Zuerst einmal nein – reduzierte Akquieszenz und Autismus

Das spontane Ja: Akquieszenz

Wenn ich das Rad der Geschichte weit zurück drehe, erscheint es mir geradezu logisch, wie es zu diesem spontanen Ja gekommen ist. Gefahren lauerten überall. Sieht jemand aus der Gruppe eine Gefahr kommen und fordert zur Flucht auf, pressierte es folglich.

 

 

Menschen, die also spontan und ohne weiter zu überlegen diesem Aufruf der Gruppe zur Flucht zustimmen, hatten höhere Überlebenschancen.

 

Diese genetisch basierte soziale Fähigkeit, die uns einst das Leben rettete, ist auch heute noch spürbar. Müssen wir beispielsweise Fragebögen ausfüllen, bei denen die Antwort nur bejahend oder verneinend sein kann, haben wir nach wie vor eine Tendenz Ja anzukreuzen, was das Ergebnis natürlich verfälscht. Diese inhaltsunabhängige Zustimmungstendenz nennt sich Akquieszenz. Auch wenn es in diesem Fall nicht wirklich hilfreich ist, so ist unser Alltag auch heute darauf ausgerichtet, dass dieses Ja ohne gross nachzudenken einen wichtigen Platz einnimmt. Ich war mir dessen lediglich nicht bewusst und vermute, so ergeht es nicht nur mir.

 

„In unserem Alltag setzen wir einen hohen Grad an Akquieszenz voraus. Beispielsweise sagen wir häufig Dinge wie: „Magst du essen kommen?“ statt, „Komm zum Mittagessen“. Bo Hejlkov Elvén (S. 44)

 

Aufgrund der Akquieszenz funktionieren solche rhetorischen Fragen als Aufforderung wunderbar. Aber nicht nur dann scheint das mit der Zustimmung zu klappen, auch Suggestivfragen sind äusserst wirksam und möglicherweise ist auch hier die Akquieszenz nicht ganz unbeteiligt. Stimme ich als nicht-autistischer Mensch auf die Bemerkung hin, dass ich nun die letzte sei, die noch gefragt werde vor der sehnsüchtig erwarteten Herausgabe der Schulbusfahrpläne, erst einmal spontan zu und segne somit die letzten Änderungen ab, habe ich danach mit Sicherheit eine richtig schlechte Nacht. Es stimmt für mich nämlich gar nicht, dass mein Kind so jeden Tag gut 20 min zu spät zur Schule kommt und genau dafür mache ich mich am nächsten Tag dann übermüdet stark und nicht unbedingt beliebt. Aber vielleicht bin ich durch dieses Verhalten nicht nur ‚einfach mühsam‘, sondern eben ein Opfer meiner evolutionär bedingten Akquieszenz.

 

Die Pläne liessen sich leider nicht mehr ändern und mein Mantra seither: „Ich bespreche alles zuerst und melde mich dann.“ So bekomme ich Zeit, mich in Ruhe mit dem eigentlichen Inhalt der Frage und der Bedeutung für uns als Familie zu beschäftigen.

 

Lifehacks zum Umgang mit mir (nicht-autistische Person) und dem durch Akquieszenz begünstigenden schnellen Ja

Möchte man, dass ich meine Entscheidungen, nach einmal darüber schlafen, nicht widerrufe, gilt:

 

  • „Eine Suggestivfrage sollte nicht gestellt werden, wenn eine möglichst freie, unbeeinflusste Antwort erforderlich ist.“ Qualtrics.com

 

Zuerst einmal nein: reduzierte Akquieszenz

Etwas anders, so wird zumindest vermutet, sieht es mit der Akquieszenz bei autistischen Menschen aus. 

 

Sage ich: „Magst du essen kommen?“ statt, „Komm zum Mittagessen“, muss ich bei meinem älteren Sohn durchaus mit einer Meinungsäusserung rechnen: „Ich komme in einer halben Stunde.“

 

Das Pendant zu meinem spontanen Ja, ist ihr spontanes Nein. Laut Bo Hejlskov Elven ist bei Autist*innen die Akquieszenz oftmals reduziert (Vgl S. 44). So wie meine Ja-Tendenz nicht unbedingt eine Zustimmung ist, auch wenn sie beim Gegenüber erstmals gut ankommt, ist ihr Nein-Sagen kein oppositionelles Verhalten und darf darum auch nicht persönlich genommen werden.

 

„Und so betrachtet ergibt sich auch schon ein Hinweis auf den Umgang damit: der/die Betreffende brauchen mehr Zeit, um schliesslich zustimmen zu können.“ Thomas Girsberger (S. 21)

 

Da es sich heute in der Regel nicht mehr um die frühere Art der Bedrohung dreht, darf man also in Ruhe Zeit geben. Mein älterer Sohn brauchen das unbedingt. Man muss sich dessen einfach bewusst sein und dies in dieser schnellebigen Zeit bewusst zulassen.

 

Reduzierte Akquieszenz und meine Kinder

Als ich meiner Mutter von der vermuteten reduzierten Akquieszenz autistischer Menschen erzählte, erwiderte sie sogleich, dass das aber nur auf ihren älteren Enkel zutrifft – nicht aber auf den jüngeren. 

 

Tatsächlich ist bei meinem älteren Sohn alles/manches Auffordernde zuerst ein Nein. Er kann mir dann auch erklären, dass er ja Autist sei und alles genug früh wissen müsse. Etwas sofort zu erledigen, klappt in der Regel nicht, was mich wiederum sehr herausfordert. Ich muss also Aufträge frühzeitig ankündigen und dann wiederum erinnern, dass es nun soweit sei. Das entspricht dem, was Girsberger zur Überwindung der fehlenden oder reduzierten Akquieszenz empfiehlt: Zeit. Meinerseits bedeutet das Geduld und Planung (Transparenz). So kann ich auf sein Bedürfnis nach genug Zeit eingehen.

