Seiteninhalt
Kennen Sie das?
Sie sind Schulbusfahrer oder Schulbusfahrerin und seit kurzer Zeit müssen Sie regelmässig einen autistischen 2.-Klässler zur Schule fahren. Aber nach der Heimfahrt, just am Ziel angekommen, steigt er einfach nicht aus. Oder ein autistischer 6.-Klässler weigert sich einzusteigen, da neu sein Bruder mitfährt und rennt davon, bis Sie ihn nicht mehr sehen.
Sie merken auf einmal, dass Ihr Job ziemlich herausfordernde Seiten mit sich bringt. Es tauchen doch einige Fragen auf.
Vielleicht finden Sie hier ja Antworten – wer weiss. Ich bin Mutter zweier autistischer Kinder und teile gerne mein Wissen, meine Erfahrungen und Gedanken mit Ihnen, sofern Sie interessiert sind. Immerhin transportieren Sie mein höchstes Gut – meine Kinder.
Was ist Autismus?
Ja, was ist Autismus genau? So einfach lässt sich das nicht beantworten. Klar ist, dass das Thema Autismus von einer anderen Wahrnehmung der Welt handelt. Autistische Kinder fühlen nämlich oftmals viel zu viel, da ihr Gehirn empfindlicher ist (vgl. intense world theory). Eine höhere Empfindlichkeit hat natürlich auch Vorteile, aber letztlich bedeutet es viel mehr Stress dadurch. Mein älterer Sohn reagiert somit heftig auf barsche Stimmen, zu warme Kleidung, Asymmetrien, Fragen zu viel zu persönlichen Themen – mein jüngerer auf Musik, (laute) Stimmen, Sonnenlicht, Essensdüfte, Essgeräusche, Sommerhitze etc.
Jeder Autismus hat Ähnlichkeiten – und wird trotzdem ganz unterschiedlich erlebt. Darum ist jedes autistische Kind so anders, auch wenn dieselbe Ursache zugrunde liegt – eben dieses überempfindliche Gehirn.
Die 5 autistischen Unterschiede
(nach Nicole Chung S. 5-9)
Die Welt anders wahrzunehmen, führt zu einer anderen Art des Seins. Das ist weder besser noch schlechter – aber in einer Welt, in der nicht-autistische Menschen dominieren und folglich den Ton angeben, ganz bestimmt sehr herausfordernd.
Natürlich ist die Ausführung der 5 autistischen Unterschiede eine Vereinfachung und trifft nicht auf alle autistischen Kinder zu. Ich habe aber alles davon bei mindestens einem meiner Kinder genau so erlebt.
1. Autist*innen denken anders
- Meine Kinder haben Interessen, mit denen sie sich intensiv beschäftigen und alles dreht sich darum, z.B. aktuell Massentierhaltung/Tierrechte, Flaggen
- Sie brauchen mehr Zeit für eine Antwort
- Routine (gleichbleibende Abläufe/Personen) hilft ihnen
- Bei zuviel Stress können sie nicht mehr überlegen
2. Autist*innen verarbeiten Sinnesreize anders
- Meine Kinder nehmen Reize wie z.B. helles Licht, Lärm etc. viel stärker wahr. Darum tragen viele Autist*innen NC Kopfhörer oder Sonnenbrille
- Manchmal kann Hunger, Schmerz o.ä. nicht richtig interpretiert werden – es fühlt sich einfach irgendwie anders an
- Wird das Gehirn durch zu viele Reize (Lärm, zu eng, Gespräche etc.) überlastet, hilft ihnen selbststimulierendes Verhalten, um quasi “runter zu kommen” – z.B. immer wieder dasselbe Wort sagen, auf die Finger beissen, sitzend mit dem Bein wippen etc.
