Vielleicht magst du diesen oder jenen Abschnitt lesen. Das entscheidest du ganz alleine. Falls es dazu kommt, wünsche ich dir auf jeden Fall viel Vergnügen dabei.
Neurodiversität – normal ist passé
Jedes Gehirn ist einzigartig – in der gleichen Weise, wie es dein Fingerabdruck ist. Und noch interessanter, so Peter Vermeulen, sozusagen jeder Mensch hat in seinem Neuroprofil mindestens eine Anomalie. Das heisst, alle sind mindestens in etwas, was das Gehirn in der Regel kann, total überfordert und somit richtig schlecht darin. Ich vermute, bei mir könnte das die Orientierung in grossen öffentlichen Gebäuden sein. Als ich mit 17 für 3 Monate ins Spital schnuppern ging und jeweils im Keller dieses riesigen Komplexes etwas holen musste, war ich heillos überfordert, den Rückweg, der ja genau umgekehrt ist, wieder zu finden. Aber scheinbar kann “man” das. Sollte es aber tatsächlich Menschen geben, die alles gut können, so sind das auf jeden Fall die Ausnahmen.
Neurotypisch, also Menschen mit einem normalen Gehirn, gibt es demnach im Prinzip nicht und doch sprechen alle davon. Auch dein Vater, deine Grossmutter – ja, auch die Lehrerin und dein Kumpel: ganz normal sind sie nicht. Was aber im Gegensatz zu neurotypisch ganz klar existiert, ist Neurodiversität. Und heute schreibe ich über einen kleinen Teil dieser Neurodiversität, und zwar dem Pathological Demand Avoidance-Profil bei Autismus oder kurz: PDA.
PDA – was bedeuten diese drei Buchstaben!?
Hier in der Schweiz gibt es im Moment keine offizielle PDA-Diagnose. Interessierte Psycholog*innen wissen aber auch hier, um was es sich dabei handelt und erkennen den allfällig vorhandenen PDA-Anteil in deinem Autismus. Wichtig ist vor allem, dass du verstanden wirst – auch von dir selbst. Darum ist das alles eben doch nicht ganz unwesentlich.
“Pathological Demand Avoidance” bedeutet übersetzt ungefähr: krankhaftes Vermeiden von Anforderungen. Das ist nicht sehr nett formuliert, da es quasi behauptet, Selbstschutz sei falsch. Gewisse nennen PDA darum “Persistent Drive for Autonomy“, was hartnäckiges Angetriebensein nach Selbständigkeit” bedeutet. Mir gefällt auch die Bezeichnung, dass es sich hierbei um “sehr drucksensible Autist*innen” handelt – oder einen Tick ausführlicher noch mit dem Bedürfnis im Visier:
“Die einfachste Art PDA zu beschreiben ist, dass es ein Angst getriebenes Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbestimmung ist.” Laura Kerbey (S. 21)
Die Wippe: Angst und Anforderungen als Gegenspieler
Vielleicht hast du auch schon Feedbacks in der Art bekommen:
- Dass es schwierig ist, weil du alle und alles kontrollieren willst.
- Dass es kompliziert wird, weil du vor allem das machst, was du willst.
Aber darum geht es eigentlich nicht, auch wenn das der klar sichtbare Teil ist. Das grosse Thema ist zwar auch nicht ganz unsichtbar, aber viel diffuser zu erkennen. Es ist deine Angst.
Laura Kerby erklärt das anhand einer Wippe. Auf der einen Seite sitzt die Anforderung, auf der anderen die Angst. Je mehr Forderungen, Ansprüche, Wünsche, Erwartungen, Hoffnungen etc. auf einem treffen, desto schwerer wird diese Seite der Wippe und schleudert auf dem anderen Sitz somit quasi die Angst hoch. Es geht also nicht hauptsächlich um die Sache an sich, die erwartet wird, sondern um die Tatsache, dass etwas von einem abverlangt wird. Oder in anderen Worten: je mehr Druck durch Forderungen, desto grösser die Angst. Angst kann blockieren und um noch einen Rest Selbstkontrolle zu behalten, wird dann verweigert und/oder die Umgebung zu kontrollieren versucht.
