Neurodiverse Kommunikation 

Warum?

Vielleicht  bist du hier und liest das, weil du in einer Bibliothek arbeitest und deine Kollegin, die selber vermutet, dass sie Autistin ist, durch ihre Ehrlichkeit im Team andauernd aneckt und trotzdem – alle Besucher lieben gerade sie, weil niemand sich sonst fachlich so gut auskennt und oft das treffende Buch empfiehlt. Oder du fährst Schulbus und nimmst alle Kinder sehr Ernst und suchst Kontakt im Gespräch und findest den auch – meistens. Bei einem autistischen Jungen klappt das so nicht. Er flippt schon aus, wenn du ihn zur Begrüssung anschaust und freundlich hallo sagst. Möglicherweise bist du aber auch Logopädin. Kaum willst du das Thema sachte etwas lenken, findet dein autistisches Therapiekind aber: „Das darfst du nicht!“

 

Autist*innen sind also im Alltag präsent – in der Bibliothek, im Schulbus, in der Logopädie – aber auch in der Schulklasse, Nachbarschaft, bei der Arbeit  und wir kommen miteinander ins Gespräch. 

 

Darum!

Scheint es dir auch so, dass alle Fragezeichen, die du zum Thema Autismus hast, irgendwie aus einem Misfit in der gegenseitigen Kommunikation resultieren? Richtig – würde Damian Milton nun behaupten, der genau darüber geforscht hat. Ich sehe das auch so. Dann bist du also prädestiniert dafür ein Experiment zu wagen – es heisst ’neurodiverse Kommunikation‘ und ist ganz einfach, wenn man auch will. Kaiser-Mantel (2017) fasst mein Verständnis von neurodiverser Kommunikation in drei Worten zusammen:

 

„Rede klar, rar und wahr.“

 

Es sind also drei Worte, die durch Verständnis und Entgegenkommt den Alltag von Menschen im Autismus-Spektrum erleichtern und somit zu mehr Lebensqualität führen. Natürlich wäre es zu einfach nun anzunehmen, dass jeder Mensch im Autismus-Spektrum genau dasselbe braucht. Diesbezüglich muss man auch in neurodiverser Kommunikation Fingerspitzengefühl beweisen. Gewisse Punkte mögen vielleicht universell gültig sein, aber alle sind das wohl kaum. Will jemand aus unterschiedlichen Gründen lieber zuhören, dann sollte man ihn nicht dauernd, nett gemeint zwar, auffordern sich zu äussern, während jemand anders wiederum genau das zur Teilhabe an einem Gespräch braucht – es von sich aus nicht schafft den Moment zu erwischen, an welchem man für einen Beitrag an der Reihe ist. Manche Autist*innen reagieren auch auf gewisse Worte oder Themen stark emotional – durch Stress, andere sind diesbezüglich wiederum völlig entspannt etc. Ich vermute, dass das Bedürfnis, sich über neurodiverse Kommunikation schlau zu machen, auch erst dann zutage tritt, wenn man im Alltag merkt, dass eine Dysbalance entstanden ist. Folglich kennt man den Menschen schon ein wenig und kann so individuell Schwerpunkte für sich setzen. Erst durch etwas Training mit neurodiverser Kommunikation, muss es dann gar nicht mehr (so häufig) zu einer Dysbalance kommen. Das wäre dann eben die Lebensqualität, die ich Menschen im Autismus-Spektrum gerne zugestehen würde.  

 

Wie?

 

Rede klar

 

Gut verständliche Aussprache

Darunter verstehe ich einerseits ein klare, nicht übertriebene Artikulation, andererseits auch,  dass keine hippen Weglassungen von Wortteilen gemacht werden. Also nicht ‚Tach‘ für ‚guten Tag‘ u.s.w.

 

Nicht zu schnell

Wir sind nicht alle Eminem oder Mister S. und sprechen auch schnell noch so perfekt.

Oft erschwert Geschwindigkeit die Verständlichkeit. Es braucht Zeit, um den Inhalt zu verarbeiten.  Darum – nicht zu schnell sprechen.

 

Pausen sind wichtig 

Gerade in der neurodiversen Kommunikation sind Pausen enorm wichtig. Sie helfen sich dem Inhalt zuzuwenden und eigene Gedanken dazu machen zu können.

 

Warten können

In dieser schnelllebigen Zeit ist es schon  fast eine aussergewöhnliche Kompetenz,  wenn man eine Antwort, die nicht postwendend kommt, noch erwartet. Überall liest man, dass man 10 Sekunden warten muss. Das finde ich eine praktisch durchzuführende Wartezeit. Ich muss aber dazu sagen, dass Antworten manchmal auch erst einen Halbtag später kommen können. Natürlich  muss man nicht so lange warten, aber es unterstreicht, wie wichtig es ist, dass Autist*innen Zeit für  ihre Überlegungen bekommen.