3. Autist*innen bewegen sich anders
- Eines meiner Kinder wirkt etwas ungeschickt. Nicht selten sind bei Autismus Unsicherheiten in der Bewegung oder der Koordination vorhanden
- Manchmal kann eine Bewegung wie nicht gestartet werden und braucht diskrete Unterstützung von aussen
- Die Lautstärke beim Sprechen zu kontrollieren gelingt nicht immer
4. Autist*innen kommunizieren anders
- Meine Kinder sind sehr ehrlich und direkt
- Andere zu verstehen und dann noch zu antworten, braucht oft recht viel Zeit
- Spässe, Redewendungen, Ironie werden oft nicht verstanden, da die Sprache wortwörtlich genommen wird. Dennoch haben beide Humor und machen Spässe
- Manche Kinder sprechen wie ein Echo immer dasselbe nach – manchmal aus dem TV. “Wo ist Tom?” kann bedeuten, dass das Kind etwas (vielleicht die Handschuhe) nicht findet und so um Hilfe bittet
5. Autist*innen knüpfen Kontakte anders
- Meine Kinder knüpfen Kontakte nicht durch sogenannt nette Plaudereien – sondern über ihre Interessen, die sie teilen wollen
- Soziale Regeln, wie sich zu bedanken oder hallo zu sagen, verstehen kleine autistische Kinder nicht einfach so. Das macht nichts. Irgendwann klappt das dann auch – ich lebe es ja vor
- Blickkontakt kann weh tun, darum nicht darauf beharren
- Gefühle anderer werden nicht immer einfach so verstanden, obschon sie sehr mitfühlend sind und mitleiden
Um autistischen Kindern gerecht zu werden, müssen wir uns dieser 5 Unterschiede bewusst sein. So hat das überempfindliche Gehirn mit einem dadurch anderen Denken, Fühlen und Handeln Auswirkungen auf das ganze Leben. Das betrifft natürlich auch die Fahrt mit dem Schulbus zur Schule.
17 Schulbus Geschichten
Gerne erzähle ich von unseren Erlebnissen mit dem Schulbus. Natürlich ist das nur der Einblick, den ich habe und keineswegs vollständig. Die Liste darf also im Gespräch mit anderen Eltern autistischer Kinder erweitert und mit eigenen Tipps und Tricks ergänzt werden.
1. 🧑🦱: Ich muss zuerst alles kennenlernen (U 1 & 2)
Bevor mein älterer Sohn seine erste Schulbusfahrt antrat, trainierte er im 2. Kindergartenjahr mit der Klassenassistenz Schulbus zum Schulhaus der 1. Klasse zu fahren. Ich wusste nicht, ob er am ersten Schultag alleine einsteigt – er tat es. Ich bin froh, dass uns das Schulbusunternehmen darin unterstützt hat.
2. 👱: Der Tritt zum/vom Bus ist (zu) steil (U 2 & 3)
Mein jüngerer Sohn findet unbekannte – und dann noch steile – Treppen herausfordernd, will aber alles alleine bewältigen und schrie, als ein Fahrer ihn den Tritt runter trug. Auch diese Treppe braucht Übung, um sie selbst zu bewältigen und natürlich darf man immer Hilfe anbieten und die Hand entgegenstrecken. Anfassen einfach so, ist für meine beiden Kinder ein grosser Stress. Für meinen älteren Sohn sind Berührungen gar schmerzhaft.
3. 👱: Ich brauche Zeit (U 1, 2 & 3)
Tatsächlich bekam ich vom Büro schon eine Anfrage, was der Fahrer tun soll, wenn das Kind nicht aussteigt. Unser Kind steigt schon aus, aber je nach Stresspegel in der Schule oder am Frühstückstisch, dauert das. Jeder Teilschritt ist anstrengend und kommt ihm vielleicht nicht in den Sinn. Der Bus hält an, sich “losgurten”, aufstehen, Thek anziehen etc. Man kann aber jeden Schritt coachen und sagen, was nun kommt oder gar konkret mithelfen, wenn es das Kind zulässt, dass man es “losgurtet”, den Thek entgegenstreckt, Hand anbietet für Tritt etc. Druck und die an und für sich verständliche Forderung, sich zu beeilen – das geht oftmals nicht und es dauert so noch länger.