“Je ängstlicher du bist, desto schwieriger ist es, Forderungen zu tolerieren und je weniger Angst du hast, umso einfacher gehst du mit Forderungen um.” Laura Kerbey (S. 22)
Laura Kerbey zeigt uns gleich die Lösung auf. Du solltest möglichst viel Vertrauen in deine Umgebung bekommen und somit entspannt bleiben. Dann, also entspannt, geht es dir gut – sogar mit gestellten Anforderungen. Das ist natürlich sehr, sehr schwierig in einer Welt voller Druck und Stress und ohne dem Bewusstsein deiner Umgebung, was man tatsächlich alles muss. (Einblick in die Demand-Factory folgt anschliessend.)
Darum notiere ich dir hier ein Werkzeug gegen Angst, das du wirklich immer mit dabei hast:
“Schlürfatmen ist toll. Und auch ganz einfach. Du musst nur deine Lippen spitzen, so als ob sie einen Strohhalm umschliessen würden. Und nun atme durch diesen Strohhalm die Luft tief ein, langsam und genussvoll, mindestens sechsmal hintereinander.“ Dr. med. Claudia Croos-Müller (S. 16, Kopf hoch)
Das Gehirn lässt sich nämlich austricksen. Der wohldosierte Atemstrom signalisiert ihm, dass es vertrauen kann. Entspannung wird spürbar.
Das klappt bei mir:
Natürlich ist diese Atemübung gegen die Angst nicht die Lösung und lediglich ein Puzzleteil – in einem 1000er Puzzle vielleicht.
Einblick in die Demand-Factory
Wie wissen nun ja bereits, was der Auslöser deiner Angst ist, und zwar dieses Müssen. Wenn man sich einmal bewusst wird, wo überall ein Müssen alias Forderungen, Erwartungen und Wünsche versteckt ist, erschrickt man. Es wird also schier durchgehend ziemlich viel von einem abverlangt – ob nun ausgesprochen oder still. Manchmal reicht auch ein Augenrollen oder zu langer Blick, tiefer Atemzug oder gar Stille, denn auch das können Zeichen Erwartungen anderer sein. Und du nimmst die natürlich hoch empfindsam wahr! Letztlich kann es soweit gehen, dass sogar der eigene Druck des Körpers – wie Hunger – Angst verursachen kann, durch innere Fremdbestimmung quasi. Zum Glück gibt es Safe Food, der immer geht. Und Selbstverständlich, gibt es noch weiteren Druck von innen: Müdigkeit, zur Toilette müssen, du hast kalt oder heiss etc.
Überlege dir einmal, was du kurz nach dem Aufstehen bereits alles erledigen musst. Vielleicht in der Art?
- Der Wecker klingelt
- Abstellen
- Aufstehen
- WC
- Duschen
- Abtrocknen
- Deo
- Kleider parat machen
- Anziehen
- Handy suchen
- …
Ja, das Leben ist eine Fabrik, die permanent neue Anforderungen produziert: Demand-Factory, nennt es Amanda Diekman so treffend. Rasch sind im Minimum 10 Anforderungen durch und der Tag hat noch nicht einmal richtig begonnen.
Fifty Shades of Nein!
