Es ist schon eine Weile her, da las ich auf Twitter einen sehr interessanten Blogbeitrag von Sue Fletcher-Watson. Für mich ist das Thema darum so fesselnd, weil ich bisher nie zufriedenstellende Erklärungen gefunden habe, wie Autismus zu sehen ist oder besser gesagt, ob es vielleicht nicht doch „ein bisschen autistisch“ gibt. Einerseits spüre ich die Wut einiger Autist*innen auf Twitter, wenn jemand von „ein bisschen autistisch“ spricht. Ihre Haltung ist klar – entweder ist man Autist*in oder eben nicht, aber keineswegs ein bisschen autistisch. Andererseits sehe ich in unseren Verwandtschaften, dass Autismus gehäuft auftritt und manchmal kommt in mir der leise Verdacht auf, dass es auch Pendler*innen zwischen beiden Welten gibt – weder wirklich autistisch, noch klar neurotypisch. Allerdings muss ich zugeben, dass sich vielleicht auch die Grenzen etwas verwischen, wenn jemand in einem ‚gemischten Umfeld‘ aufwächst – nicht nur autistisch oder allistisch, auch weitere neurodiverse Ausprägungen wie High Sensitiv oder Hochbegabung in nächster Nähe erlebt.
„Ein bisschen autistisch – ja geht das nun oder nicht?“
Um diese Frage zu beantworten, ist es nach Sue Fletcher-Watson wichtig sich mit der Frage zu beschäftigen, ob Autismus eine Dimension oder Kategorie ist.
Um das geht es nämlich.
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Kategorie
„Wenn Autismus eine Kategorie ist, bedeutet dies, dass sich autistische Menschen grundlegend von neurotypischen Menschen unterscheiden º. Vielleicht wäre eine gute Metapher Kaffee und Tee. Sie sind beide heisse Getränke, aber sie unterscheiden sich grundlegend voneinander – man kann keine so starke Tasse Tee machen, dass sie tatsächlich zu einer Tasse Kaffee wird.“ Sue Fletcher-Watson
(º= ’neurotypisch‘ darum, da aus div. Gründen schöner zu schreiben als ’nicht-autistisch‘).
Bei mir klingt hier sofort an, dass das Bewusstsein, es könnte sich bei Autismus um eine Kategorie handeln, bedeutet, dass es Unterschiede gibt, auf die verantwortungsvoll reagiert werden muss. Im Gegensatz zur Idee der Dimension, bei der man vielleicht in Versuchung gerät autistische Kinder zu neurotypischen zu erziehen – ein Milchkaffee unter einem Milchschäumer wird einem Cappuccino ähnlich, bekommen sie durch die Idee der Kategorie Schutz. Ein Kaffee ist ja nicht einfach ein falscher Tee! Und so sind auch autistische Kinder perfekt als das, was sie sind. Die autistische Kultur ist zu respektieren und auf andere Bedürfnisse verantwortungsvoll einzugehen.
Dimension
„Wenn Autismus eine Dimension ist, ähnelt die entsprechende Getränkemetapher möglicherweise eher verschiedenen Kaffeesorten. Die Zutaten sind gleich und der Unterschied ist wirklich nur der Grad, in dem jede Zutat ausgedrückt wird. Vielleicht sind autistische Menschen Milchkaffees und neurotypische Menschen Cappuccinos. Wenn Sie einer autistischen Person genügend heisse Luft hinzufügen, wird sie neurotypisch.“ Sue Fletcher-Watson
Hierhin gehört laut Sue Fletcher-Watson u.a. auch das Thema des Autismus Quotienten, denn dieser trifft eine Aussage darüber, ab welcher Punktzahl man ein Cappuccino oder Milchkaffee ist. Tatsächlich ist es so, dass Autist*innen in der Regel einen hohen Autismus Quotient erzielen, aber oftmals ihre Verwandten ebenfalls einen höheren als der Durchschnitt – ohne aber autistisch zu sein. Gleichzeitig verweigerte mein jüngerer Sohn jegliche Testung und stand schliesslich ohne einen AQ da, vielleicht gerade darum, weil er damals ein autistisches Kleinkind war, das sich nicht auf diese soziale Komponente der Testung einliess. (Eine gute Freundin erinnerte mich zudem daran, dass der Test aus unterschiedlichen Gründen auch autistisch anzeigen kann, ohne dass diese Person es ist.)
https://autismus-kultur.de/tests/autismus-tests.html
Man könnte nun annehmen, dass diese Art der Testung beweist, dass es also „fast autistisch“ gibt. Dem ist laut Sue Fletcher-Watson aber mitnichten so. Es wirft mehr die Frage auf, wie Autismus diagnostiziert werden soll. Diese Tests machen immer einen Bezug zu neurotypischen Menschen – da beide ja nur “unterschiedliche Kaffees” zu sein scheinen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch neurotypische Menschen in denselben Bereichen Sorgen haben und dadurch fälschlicherweise annehmen könnten, das sei mit autistischem Erleben gleichzusetzen – dass also jeder ein bisschen autistisch ist. Die Idee, dass beides nur unterschiedliche Kaffees sind, unterstützt den Gedanken zwar, beweist aber trotzdem nicht, dass es „ein bisschen autistisch“ tatsächlich geben soll.