4. 🧑🦱: Das ist mein Platz (U 1, 2 & 4)
Mein älterer Sohn brauchte immer seinen Stammplatz. Das gibt ihm Sicherheit. Ist er besetzt, kann das so verunsichern, dass nichts mehr geht. Da nicht-autistische Kinder darin flexibler sind, muss der Platz getauscht werden. Ist das unfair? Ich finde es nicht. Ich mag den gewohnten Platz im Bus zwar ebenfalls, aber ein anderer ist auch okay. Nicht der Schnellste soll ihn bekommen, sondern der, der es nicht anders hinkriegt. Leider geht das mit dem Fragen, ob man den Platz bekommen kann, oft nicht. Das muss also übernommen werden.
5. 🧑🦱: Ich sage nicht hallo (U 4 & 5)
Ich finde es super, dass meine Schulbusfahrer*innen mein Kind immer liebevoll begrüssen, auch wenn nichts zurückkommt. All diese sozialen Regeln wie hallo sagen oder danke oder ein bisschen plaudern (small talk) sind für kleine (und manchmal auch grosse) Autist*innen einfach nicht als wichtig ersichtlich oder dann reicht die Energie nicht mehr dafür aus und es verstummt. So kann das Schwatzen über ein Lieblingsthema manchmal zwar klappen, aber „wie war es in der Schule“ oder „hallo sagen“ oder „Spässe anderer verstehen“ etc. geht hier einfach oftmals noch nicht. Das hat nichts mit Unfreundlichkeit oder schlecht erzogen zu tun. Auch ohne ein Hallo findet mein Kind seine*n Fahrer*in super. Das darf nicht falsch interpretiert werden.
6. 👱: Es ist mir zu laut (U 2)
Meine Kinder nehmen Lärm intensiver wahr und auch alle Geräusche gleichwertig laut. Ich kann mich als nicht-autistische Frau auf nur etwas inmitten vieler Geräusche konzentrieren und bin dadurch auch dann entspannt. Nicht so mein jüngerer Sohn. Es hilft ihm, wenn der Bus nicht proppenvoll und dadurch laut ist. Sicherer fühlt er sich dadurch auch vorne neben dem Fahrer oder der Fahrerin. Manchmal helfen ihm Kopfhörer. Das könnte man in Absprache mit den Eltern einfach organisieren lassen.
7. 👱: Fahrer*in am Headset oder Musik aus dem Autoradio… (U 2)
Mein jüngerer Sohn reagiert oftmals gestresst, wenn der Fahrer oder die Fahrerin am Headset mit der Zentrale spricht. Es hilft ihm, wenn man ihm kurz erklärt, dass man nun rasch mit „dem Chef“ etwas abklären muss. Das aber nicht erst, wenn die Kommunikation mit dem Büro schon begonnen hat. Am besten vor dem Losfahren. Auch Musik erträgt er nur manchmal. Generell ist seine Welt zu laut. Lärm ist Stress – gerade für ein autistisches Kind mit einem überempfindlichen Gehirn. Das muss in der Planung der Fahrten unbedingt berücksichtigt werden.
8. 👱: Der Weg ist falsch! (U 1, 2 und 4)
Es ist gut möglich, dass sich eine bekannte Route einmal ändert und man noch ein weiteres Kind holen muss oder eine Strasse aufgrund eines Unfalles gesperrt ist. Auch hier ist eine Erklärung vorab wichtig. Ansonsten bekommt mein jüngerer Sohn Angst. Abweichungen von der Routine müssen transparent gemacht werden. Klappt das nicht via Sprache, ist eine Skizze hilfreich. Auch habe ich als Mutter in Absprache mit dem Fahrer schon so eine rudimentär aufgezeichnet und meinem Kind dann mitgegeben, da ein Wochentag jeweils total anders abläuft. Bald hatte sich das eingependelt und eine Erklärung reichte. Die Zusammenarbeit mit den Eltern lohnt sich also. Es ist von Vorteil, ihre Handynummer immer parat zu haben.