Es wäre doch zu einfach, wenn auf eine Bitte hin einfach mit einem Nein geantwortet würde. Verweigern kann man auf ganz viele Arten – oder anders gesagt, Selbstschutz tritt in ganz unterschiedliche Formen auf und PDAers sind darin richtig genial:
- Ablenken
- Prokrastinieren (aufschieben) – “gleich” oder “später”
- Ausreden erfinden
- Streiten
- Verhandeln
- Ignorieren
- …
Manchmal sogar so:
- Krank vorgeben
Auch das wird als eines dieser vielen Neins erwähnt. Aber kann es denn nicht sein, dass sich für ein*e Autist*in mit PDA-Profil Stress vielleicht wie Bauchschmerzen oder Migräne anfühlt? Darum eher ein Jein… (vgl. Nicole Chou, 9:15 – 10:08)
Es wird noch komplizierter: Manchmal bist du es selbst, der den eigenen Erwartungen nicht gerecht werden kann, sogar Tätigkeiten, die dir Freude bereiten würden, sind im falschen Moment – und vielleicht auch für länger – nur Druck. So ist die sehnsüchtig erwartete Festplatte auch nach einem Jahr noch im Karton neben deinem Computer oder du kannst aus deinem Perfektionismus heraus nicht gegen deinen Vater Mecabellum spielen. Dabei wäre beides so cool! Es gibt also sogar ein, nennen wir es:
- Glücks-Nein
Auch das zeigt sich natürlich nicht unbedingt als ein Nein – eher als “später” (Prokrastination) oder “ich brauche dafür noch etwas, das aktuell fehlt” (Ausrede erfinden) oder… Ich erwähne dieses Verhalten darum speziell, weil es eines so schön aufzeigt:
Es geht eben nicht darum, was Druck macht, sondern dass etwas Druck macht.
Manchmal wird dir durch deine “Fifty Shades of Nein” vielleicht Manipulation unterstellt, also dass du einfach nur nicht willst – du könntest aber sehr wohl! Dann muss auf jeden Fall kurz inne gehalten werden und überlegt, ob es sich dabei wirklich um eine echte Lüge handelt oder sich halt einfach nur um eine sehr verständliche Reaktion auf zu viel Stress dreht und lediglich in Form einer Lüge daherkommt. Auch du kannst das bei Gelegenheit gerne einmal überdenken. Wenn du es herausgefunden hast, gelingt es dir bei zuviel Müssen vielleicht mit einem Satz in der Art zu reagieren:
- Ich habe ‘keine Löffel’ mehr dafür. (Achtung: die Löffel-Theorie kommt noch.)
Die Amygdala – deine Superkraft. Allerdings mit einem Problem
Wenn du trotz deines Neins (egal in welcher Form) nicht gehört wirst und der Druck steigt, dann wächst auch die Angst in dir. Für Aussenstehende ist weit und breit keine Gefahr in Sicht, aber deine Amygdala schlägt nun Alarm. Als Angst kämpft dieser kleine Teil des Gehirns, der sich, wie gerade erwähnt, Amygdala nennt, immer für dich, will dich vor Gefahr beschützen und ist eigentlich eine Superkraft – mit einem kleinen Problem: Sie funktioniert ab und zu wie ein Rauchmelder. Manchmal schlägt sie Alarm und es ist doch nur der Toast leicht dunkel geworden. Aber eigentlich sollte der Alarm erst bei einem Wohnungsbrand losgehen. Und genau so ist es bei PDA – du bist eigentlich dauernd oder zumindest viel zu schnell in Alarmbereitschaft. Es reicht oft schon, dass dir dein Gegenüber nett sagt, was du tun sollst, und er geht los – der Alarm der Amygdala.
Es gibt verschiedene Arten, wie dein Gehirn bei bereits zu viel Stress auf erneuten Kontrollverlust reagieren kann. Das sind die drei bekanntesten mit einer möglichen Reaktion darauf:
- Fight (Kampf): “Spinnst du!? Ich muss gar nichts. Mach‘ deinen Scheiss selber!”
- Flight (Flucht): Du ziehst deine Schuhe an und willst davonlaufen – einfach nur noch weg…
- Freeze (erstarren): Du sitzt auf deinem Bett wie versteinert und machst gar nichts. Einfach nichts. Nicht einmal antworten kannst du.
