine Hälfte. Beide sollen gleich viel haben.

 

Zwei Becher Mehl, auf jeden Cupcake drei Smarties

Backen magst du sehr und hilfst mir auch tatkräftig mit. Du kannst als abzählen und weisst, dass die zuletzt genannte Zahl die An-Zahl ist.

 

Lotti Karotti

Lotti Karotti magst du, da es sehr spannend ist mit dem Runterfallen. Aber Würfelspiele mit Würfel willst du gar nicht und verweigerst. Ist das Würfeln und diese Anzahl zu fahren zu abstrakt? Oder ist es das Gesellschaftsspiel generell, das du nicht magst? Abwechseln, warten, Regeln – ein Korsett quasi?

 

Würfel-hüpfen

Das wiederum liegt dir sehr. Mit einem grossen Schaumstoffwürfel würfelst du, zählst die Punkte und hüpft so viele Male darüber. Also doch nicht zu abstrakt!

 

Finger zeichnen

Im ersten Kindergartenjahr waren Finger einfach beliebig viele Striche. Seit du im zweiten Kindergartenjahr verweilst, sind es pro Hand exakt fünf Finger.

 

Bis 10 zählen

Das geht wunderbar – bis 20 mit Auslassungen oder Umstellungen. Von einer beliebigen Zahl oder rückwärts, das machst du nicht. Vielleicht zu anspruchsvoll?

 

Und manchmal, da geht gar nichts

Ist “gar nichts” auch eine mathematische Erfahrung? Wie auch immer – auch das ist typisch für dich. Wenn etwas nicht in deinem Aufmerksamkeitstunnel Platz hat (Monotropismus), dann geht wirklich gar nichts. Interesse, Motivation, Lust… – oft nur dann, wenn es in deinen Fokus rückt.

Fazit: Noch ein bisschen mehr Routine in den mathematischen Vorläuferfertigkeiten betreffend “Zählen” schadet keinesfalls vor der ersten Klasse. Du brauchst Zeit. Wenn das Zählen mit Bezug auf andere Mengen dann klappt, habe ich ein richtig gutes Gefühl.

Dennoch bin ich gleichzeitig fasziniert, wie viel du schon verinnerlicht hast – das auch ohne Vorliebe für Würfel-Spiele 🙂 .

 

Literaturliste

Hess, K. (2002.) Kinder brauchen Strategien. Eine frühe Sicht auf mathematisches Verstehen. Seelze: Klett-Kallmeyer.

Vorlesungsunterlagen von Kurt Hess.

Theunissen, G. (Hrsg.) 2016. Autismus verstehen. Aussen- und Innensicht. Stuttgart: Kohlhammer.