9. 👱: Warum hält der Schulbus hier an und nicht dort? (U 1 und 2)
Ein sehr liebevoller Fahrer hielt seinen Bus einmal direkt vor unserem Sitzplatz an. Ich dachte, das sei aber Service, denn ansonsten ist das oben bei den Briefkästen wenig weiter weg. Ganz anders sah das mein jüngerer Sohn. Er konnte sich kurz nicht mehr beruhigen und ging dann alleine nochmals zu den Briefkästen hoch für den gewohnten Ablauf. Routine gibt ihm so viel Sicherheit, dass er einen kurzen Umweg auf sich nehmen musste.
10. 👱: Am liebsten sitze ich vorne neben dem Fahrer oder der Fahrerin (U 2 und 4)
Es gibt verschiedene Gründe, warum sich mein jüngerer Sohn vorne neben dem Fahrer oder der Fahrerin wohler fühlt. Der Hauptgrund ist wohl, dass es reizarmer ist als hinten inmitten vieler Kinder. Natürlich musste er hinten auch schon erleben, dass er ausgelacht und geplagt wird, wenn er z.B. auf den Lärmpegel der Kinderstimmen reagiert hat. Darum habe ich auch ein ungutes Gefühl, wenn er inmitten dieser sitzen muss – mit Kopfhörern, um sie zu ertragen. Man hat doch das Recht, es mitzubekommen, wenn man verbal attackiert wird, um zu erahnen, was vielleicht noch kommt. Darum ist der Platz vorne mehr als nur cool – es ist Schutz.
11. 👱: Ich kann auch Gänge schalten und Zigaretten anzünden (U 1)
Selbstverständlich muss dem auf dem Platz neben dem Fahrer oder der Fahrerin sitzenden Kind auch erklärt werden, dass kein Knopf gedrückt oder Schalter gedreht werden darf – die Faszination ist gross. Einmal schaltete mein jüngerer Sohn im Privatauto, einem Automaten, auf Gangschaltung inmitten der Fahrt und ein andermal verbrannte er sich ein wenig am Zigarettenanzünder. Seither ist der Fall klar – es wird nichts betätigt, ausser man fährt. Das sind im Schulbus ganz bestimmt nie die Kinder – klar.
12. 🧑🦱: Mami darf nicht an der Bushaltestelle mit mir und auf mich warten (U 1, 4 und 5)
Mein älterer Sohn trennt Schule und zu Hause akribisch voneinander. Es darf keine Vermischung dieser beiden Welten geben. Es ist also nicht so, dass diese Mutter (ich) so schrecklich wäre, aber Ordnung muss sein. Ich liess ihn auch nie ganz alleine und war parat für Hilfestellung. Aber ein bisschen weiter entfernt hinter der Thuya. Selbstverständlich gibt es auch autistische Kinder, die kein Problem damit haben und die Anwesenheit der Eltern z.B. als angenehm empfinden.
13. 🧑🦱: Mein Bruder darf nicht mitfahren (U 1, 4 und 5)
Gerade diese Trennung der Schulwelt und der Welt zu Hause, wie es mein älterer Sohn zu tun pflegt, machte es ziemlich kompliziert, als meine beiden Kinder in denselben Schulbus einsteigen mussten. Zuerst stieg mein älterer Sohn ein. Erst als der eingestiegen war, durfte sein kleinerer Bruder nachkommen und einsteigen. Er tat dann so, als ob er ihn nicht kennen würde. So klappte es. Für mich war es natürlich eine ziemliche Challenge, das gut geplant hinzukriegen ohne Verspätung unsererseits. Mein jüngerer Sohn hingegen hatte gar kein Problem damit, mit dem älteren Bruder zu fahren – zum Glück.