Vielleicht denkst du dasselbe wie ich. Der Leidensdruck ist gross. Ein*e PDA-affine Psycholog*in wäre sicher eine grosse Hilfe! Auch, um deinem Drumherum zu übersetzen, dass hinter deinem Verhalten nicht Böswilligkeit steckt – sondern Angst. Vielleicht brauchen aber auch deine Eltern Schutz, damit ihnen nicht mangelnde Erziehungsfähigkeit angelastet wird. Es ist kompliziert.
Das autistische Gehirn: Sicherheit durch Selbstkontrolle
Laut Peter Vermeulen und der Theorie des prädikativen Gehirns (predictive Coding), findet es das autistische Gehirn schwierig vorherzusagen, was gleich kommen wird. Es gibt extrem viele Variationen ähnlicher Situationen und somit ist das autistische Gehirn oftmals überrascht, wenn es das nicht sein sollte oder eben nicht überrascht, wenn es überrascht sein sollte. Das Leben mit einem autistischen Gehirn ist dadurch kompliziert und kann ziemlich verunsichern, da es kaum zweimal exakt dieselbe Situation gibt.
Nicht-autistische Menschen lösen das alles ohne zu überlegen wie von Zauberhand (intuitiv) – ihr Gehirn ist von Natur aus ein ziemlich gutes Vorhersageorgan.
Ich verstehe nun plötzlich, warum Autist*innen mit PDA-Profil verweigern – selber zu entscheiden wird enorm wichtig, wenn die Welt so unvorhersehbar scheint. Es geht um Selbstkontrolle als Sicherheit. Und PDA ist ja, so Laura Kerbey (vgl. S. 21), ein Angst getriebenes Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbestimmung.
Sich rasch abgelehnt fühlen (alias Rejection Sensitivity)
Du ahnst es sicher bereits: Autist*innen mit PDA-Profil sind hoch empfindsam und nehmen wirklich jede Stimmung wahr – auch, ob der Stimmklang des Gegenübers leicht genervt klingt. Zudem wird jedes schwere Einatmen sowieso registriert und allenfalls gar kommentiert. Und genau so empfindsam sind sie auch, wenn Kritik direkt an ihnen geäussert wird.
Um es vorweg zu nehmen – das macht stammesgeschichtlich alles absolut Sinn. In der Gruppe war/ist man stärker. Die Tatsache, dass man sich verletzt und/oder wütend fühlt, wenn einem gesagt wird, was man alles falsch macht, hilft, sich der Gruppe anzupassen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Das wiederum ist extrem wichtig – überlebenswichtig gar, um in der Wildnis mit Raubtieren und kriegerischen Handlungen anderer Stämme etc. zu überleben. Dieses Überbleibsel “Kritik verletzt und sofort wird angepasst” kann bei Autist*innen mit PDA-Profil so stark sein, dass sie schier handlungsunfähig werden. Manchmal wird sogar eine Tätigkeit oder Aussage anderer als Kritik empfunden, wo es gar keine gibt. Das heisst, die eigene Wahrnehmung kann einen täuschen und so quasi Beziehungen torpedieren.
Aber egal, ob das nun eine echte Kritik ist, nur der eigene Perfektionismus oder eine eingebildete, es gibt ein paar Sätze oder Fragen, die vielleicht helfen, mit der gefühlten Ablehnung klar zu kommen:
- Ich bin mit dieser extremen Ablehnungempfindsamkeit nicht alleine – auch andere haben das.
- Ist diese Kritik in einem Jahr noch wichtig?
- Ich habe schon viele schwierige Situationen überstanden.
- Man weiss nie genau, was andere denken.
- Womit kann ich mich ablenken?
…………………………..
Und nicht vergessen, gewisse Studien belegen auch, dass Methylphenidat (z.B. Ritalin) helfen soll. Auch das könnte man mit dem Hausarzt einmal besprechen.
Alle sind gleich – Hierarchien adee
Eine kurze wahre Geschichte zu Beginn:
Mein Teenager hat mir in den letzten drei Auseinandersetzungen gesagt: “Und sowieso – ich bin wertvoller als du! Darum bestimme ich.” Zweimal war ich nicht wirklich erfreut. Aber beim dritten Mal fand ich schliesslich, dass ich nun verstehen will, was das soll. Denn es sei doch klar, dass wir alle wertvoll sind! Da erklärte er mir, dass in der Schule die Lehrpersonen wertvoller seien und bestimmen. Jetzt sei er wertvoller.