 

Direkt ansprechen 

Mit ‚man könnte vielleicht‘ kommt man nicht zum Ziel. Kunststück – mit ‚jemand‘ oder ‚alle‘ oder, ‚ihr‘ etc. fühlt man sich ja auch nicht wirklich angesprochen. Bei kleinen Kindern ist der Vorname  eine gute und direkte Lösung, etwas älter dann du (oder sie).

 

In Gespräche in Gruppen miteinbeziehen

Manchmal fällt es Menschen im Autismus-Spektrum nicht leicht sich einzubringen und sie agieren mehr als Zuschauer und beobachten, was da alles ab geht. Natürlich wollen auch sie in der Regel nicht einfach Zuschauer*innen bleiben – bezieht sie also mit ein: „Wie siehst du das?“

 

Gesprächsrahmen transparent machen: Beginn, Themenwechsel und Ende

Es ist für viele Autist*innen hilfreich, wenn der Start eines Gespräches, ein Thema oder Themenwechsel vielleicht sogar, aber auch das Ende einer Gesprächsrunde in dem Stil transparent gemacht werden: „Dann hätten wir also alles besprochen.“ 

 

Klarheit durch Bilder oder Text 

Manchmal sind gewisse Anweisungen im Gespräch so wichtig für danach, dass unbedingt alles exakt verstanden werden muss. Bilder oder Text schenken Zeit und sind nicht so schnell weg wie Sprachlaute. Darum kommunizieren wohl manche Autist*innen auch lieber per E-Mail, WhatsApp, soziale Medien, Chat etc. als das direkte Gespräch oder ein Anruf per Telefon gar. Ich zeichne darum sehr gerne mal auf, was gemeint ist.

 

Personalpronomen absichern

„Sie zeigt sie ihr und weiss, auch sie fühlt sich dabei überfordert.“ 

Wer ist das erste sie und wer wohl das zweite? Dasselbe Pronomen steht für  ganz unterschiedliche Menschen. Das kann überfordern. Der Bezug muss darum klar sein – die Referenz immer wieder abgesichert. Dies muss bei neurodiverser Kommunikation beachtet werden und der Sprachstil so angepasst, dass es klar ist. Also nicht zu viele Male das Personalpronomen verwenden – auch wieder mal den Namen oder die Bezeichnung der Person.

 

Kommunikationshilfen nutzen

Das erste, was unsere Logopädin meinem jüngeren Sohn beibrachte, der mit kurz nach seinem dritten Geburtstag für eine längere Phase nicht mehr verbal kommunizierte, war die Gebärde von „nein“. Ein wichtiges Wort, das immer Ernst genommen werden muss. 

Natürlich gibt es noch weitere Methoden, Konzepte oder Angebote für sprachliche oder nicht-sprachliche Kommunikation: PECS (mehr Trainingsinstrument als für Alltagskommunikation zwar), Symbolkarten, elektronische Hilfsmittel etc. Auch Offenheit dafür ist neurodiverse Kommunikation.

 

Rede rar

 

Keine unnötigen Füllwörter

Eigentlich, quasi, im Grunde, in Wahrheit, in der Regel, zweifellos, überhaupt, keineswegs, irgendwann etc. machen alles unklarer und somit verworrener, weil sie Aussagen unterstreichen oder abschwächen. Darum sind solche subtilen Botschaften verunsichernd und nicht klärend und somit kein neurodiverser Kommunikationsstil. 

 

Aussage präzise  formulieren

Keine Geschichte rund herum erzählen – auf die Kernaussagen beschränken. Oftmals packen nicht-autistische Menschen noch etliche Informationen über sich selber mit hinein. Das darf man natürlich, wenn dies das Ziel sein soll. Auch ich mache meine Gefühle verbal transparent, aber nicht dann, wenn es sich um etwas Organisatorisches handelt. 

 

Fokus auf etwas nur respektieren 

Das Gespräch  begleitet uns ja in allen Situationen. Konzentriert auf das leckere Mittagessen, ist der verbale Austausch manchmal ersteres störend. Auch Blickkontakt sollte im Gespräch darum nicht gefordert werden, wenn es sich um den Inhalt dreht und alle Energie dafür benötigt wird. Etwas reicht also in einer Interaktion – essen oder zuhören, anschauen oder verstehen, zuhören und in Ruhe überlegen – nicht gleich antworten.  