 

Bei meinem jüngeren Sohn fühlt sich die möglicherweise reduzierte Akquieszenz anders an. Es ist kein formuliertes Nein, das einen aufhorchen lässt. Dennoch spüre ich dieses Nein. Oftmals gelingt es ihm nicht auf Kommando mit einem Auftrag zu starten oder die Aktivität zu wechseln, was es ja eigentlich immer ist, gehe ich doch davon aus, dass man nicht nichts tun kann (vgl. Autistic Inertia). Ich versuche das so zu umgehen, dass es gar nicht zu einer Fragestellung/Aufforderung kommt, die man mit Ja oder Nein beantworten kann. Dafür nutze ich Routine im Sinne von Beiläufigkeit. Das erzeugt keinen Druck, da es Gewohnheit betrifft und somit  vertraut ist. Auch die Auswahl zwischen zwei Aktivitäten hilft, sich auf etwas – anstelle nichts – einzulassen, wie auch visuelle Pläne, da sie Selbständigkeit zulassen und keine direkte Interaktion einfordern. Letztlich plädiere ich auch immer dafür die Interessen zu nutzen. Gerade autistische Kinder sind dafür bekannt, dass sie sehr fokussiert sind, spricht sie ein Thema an.

 

Sich des eigenen Empathiefehlers bewusst werden

Ich beobachte immer wieder, dass autistische Kinder spontan wie nicht-autistische bewertet werden. Vermutlich liegt das in der Natur nicht-autistischer Menschen, dass sie sofort von sich auf andere schliessen. Dabei wird vergessen, dass es sich bei Autismus um ein anderes Art des Seins handelt, da die Welt ganz anders wahrgenommen wird (vgl. Monotropismus-Hypothese). Dieses Bewusstsein sollte in der Pädagogik immer Bedeutung haben. Das Thema der reduzierten Akquieszenz erfordert ein Umdenken und zeigt uns letztlich auf, dass es sich bei dem raschen Nein eben nicht um oppositionelles Verhalten handelt, wie man ohne Perspektivenwechsel fälschlicherweise annehmen könnte.

 

Es ist für ein empathisches nicht-autistischen Gegenüber eine Herausforderung, nicht auf das Bauchgefühl zu hören und sich seines Empathiefehlers bewusst zu werden. Natürlich kann ‚der Bauch‘ den Umgang mit Autismus lernen, wenn verstanden wurde, was Verhalten eigentlich bedeutet und in diesem Fall eben, wie man das spontane Nein zu deuten hat.

 

Lifehacks zum Umgang mit reduzierter Akquieszenz und dem schnellen Nein

Natürlich geht es nicht darum, dass man Kinder/Jugendliche zum Zustimmen drängt. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass ein Nein dann und wann eigentlich ein Ja wäre. Dem gilt es auf die Spur zu kommen und das Kind oder den Jugendlichen genau darin zu unterstützen, um dies für sich herauszufinden. 

 

Damit das spontane Nein überwunden werden kann, sollte ich meinen autistischen Kindern:

  • Zeit geben

 

Um gar nicht erst in den Nein-Modus zu gelangen, welcher durch direkte/fordernde Interaktion hervorgerufen wird, helfen uns z.B.: 

  • Routine
  • Auswahl
  • visuelle Pläne
  • Interessen

 

Zudem möchte ich als weitere Lifehacks allen, die im Leben auf autistische Kinder/Jugendliche treffen, zwei Leitsätze mit auf den Weg geben:

 

  1. Verständnis: Wir nehmen die sofortige Ablehnungen autistischer Kinder/Jugendlichen uns gegenüber nicht persönlich und wissen nun, dass dieses spontane Nein aufgrund möglicher reduzierter Akquieszenz anders zu deuten ist als gewohnt. Es hat also (oftmals) nichts mit uns zu tun.
  2. Entgegenkommen: Wir entscheiden nicht für die Kinder/Jugendlichen. Das schnelle Nein ermächtigt uns nicht dazu, sie nicht Ernst zu nehmen. Im Gegenteil! Wir helfen die Entscheidungsfindung zu ermöglichen, indem wir eine Umgebung schaffen, die das zulässt – im Wissen um eine möglicherweise reduzierte Akquieszenz. Das bedeutet Zeit geben und Druck rausnehmen, der ja oftmals aus der Interaktion, die schnell fordernd wird und somit Stress hervorruft, entsteht. 

 

Literaturverzeichnis

 

Beide Bücher kann ich sehr empfehlen ☺️👍:

 

📖 Bo Hejlskov Elvén. (2015). Herausforderndes Verhalten vermeiden. Tübingen: Dgvt Verlag

(43-44)

 

📖 Girsberger, Th. (2022). Mit Autismus den Alltag meistern. Praktische Hilfen für Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum. Stuttgart: Kohlhammer (20-21)

https://www.blick insbuch.de/item/86817733320d9cf5827bbd4421d78a3a

 

Akquieszenz

https://lexikon.stangl.eu/2029/akquieszenz

 

Suggestivfragen

https://www.qualtrics.com/de/erlebnismanagement/marktforschung/suggestivfrage/

 

Monotropismus-Hypothese

https://sachendenker.ch/autismus-verstehen-lernen-die-monotropismus-hypothese/

 

Autistic Inertia

https://sachendenker.ch/der-alltaegliche-stop-and-go-kampf-autistische-traegheit-autistic-inertia/