Ich weiss, dass autistische Jugendliche mit PDA-Profil flache Hierarchien leben. Stephen Callum schrieb mal auf X, dass er Respekt vor jemandem habe, wenn er diese Person um ihre Leistung bewundere, nie aber, weil sie einfach ein Chef sei. Das heisst, dass viele Autist*innen auf einer ziemlich krassen Ebene leben, dass alle gleich sind. Und darum nervt es meinen Sohn wahnsinnig, wenn eine Lehrperson einmal auf das Handy schaut, während sie es abgeben müssen. Das signalisiert ihm scheinbar, dass sein Wert als Mensch weniger hoch ist.
Ich finde dieses Denken eigentlich sehr schön. Gleichzeitig sehe ich eine grosse Gefahr darin. Unser System funktioniert mit Chefs, die als Autorität höher gestellt sind und andere Rechte und Pflichten haben. Das kann man gut oder schlecht finden, aber noch ist das sehr verankert in unserem System und man macht sich keinen Gefallen, wenn man das offensichtlich ignoriert.
Darum mein Tipp: Sobald ihr den Menschen vertraut, fragt in einem angenehmen Tonfall interessiert nach, warum das so und nicht anders gehandhabt wird.
- Warum darf eine Lehrperson ans Handy und wir Schüler*innen nicht?
- Warum darf eine Lehrperson zu spät kommen und es ist völlig okay?
- Warum kann der Schulleiter schräg auf dem Stuhl sitzen im Esssaal – wir aber nicht?
Ein kleines offensichtliches Beispiel zur Veranschaulichung:
Gleichwertig heisst nicht zwangsläufig gleichberechtigt. Ich fahre mit meinem Peugeot als Fahrerin und meine Kinder U18 dürfen das zum Glück nur als Beifahrer. (Es gab aber auch zu tun mit Nothelfer, Fahrstunden etc.) Und selbstverständlich sind meine Kinder deswegen nicht weniger wert und ich auch nicht mehr.
Du bist auch eine Spoonie: die Sache mit den Löffeln
In der Autist*innen Community wird oft geschrieben: “Ich habe keine Löffel mehr.” Das bedeutet nicht, dass die Besteckschublade ausgeraubt wurde. Nein, jeder Löffel steht für eine Portion Energie. Das Problem ist lediglich, dass man pro Tag nur 12 Löffel (Energie) zur Verfügung hat, wie bei einem Game. Sind die aufgebracht, ist Game Over. Dann ertragen jugendliche Autist*innen mit PDA-Profil keine einzige Aufforderung mehr. Darum ist es so wichtig, dass man mit seiner Tagesenergie haushalten lernt. Oder in anderen Worten: teile die Löffel gut ein und plane die Tage danach.
Fuchskind zum Beispiel, ihr kennt sie bestimmt, twitterte mal, dass sie einen guten Tag hatte und sowohl einkaufen als auch danach noch Essen kochen vermochte. In der Regel reichen “ihre Löffel” nur für eines von beiden. Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie sorgsam sie ihr Energielevel beobachten muss. Respektive an einem schlechten Tag wäre sie nach dem Einkaufen den 12 Löffeln schon nahe gewesen und: Game Over für diesen Tag.
Die gute Nachricht ist, man kann auch Energie tanken und neue Löffel ergattern. Zum Beispiel so:
- 15 min Geometrie Dash
- Kurzer Spaziergang
- Mit der Katze spielen
- Bananenmilch mixen
- 30 min YouTube schauen
- Zauberwürfel
- Schaumbad
- …
Und wenn man sich selbst gut kennt:
“Ich habe gelernt, das Leben mit einem zusätzlichen Löffel in meiner Tasche zu leben, als Reserve. Man muss immer vorbereitet sein.” Christine Miserandino (Erfinderin dieser Theorie. Sie hat Lupus.)