Und wenn man Dimension und Kategorie kombiniert?
Genau das versucht Sue Fletcher-Watson. Sie nimmt dafür verschiedene Muster der Dimension, die angeben sollen ob eher Milchkaffee oder Cappuccino. Ich versuche es ihr ähnlich zu tun und nehme dafür die 8 autistischen Merkmale, die Theunissen jeweils in seinen Büchern erwähnt und mir besser gefallen als das, was traditionell üblich ist. (Achtung: einige genannte Schwierigkeiten betreffend dieser 8 Besonderheiten fallen weg, wenn Autist*innen unter sich sind – durch die gemeinsame Kultur.)
Das Sein von Autist*innen ist in diesen acht Bereichen ausgeprägt anders, vergleicht man sie mit neurotypischen Menschen. Neurotypische Menschen wiederum können auch da und dort auffällig sein, wie ja bereits erwähnt wurde. Aber auch wenn es vielleicht in der Dimension „Hypersensorik“ oder „Bedürfnis nach Routine“ autistisch stark ausschlägt, reicht das natürlich nicht für die Kategorie Autismus. Sue Fletcher-Watson könnte sich also vorstellen, dass die Kategorie des Autismus durch den Schnittpunkt dieser Dimensionen definiert wird. Dafür verwendet sie diesmal nicht Tee oder Kaffee – auch nicht Cappuccino oder Milchkaffee. Eine andere Metapher, die sichtbar macht: ein Kuchenrezept mit genau 8 Zutaten.
„Was wäre, wenn jede Dimension, in der wir versuchen, das Kontinuum von neurotypisch zu autistisch darzustellen, wie eine Zutat in einem Kuchen wäre? Ich könnte ein paar Eier und etwas Kakao haben. Mein Nachbar hat etwas Mehl. Mein Kollege hat Butter und Zucker. Aber keiner von uns hat alles – nur autistische Menschen haben den ganzen Kuchen. Autismus wird nicht an einer Punktzahl für dieses oder jenes Mass gemessen – oder daran, wie viele Eier oder wie viel Zucker jemand hat – Autismus erfordert das Vorhandensein des gesamten Kuchens.“ Sue Fletcher-Watson
Jede*r Autist*in braucht für den persönlichen Kuchen diese 8 Zutaten, allerdings nicht in der gleichen Menge. Jedes Rezept kreiert folglich ein Unikat.
Wenn ich nun als High Sensitiv vielleicht – denn was weiss ich schon – Eier (Hypersensorik) für einen autistischen Kuchen hätte und unter Umständen auch das Schokoladenpulver (Bedürfnis nach Routine), so gibt das noch immer keinen Kuchen. Es braucht alle Zutaten, damit es auch ein vollkommenes Resultat wird. Nur dann spricht man von Kuchen – oder eben Autismus, der ja mit dieser Metapher gemeint ist. Und natürlich ist es möglich, dass Eltern autistischer Kinder auch einige Zutaten intus haben, vielleicht gar einige mehr als die Normalbevölkerung, aber auch so wird – trotzdem – nichts mit einem leckeren Kuchen.
Ob man genug Eier und Schokoladenpulver als „ein bisschen autistisch“ betiteln darf? Ich kann nachvollziehen, dass Leidensdruck nach einer Bezeichnung sucht, wenn es die Dimension tangiert. Ich denke dabei an Eltern, deren Kind es nicht einfach hat, vielleicht in der Schule auffällt, geplagt wird, abends den Schlaf nicht findet und die eine Erklärung suchen, auch wenn es letztlich mit der Kategorie Autismus nichts zu tun hat. Natürlich verstehe ich die Autist*innen, die Mühe mit “ein bisschen autistisch” haben. Eier und Schokoladenpulver gemischt erinnern ja noch in keinster Weise an einen Kuchen. Aber man kann daraus ein Schoko Rührei kochen. “Ein bisschen autistisch” ist sicher kein guter Ausdruck für ein Schoko Rührei, da es etwas ganz anderes als eben ein Kuchen ist.