14. 👱: Zu sportlich um die Ränke (U 2)
Einmal hatte der Schulbus Verspätung. Um dies wieder wettzumachen, fuhr einer der Fahrer sehr sportlich zum Schulhaus. Das Vorhaben „pünktlich“ gelang ihm zwar, aber mein kleinerer Sohn stieg aus und erbrach sogleich. Ich bekam daraufhin einen Anruf der Schule und durfte ihn wieder abholen. Es war aber kein Virus, wie es sich später zeigte – Ränke.
15. 👱: Taxi anstelle Schulbus (U 1 und 5)
Man sagt den Kindern ja immer wieder, sie dürfen nicht in fremde Autos einsteigen. Als das erste Mal ein Taxi anstelle des Schulbus meinen jüngeren Sohn abholte, stieg er nur ein, weil ich ihm versicherte, dass das eine Ersatzfahrt sei. Diese Info wäre für uns vorgängig sehr wichtig gewesen. Ein Taxi ist für ihn nämlich kein Schulbus. Selbstverständlich schätze ich den Aufwand des Büros sehr, dass diese Lösung gefunden wurde und somit trotz Ausfall eines Schulbusses alles klappte.
16. 👱: Zu viele verschiedene Fahrer*innen (U 1, 2, 4 und 5)
Für meine Kinder ist Konstanz sehr wichtig. Gerne hätten wir also nur ganz wenig unterschiedliche Fahrer*innen. Es braucht ein gewisses Flair für autistische Kinder, damit alles reibungslos abläuft und allfällige Probleme gelöst werden können. Das hat ein Ersatzfahrer eher nicht, der sein autistisches Klientel nicht kennt und Probleme sind vorprogrammiert, ausser es handelt sich um ein Naturtalent. (Das gibt es durchaus.) Hilfreich wäre auch ein Foto bei zu vielen, damit mein Kind weiss, wer es abholen kommt. Vorhersehbarkeit gibt autistischen Kindern Sicherheit.
17. 🧑🦱: Ich vertraue dem Fahrer oder der Fahrerin (U 5)
Mein älterer Sohn hat Angst vor Hunden. Er drehte auf dem Kindergartenweg immer um, wenn einer ihm entgegenkam. (…) Nun war es so, dass eines Tages der Hund einer Fahrerin unerwartet krank wurde und mit musste, da er in der Pause zum Tierarzt sollte. Nie hätte ich gedacht, dass mein autistisches Kind da einsteigt. Das tat er aber. Was ich damit sagen will – mit einer richtig guten Beziehung zwischen Schulbusfahrer*in und autistischem Kind ist so manches Unmögliche möglich. Es werden Herausforderungen, die sich nicht vermeiden lassen, gemeistert und Lösungen gesucht. Das bedeutet, dass trotz ungünstiger Situation nach der bestmöglichen Anpassung der Umgebung und auch sich selbst gesucht wird. Wir verändern also nicht das Kind, sondern uns selbst. Immer im Gedanken daran, dass ein autistisches Kind schon im Ruhezustand im MRI sichtbar mehr Aktivität aufzeigt und somit viel schneller Stress hat. Wie es die Fahrerin genau geschafft hat, weiss ich nicht. Aber er muss ihr vertraut haben.