Auch das ist natürlich nicht wörtlich zu verstehen. Christine Miserandino schaut, dass sie nach Möglichkeit nie bis an ihre Grenzen geht. Das finde ich sehr erstrebenswert. Zudem könnte sie so auch noch eine unvorhergesehene Situation überstehen, die ihr Löffel klaut.
Und wir wissen ja: ohne Löffel ertragen autistische Jugendliche mit PDA-Profil keine einzige Aufforderung mehr. Darum ist dieser bewusste Umgang mit seiner Tagesenergie ja auch so wichtig – als Mittel gegen die Angst vor Kontrollverlust und letztlich als Schutz vor einem Zusammenbruch.
Streicht aber bitte nicht Demands, die eure Gesundheit betreffen, wie z.B. die Zähne putzen, duschen, Toilettengang, Fingernägel schneiden… Plant clever! Ich beispielsweise hatte mit noch kleinen Kids immer Chicken Nuggets, Pommes und Ketchup vorrätig, falls ich mal zu erschöpft bin für mehr. Das hat – hoffentlich – niemandem geschadet und mich gleichzeitig sehr, sehr entlastet. Genau so geht das nämlich.
Freundschaften und die Suche nach Kontrolle
“Auch wenn der Drang nach Autonomie gross ist – der Wunsch nach Verbundenheit und Angenommensein ist höher.“ Kerstin Lang (Instagram)
Autistische Jugendliche mit PDA-Profil brauchen also Menschen um sich, um glücklich zu sein. Das Problem anderer Menschen ist, dass sie unkontrollierbar sind und aus diesem Grund eine Über-Forderung.
Ich glaube, es ist darum besonders wichtig für dich, dass du den Unterschied zwischen ‘Kontrolle’ und ‘eigene Bedürfnisse mitteilen’ kennst. Andere Menschen lassen sich ungern kontrollieren. Darum ist dies eine total falsche Richtung, um Freundschaften zu pflegen, auch wenn es dir vielleicht Sicherheit und Selbstwirksamkeit gibt. Ich verstehe das absolut. Ein besserer Weg, der aber nicht ganz einfach ist, ist sich zu outen. Vielleicht passt für dich einer dieser Sätze?
- Ich fühle mich unsicher, wenn ich nicht weiss, was abgeht.
- Es geht mir besser, wenn ich bestimmen oder mitbestimmen kann.
- Wenn ich zu sehr alles aussuche, was sein muss und dir das nicht passt, bitte erinnere mich daran. Codewort: …………… . (Robert de Niros ‘Bisamratte’ ist wohl das bekannteste Codewort.)
- Manchmal bin ich plötzlich erschöpft und will nach Hause. Das hat nichts mit dir zu tun. Ich habe dann ‘keine Löffel’ mehr.
- Ich fühle mich von Aussagen, Blicken, Ausatmer etc. schnell angegriffen. Ist es okay, wenn ich dann rasch nachfrage, was abgeht?
- …
Viel bunter! Sexualität und Geschlecht
Dies ist kein Thema, in dem ich mich wirklich auskenne. Darum spicke ich ‘bei’ Hajo Seng und versuche, seine wirklich tollen Gedanken weiterzugeben. Ich glaube, das wird mir schon nicht übel genommen, weder von Hajo Seng noch von euch.
Bis anhin wurde ganz wenig über Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung von Autist*innen geforscht. Dass dies aber viel bunter ist, ist offensichtlich! Wichtig ist, dass du dich so oder so von den verbreiteten Ideen löst. Warum? Andere dürfen nicht bestimmen, wie du zu fühlen und zu leben hast. Da die Umwelt und der eigene Körper als Autist*in ganz anders wahrgenommen werden, hat das ganz klar auch Auswirkungen darauf, wie man sich selbst sieht und sein Leben lebt. Genau darum: Auch wenn es nicht ganz einfach ist, versuche nach und nach herausfinden, wer du bist.