Fazit von Sue Fletcher-Watson:
„Es ist ein Muster von Dimensionen, die eine Kategorie von Autismus erzeugen.“ Sue Fletcher Watson
Und zu dem Muster gehören nun mal alle 8 Merkmale – nicht nur zwei. Ein bisschen Autismus ist kein Autismus. Werden nur zwei Bereiche der Dimension tangiert, ist es vielleicht High Sensitiv oder Hochbegabung oder etwas, das sich vielleicht nur beschreiben lässt erstmals – aber nicht Autismus. Und findet eine neurotypische Person tatsächlich, sie erfülle doch alle 8 Merkmale und nimmt daraus resultierend an, jeder sei doch ein bisschen autistisch, so sollte sie den Autist*innen in ihren Erfahrungen unbedingt zuhören und sich dann nochmals reflektieren. Dasselbe zu kennen, wie zum Beispiel Handtrockner nicht mögen, bedeutet nach Sue Fletcher-Watson nicht, dass das, was erlebt wird, der autistischen Erfahrung wirklich ähnlich ist.
Ich verstehe nun, warum „ein bisschen autistisch“ bei einigen Autist*innen hohe Wellen schlägt – gerade darum auch, weil subtil mitschwingt, dass man nur einen Milchschäumer braucht, damit aus einem Milchkaffee ein Cappuccino wird. Und genau gegen diesen Missbrauch kämpft die Community ja vehement.
Danke
Und natürlich gelingt es Sue Fletcher-Watson mit Bravour das Thema Kategorie oder Dimension betreffend Autismus sensibel und ausführlich zu beschreiben, sodass ich allen ans Herz lege, ihren Artikel – das mich inspirierende Original – unbedingt zu lesen:
http://dart.ed.ac.uk/autism-category-or-dimension/#.XushoerMoNU.twitter
Ein grosses Dankeschön an Sue Fletcher-Watson, die auf meine Frage hin, ob ich über ihren Artikel schreiben darf, antwortet: „Yes of course – glad the blog was interesting to you.“
😊
Literaturliste
http://dart.ed.ac.uk/autism-category-or-dimension/#.XushoerMoNU.twitter
https://autismus-kultur.de/autismus/autistische-zuege-erkennen-definition-und-merkmale.html
Isn’t everyone a little bit autistic?
Autism spectrum as a pie chart:
AutisticPB #KindnessMatters 💙 (@AutisticPb) twitterte um 9:55 PM on Di., Feb. 09, 2021:
I really do like this visual representation of the # So simplistic and easier to understand. #ActuallyAutistic https://t.co/LPYxxvXiq9
(https://twitter.com/AutisticPb/status/1359244445774999555?s=03)
Theunissen, G. (2018). 2. Auflage. Autismus und herausforderndes Verhalten. Praxisleitfaden Positive Verhaltensunterstützung. Freiburg im Breisgau: Lambertus. (S. 52)
Theunissen, G. (2014). Menschen im Autismus-Spektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer. (S. 31)
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/02667363.2019.1571481#.YDTbKj1zur4.twitter
Die acht (respektive sieben plus eins) autistischen Merkmale (vgl. Theunissen ‚Menschen im Autismus-Spektrum‘ S. 31 und Theunissen ‚herausforderndes Verhalten‘ S. 52):
- Unterschiedliche sensorische Erfahrungen
- Unübliches Lernverhalten und Problemlösungsverhalten
- Fokussiertes Denken und ausgeprägte Interessen in speziellen Bereichen
- Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster
- Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung
- Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird
- Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren
- Emotionale Besonderheiten
AQ muss dringendst überarbeitet werden
Sue Fletcher-Watson (@SueReviews) twitterte um 11:34 PM on Sa., März 06, 2021:
Very helpful thread.
One thing I would love to do is co-create a new alternative to the AQ which would be:
1. Generated by autistic people
2. Set up so that a person could complete it once and then choose to share a secure copy of their scores with any new research team
(https://twitter.com/
Hallo,
Als Mutter hochbegabter autistischer Mädchen finde ich den Text schwierig. Sie ließen sich nicht durch Standart-Tests diagnostizieren und niemand Außenstehendens, der nicht in der Materie ist, würde an Autismus denken. Offensichtlich ist, dass sie mit beginnender Pubertät begannen mit ihren Kräften nicht mehr durch den Alltag zu kommen.
Im Internet gibt es nahezu nichts zu autistischen Mädchen, daher brauchte ich eine Weile zu Verstehen, dass meine hochempfindsamen Kinder autistisch sind. Jetzt bin ich dankbar für die Diagnose.
Liebe Grüße
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