Das überempfindliche Gehirn und zu viele Reize
Wird ein autistisches Kind über längere Zeit viel zu vielen Sinneseindrücken (z.B. laut spielende Kinder, Berührungen, grelles Neonlicht) oder zwischenmenschlichen Reizen (z.B. Gespräche, Streit, Druck) ausgesetzt, staut sich nach und nach ein Reiz an den anderen und es kommt zu einer Reizüberflutung. Ist das der Fall, erträgt mein jüngerer Sohn plötzlich keine lauten Kinder mehr im Schulbus und schreit, sofern das nicht aufhört. Dasselbe, wenn der ungeduldige Ersatzfahrer viel Druck auf Geschwindigkeit macht und in gefühlt 30 Sekunden schon abfahren will, was mein Sohn je gestresster desto weniger schafft. Man bedenke, mein autistisches Kind kommt oftmals direkt von der Schule oder einer kurzen Mittagspause in den Bus und ist durch sein überempfindliches Gehirn längst ziemlich erschöpft. Es sind bereits etliche Reize angestaut und somit braucht es nicht viel und es kommt zu solch einer heftigen Reaktion wie eben das verzweifelte Schreien. In diesen Momenten nützt es nichts, wenn man mit ihm schimpft oder ihn anfleht, bitte mit dem Schreien aufzuhören. Auch durch Gespräche mit mir lässt sich das nicht ändern. Es ist dann quasi schon passiert und alle müssen da durch – möglichst ohne das autistische Kind zusätzlich zu stressen. Einzig Geduld und Verständnis, eine sanfte Stimme und die Forderung, dass die anderen Kinder für den Moment ruhig sind oder im anderen Fall “nicht auf Tempo zu machen”, hilft. Möglicherweise wird auch ein Telefonat mit der Zentrale nötig sein, eben weil diese Konstellation der Kinder so nicht stimmig ist oder von Vorteil ein Fahrer oder eine Fahrerin mit Autismus Erfahrung übernimmt.
Die Umgebung anpassen und Rücksicht nehmen
Reagiert ein autistisches Kind heftig, hat es immer gute Gründe. Darum gelingt es auch der besten Pädagogin nicht, dieses Verhalten im Nu zu unterbinden. Es ist ein bisschen komplizierter und fordert ein Umdenken. Die Veränderung sind nämlich wir. Wir sind es, die eine Umgebung schaffen müssen, in der es dem autistischen Kind wohl ist. In unserem Fall sind es vor allem drei Punkte, die dafür beachtet werden müssen, damit sich meine Kinder sicher und gut aufgehoben fühlen:
- Reize reduzieren – insbesondere Lärm
- keinen Zeitdruck – Geduld oder Unterstützung, wenn etwas auf Anhieb nicht geht
- Routine schaffen – denselben Ablauf mit optimalerweise denselben Personen beibehalten oder alternativ Änderungen rechtzeitig ankündigen
Es zieht also mit sich, dass alle Rücksicht auf uns nehmen und ihre Wünsche ein wenig zurückstellen. Der Schulbusfahrer oder die Schulbusfahrerin fährt ohne Musik und antwortet nach Möglichkeit erst nach der Ankunft mit dem Headset der Zentrale, die Planung berechnet mit ein, dass das Kind autistisch ist und steckt es nicht in einen überfüllten Bus und teilt uns zudem Fahrer*innen mit einem Flair für autistische Kinder zu. Es betrifft aber auch die anderen Kinder im Schulbus, die unbedingt etwas leiser sein müssen oder den Stammplatz des autistischen Kindes nicht besetzen oder etwas länger fahren, damit zuerst das autistische Kind in sein Schulhaus gebracht werden kann. Damit haben Eltern nicht-autistischer Schulbuskinder oftmals etwas Mühe, da sie unreflektiert ein anderes Gefühl für Gerechtigkeit haben. So kann es sein, dass man mit ihnen das Gespräch suchen muss, damit Entgegenkommen und Verständnis möglich wird.
Hilfe annehmen als Stärke
Natürlich ist es eine grosse Herausforderung, dies alles unter einen Hut zu bringen. Ich erwarte nicht, dass Menschen perfekt sind, denn das bin ich ja auch in keinster Weise – trotz 14 Jahre Autismuserfahrung. Ich erhoffe mir aber eine Bereitschaft zu lernen. Dazu gehört für mich unbedingt, dass man auch um Hilfe bitten kann. Wird der richtige Tonfall erwischt, haben Eltern, die zuständige Heilpädagogin oder Lehrperson etc. sicher ein offenes Ohr und schätzen dies sehr. Ich empfehle dafür Ich-Botschaften:
- Ich bin gerade unsicher, da …
- Ich verstehe nicht, warum …
- Ich brauche eine Idee, wie ich …
Ich-Botschaften bewähren sich, da viele Eltern autistischer Kinder immer wieder einiges über sich ergehen lassen müssen. (Es tut weh, gesagt zu bekommen, dass das eigene Kind untragbar sein soll oder nicht hierher gehöre, nur weil man gerade keine Lösung des Problems sieht.)