“Wieder, als PDAer ist Authentizität möglicherweise sehr wichtig für dich. Also nimm dir Zeit, besprich dies mit Leuten, bei denen du dich sicher fühlst und mache deine eigene Forschung.” Laura Kerbey (S. 82)
Ein paar richtig schöne Gedanken zum Thema Sexualität (vgl. Hajo Seng, S. 63):
- Sexualität ist Ausdruck für bestimmte Körperempfindungen
- Sexualität ist Ausdruck für Regulierung
- Sexualität ist ein Bedürfnis nach Intimität
- Sexualität ist der Wunsch von einem anderen Menschen verstanden zu werden
Daran würde ich mich halten und nicht an die Forschung anderer, die bisher nur an den Problemen und Abweichungen interessiert ist. (Was ich da alles lesen musste – ich verschone dich damit.) Es geht um Lebensqualität!
Aber: Schau, dass deine Sicherheit immer gewährleistet ist und sage sofort nein, wenn du ein komisches Gefühl hast. Beachte das selbstverständlich auch bei deinem Gegenüber.
Fast erwachsen
Ich glaube, es ist wahnsinnig herausfordernd als Jugendliche*r auf der Schwelle zum Erwachsensein zu stehen. Gerade als Autist*in mit PDA-Profil ist man gefühlt seit jeher eine alte Seele und dann doch wieder wahnsinnig im Moment und genau darin halt noch ziemlich jung.
„Die autistische Erfahrung, als alte Seele mit jugendlichem Auftreten wahrgenommen zu werden.“ Stephen Callum
Und das sagt ein erwachsener Autist. Für jugendliche Autist*innen darf man dies vermutlich auf der einen Seite noch ein bisschen mehr runter rechnen. Alt und jung in einem Teenager gleichzeitig. Das hat die Natur wirklich schlecht eingerichtet. Einerseits möchte man unbedingt selbständig werden und unabhängig sein, gleichzeitig kommt einem dieser kleine junge Teil dafür in die Quere.
- Alte Seele: Sich im Klassenrat für den Jugendlichen einsetzen, der eine Sprachstörung hat und manchmal von einigen nachgeäfft wird.
- Jung und im Moment: Die Kommunikation/Interaktion zu den Eltern total verweigern: “Ich spreche nicht mit euch!” “Schau mich nicht an!” “La-la-la-la-la…” (So übertönen, was ein Elternteil sagt.)
Und so dauert es für manche halt viel, viel länger, bis überhaupt eine Lehrstelle oder andere gute Anschlusslösung an die Schule gefunden wird, die passt. Oft geht man dabei, damit es dir weiterhin gut geht, auch einen Kompromiss ein. Aber was ist schon wichtiger als deine psychische Gesundheit!? Das muss ich mir als Mutter auch immer wieder sagen, wenn ich an die Stärken meines Teenagers denke, die er aber nur zeigen kann, wenn er sich sicher fühlt. Und wie gerne hätte ich, die Gesellschaft wäre genau auf das mit passenden Angeboten vorbereitet. Tja…
Wie sagt man so schön? Man muss als Teenager rebellieren, bis sich die Eltern so nerven, dass man schliesslich aus dem Nest geworfen wird. Ohne das wäre es zu schmerzhaft für beide Seiten.
Genau darin liegt das Problem, wenn man merkt, dass man einerseits mehr Zeit braucht und andererseits aus dem Nest geworfen werden will. Das ist eine schwierige Abhängigkeit, die herausfordernde Situationen generiert. Ihr braucht also wirklich sehr reflektierte Eltern, die verstehen und dadurch immer wieder ein Auge zudrücken. Das wünsche ich euch allen von Herzen. Aber bitte drückt auch bei euren Eltern ab und zu mal ein Auge zu, denn die sind auch überfordert im Gedanken, euch loslassen zu müssen. Mir fällt das jedenfalls sehr schwer, gerade auch darum, weil ich das permanente Gefühl habe, ich müsse meine Kinder vor dieser Welt schützen.