 

Reizarme Gesprächsumgebung

Kommunikation ist bereits voller Reize und Signale und selbst da wird oft nur auf gewisse Details fokussiert. Es braucht also zusätzlich nicht noch mehr, wie zum Beispiel Backgroundmusik oder im Restaurant eine feucht-fröhliche (laut!) Gruppe am Nachbarstisch. Manchmal kann man das ja planen – vielleicht dann, wenn man das Fenster an der befahrenen Strasse dafür schliesst oder den summenden Projektor nach Gebrauch wieder abstellt.

 

Zweiersituation vor grösserer Gruppen

Der kleine Rahmen macht es einfacher sich zu beteiligen und nicht nur, überfordert von vielen Eindrücken, als Zuschauer zu fungieren. 

 

Triggerwörter vermeiden

Rar kann auch bedeuten, dass man die Person vor sich sehr gut kennen muss, um zu wissen, welche Art der Sprache auf der Gefühlsebene heftige Reaktionen auslösen kann. Bei uns sind das nicht genaue Bezeichnungen – wenn ich zum Beispielen allen Zauberwürfeln Rubik’s Cube sage. Aber auch die Endung -li (das Pendant Hochdeutsch wäre -chen) weckt ungute Gefühle,  indem man etwas kleiner macht, als es vielleicht ist. Subjektiv peinliche Worte ebenfalls – Caillou (Serie für  kleine Kinder). Eine Weile war das auch das Wort Hund, da das Tier durch lautes Gebelle Angst auslöste. Dieses Wort musste in der Kommunikation mit ihm gestrichen werden. Aber auch dann, wenn ich durch Sprache Druck provoziere/produziere, regiert mein Kind stark. Das resultiert oft in einer Gesprächsverweigerung mit den Worten: „Ich habe Kopfhörer an.“ Gewisse Worte also bedacht verwenden oder besser streichen – was natürlich höchst individuell ist.

 

Rede wahr

 

Keine Redewendungen 

‚Auf grossem Fuss leben,, ‚jemandem auf die Finger schauen‘, ‚einen Dachschaden haben‘, „einen Zahn zulegen‘ etc. – das sind alles Redewendungen. Sie sind Bestandteil eines Satzes. Redewendungen bedeuten etwas anderes, als sie wortwörtlich aussagen. Solche Verschlüsselungen sind bei neurodiverser Kommunikation zu vermeiden. Schriftlich ist es einfacher, da oftmals  Redewendungen anschliessend zur Transparenz markiert werden können (RW).

 

Keine Sprichwörter

„Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ Sprichwörter haben meist lehrhafte Aussagen. Auch diese sind im übertragenen Sinn zu verstehen. Darum sollten Sprichwörter wie Redewendungen vermieden werden. Man kann den übertragenen Sinn auch eine Situation betreffend und somit direkter und ‚wahrer‘ ausdrücken.

„Wenn deine Kollegin weiterhin alle Lehrlinge schikaniert, muss sie aufpassen, denn die sind auch einmal fertig ausgebildet und man weiss nie – vielleicht auch mal die Vorgesetzte plötzlich.“

 

Direkt – nicht hinter Höflichkeit verstecken

Manche nicht-autistischen Menschen, wie übrigens auch ich, haben eine gewisse Gehemmtheit vor zu direkter Kommunikation, die ich gar als barsch empfinde. Aber die Botschaft ist ja dennoch dieselbe. Auch manche nicht-autistischen Menschen mögen es lieber „wahr“.

 

Ich: „Es zieht.“ 

Mein Mann: „Ja.“

Ich: Bitte schliesse das Fenster.

Mein Mann: „Klar.“ (Und schließt es.)

 

Kein Symbolspiel sondern konkretes Gespräch

Vor allem mein älterer Sohn war im Kindergarten- und Unterstufenalter sehr irritiert, wenn ein Kind die Puppe ins Bett brachte, der Cousin mit dem Spieltelefon Gespräche führte oder noch schlimmer, die Lehrperson der Fingerpuppe ihre Stimme gab. Ich sah förmlich, wie er dachte: „Die spinnen, die nicht-autistischen Kinder/Erwachsenen.“ Aber darüber diskutieren, wie man nun Gurkensalat macht oder ein Auto bastelt, bei welchem sich die Räder auch drehen – klar.

 

Infodumping versus Plaudern

Gespräche mit Autist*innen sind durch ihre andere Kultur oftmals etwas anders. Wenn nicht-autistische Menschen gerne erzählen und plaudern, geht es Autist*innen oftmals um Informationen und/oder Interessen. Das ist ein unterschiedlicher Gesprächsstil, dem man entgegenkommen soll. Es geht also nicht um den Austausch von Nettigkeiten, Belanglosigkeiten, eine Lücke aus Stille durch lockere Gespräche füllen zu wollen oder einfach mal kurz zusammen zu sein – um wirkliche Themen, die im Miteinander genossen werden. Das soll nicht irritieren – das ist anders und auch normal. (Reiner) Smalltalk ist nichts für Autist*innen. Es sollten in einem Gespräch immer beide Kommunikationsstile Platz finden. (Vgl. @NeuroClastic)

 

Autistische Direktheit verstehen und nicht alles persönlich nehmen

Bei Kindern ist Direktheit für mich selbstverständlich – egal ob neurodivers oder nicht. (Zwei Bsp. meines jüngeren Bruders.)