Aber vielleicht muss ich mich ein bisschen von dieser Sorge lösen, denn laut Nicole Chou wird im Erwachsenenalter die Diagnose PDA oft nicht mehr gestellt, weil nicht mehr alle Kriterien dafür vollumfänglich vorhanden sind. Die Synapsen im Frontalhirn scheinen plötzlich besser mit den anderen Teilen des Gehirns verknüpft zu sein und dadurch werden auch bessere Strategien gefunden (vgl. Nicole Chou: 13:50 – 14:56).
Der Umgang mit der Demand-Factory wird also im Erwachsenenalter oft ein bisschen einfacher. Das ist doch eine erfreuliche und hoffnungsvolle Information zum Abschluss von ganz viel Info-Dumping.
Alles Gute auf deinem Weg!
Literaturliste
https://petervermeulen.be/2024/12/21/there-is-no-such-thing-as-a-neurotypical-brain/
Kerbey, L. (2024). THE TEEN’S GUIDE TO PDA. London: Jessica Kingsley
Heuer, I., Seng, H., Theunissen, G. (2025). Autismus – über vernachlässigte Themen. Beiträge aus der Innen- und Aussensicht. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag
Diekman, A. (2023). Low-Demand Parenting. Dropping Demands, Restoring Calme, and Finding Connections with your Uniquely Wired Child. London: Jessica Kingsley Publishers.
Croos-Müller, C. (2011). Kopf hoch. Das kleine Überlebensbuch. Soforthilfe bei Stress, Ärger und anderen Durchhängern. München: Kösel-Verlag
Daniela Schreiter (@Fuchskind) twitterte um 7:11 PM on Di., Sept. 22, 2020:
Wow, ich habe heute eingekauft und sogar noch die Energie gehabt, mir ein gesundes Abendessen zu kochen! Normalerweise schaffe ich nur das eine oder andere, super selten beides gleichzeitig. Hoffe mir fehlen in den nächsten Tagen die Löffel nicht an anderer Stelle… #Autismus
(https://twitter.com/Fuchskind/status/1308453889667203074?t=XEVrj_HahC8YiAgyCvv7ZQ&s=03)
Schiya (@Schiya346) hat an 5:04 PM on Mo., Jan. 13, 2025 gepostet:
Ich sieze niemanden. Was keine böse Absicht ist, für mich existiert es nur in meinem Leben nicht.
Und wenn dann seltenerweise jmd vor mir steht, den man theoretisch siezen sollte. Tja, dann dauert es ein paar „du“, bis ich es checke.
Was wohl auch daran liegt, dass ich ‚Sie‘ ganz persönlich, um einiges respektloser finde, als ‚Du‘. Bei anderen ist es andersrum.
Hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich Autoritäten nicht verstehe und nicht anerkenne.
(https://x.com/Schiya346/status/1878835567489941936?t=TAKigCKWAfjPaOWejQWrNg&s=03)
Missing The Mark (@_MissingTheMark) hat an 8:47 AM on Do., Jan. 16, 2025 gepostet:
As our children become teenagers they edge closer to the adult world.
Expectations inevitably increase.
We have less time to work with.
Less influence too.
What is going to happen?
(https://x.com/_MissingTheMark/status/1879797638163546248?t=Dp8yPiGCsB-ZNNygXxD5xw&s=03)
Schau dir „Autismus und PDA. Das Dilemma der Vermeidung. Interview mit Dr. med. Chou-Knecht und Carina Rettberg“ auf YouTube an
https://youtu.be/1XELy_Rcb9Q?si=aMlf_gLS5lc9n4tq
Callum Stephen (He/Him) (@AutisticCallum_) hat an 7:04 PM on Di., Feb. 11, 2025 gepostet:
The autistic experience of being perceived as an old soul with a youthful demeanour.
(https://x.com/AutisticCallum_