 

„Warum hat die Frau goldene Zähne?“

„Sie sind alt und sterben bald.“

 

Aber Erwachsene betreffend finde ich dies nicht immer gleichermassen einfach. Gleichzeitig schätze ich diese Direktheit auch und sehe die Chancen darin und empfinde es als bequem, selber nicht immer alles in ein Bad aus Nettigkeiten tauchen zu müssen. Sind allistische Unwahrheiten auf nett denn wirklich anständiger und fairer? Es gibt auf jeden Fall einiges zu reflektieren. 

(Selbstverständlich setze ich Direktheit in keinster Weise mit derbem Austeilen gleich. Nicht in der autistischen Kultur, aber auch nicht als bewusst eingesetzte Waffe allistischer Menschen.)

 

Und jetzt?

Eigentlich habe ich immer gedacht, dass meine Sprache meinen autistischen Kindern gegenüber ziemlich neurodivers ist bereits. Doch seit ich mich damit beschäftige, realisiere ich, dass ich zwar Redewendungen zu vermeiden versuche, komplizierte Situationen gerne rasch aufzeichne, Triggerwörter aus meinem Repertoire  streiche – aber die Königin der Füllwörter bin und wohl auch etwas viel Redezeit beanspruche, wenn ich keine Antworten bekomme anstatt zu warten. Und was mir auch noch nicht gelingt ist, wenn ich einen komplexen Gedanken kurz fassen will, weil mein Gegenüber sonst abschweift. Ich bin also eindeutig Anfängerin in neurodiverser Kommunikation. Ist das schlimm? Nein. Genau das will ich ja mit diesem Beitrag, dass wir alle mit dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft erstmals unsere eigene Sprache zu reflektieren beginnen.

 

Und jetzt? Los geht’s 🙂 .

 

 

Literaturliste 

 

Gaynor, Z, Alevizos, K, Butler, J. (2020). Is that clear? Effective communication in a neurodiverse world. Autism-inspired tips for allistic (non-auitistic) people. www.acrobat-global.com

 

Wie sieht Kommunikation für neurodiverse Menschen aus?

https://medium.com/@hbel/wie-sieht-kommunikation-f%C3%BCr-neurodiverse-menschen-aus-51e4e14e3205.

 

Skript von Claudia Surdmanns Fortbildung “Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen. Vertiefungstag Therapie” am Zentrum für kleine Kinder in Winterthur. (Zitat Kaiser-Mantel, 2017.)

 

Personalpronomen

https://learnattack.de/schuelerlexikon/latein/personalpronomen

 

Füllwörter 

https://bildungssprache.net/fuellwoerter-liste-worte/

 

Double empathy problem

https://network.autism.org.uk/knowledge/insight-opinion/double-empathy-problem

 

Einige Tipps für Logopäd*innen betreffend kommunikativ-pragmatischer Sprachtherapien bei Autist*innen:

https://therapistndc.org/an-autistic-slps-experiences-with-social-communication/

 

Barrierefreie Kommunikation

https://ellasblog.de/interview-zum-neuen-masterstudiengang-barrierefreie-kommunikation-an-der-uni-hildesheim/

 

Barrierefreie Kommunikation allg.

https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&url=https://www.wko.at/service/unternehmensfuehrung-finanzierung-foerderungen/WKO_Broschuere-Barrierefreie-Kommunikation.pdf&ved=2ahUKEwislvTN2a7tAhXOzaQKHV_LB-MQFjANegQICBAB&usg=AOvVaw09IHQtQ2YJKvY4Wy7ImDIu

 

10 Bilder zum Thema unterschiedliche Kommunikationsstile:

NeuroClastic #iDISSENT #noncompliant #resist (@NeuroClastic) twitterte um 0:13 AM on Do., Dez. 03, 2020:

I was so bummed by #SocialStories that gaslight #ActuallyAutistic kids that I made one that is not traumatic. It’s for ALL kids because it’s not necessary or healthy for minority groups to assimilate against their wishes and neurology. Alt text added to each image. 10 slides https://t.co/JGgu4hVs8a

(https://twitter.com/NeuroClastic/status/1334274594891554822?s=03)

 

Neurotypicals: listen to our words, not our tone https://autisticscienceperson.com/2021/01/09/neurotypicals-listen-to-our-words-not-our-tone/amp/

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