Das Mantra also: “Nicht weiter zu wissen, ist menschlich – um Hilfe zu bitten eine Stärke.“
Ein grosses Dankeschön
Ich bedanke mich bei allen Schulbusfahrer*innen, die sich tagein tagaus auf die Bedürfnisse ihrer Schulbuskinder einlassen. Manchmal wäre es bestimmt einfacher, Pakete von A nach B zu transportieren. Aber einfacher ist keineswegs erfüllender. Als Schulbusfahrer*in nehmen Sie einen wichtigen Platz im Schulalltag unserer Kinder ein – mehr noch, Sie sind Teil ihrer Biografie und somit unvergesslich.
Und eines können sich alle gewiss sein – für uns Eltern ist es ein gutes Gefühl, das Kind im Schulbus in den besten Händen zu wissen. Darum:
Danke!
Literaturliste
Chung, N. (2021). Start here. A guide for parents of autistic kids. Washington DC: The autistic press. (S. 5-9)
Intense world theory
https://sachendenker.ch/autismus-verstehen-intense-world-theory/
Mona mittendrin
a) wir sind nicht die ersten an der Haltestelle, er möchte der erste sein
- b) er möchte als erstes in den Bus einsteigen, ein anderer Junge auch =>
Geschrei, Geheule von Lars
- c) Lars möchte immer am selben Platz sitzen, setzt sich ein anderes Kind auf diesen Platz gibts Ärger (Schubsen, Geheule usw.)
https://www.rehakids.de/ftopic32557.html
Wir alle wissen, wie wichtig für unsere autistischen Kinder Verlässlichkeit und klare Strukturen sind. Dazu gehört auch das „Rahmenprogramm“ zur Schule – bei Niklas die täglichen Hin- und Rückfahrten mit dem Bus. Und da hat er außerordentliches Glück! 🙂
https://ellasblog.de/autismus-und-busfahrdienst-niklas-und-sein-weltbester-busfahrer/
Sieben Tipps zur Verbesserung der Schulbuserfahrung Ihres autistischen Kindes
https://www.poac.net/blog/seven-tips-for-improving-your-childs-autism-school-bus-experience/
Die Fahrt mit dem Schulbus für Schüler mit Autismus in 7 Schritten einfacher machen
Zum Glück kennen wir dies nicht – traurig 😢 :
Weil ein Schulbusfahrer vergangenen Sommer einen autistischen Buben beleidigt hatte, musste er sich vor dem Kreisgericht St. Gallen verantworten. Er wurde wegen Beschimpfung verurteilt.
https://www.20min.ch/story/ich-bin-der-chef-in-meinem-auto-272629285986
Kleine Ergänzung meinerseits – das, was Matthew in seinem Tweet unten erwähnt, gibt es natürlich auch betreffend Autismus, auch wenn ich den Schwerpunkt auf ‚zu viel fühlen‘ setze. Meine Kinder kennen beides – Überempfindlichkeiten auf Reize und auch Unterempfindlichkeiten. Also beides in derselben Person. Da aber mehrheitlich konstant. Zwei Beispiele: Mein jüngerer Sohn mag Staubsaugergeräusche – meinem älteren ist das viel zu laut. Mein älterer Sohn ass schon im Buggy liebend gerne Radiesli und er mochte schon früh Oliven, mein jüngerer isst fast kein Gemüse, da viel zu bitter und manchmal auch zu scharf und generell zu intensiv.
The #ActuallyAutistic Coach | Matthew (@AutisticCoach_) twitterte um 1:07 PM on Mo., Dez. 19, 2022:
Not every #autistic person is overstimulated by external stimuli. How many of my #ActuallyAutistic comrades feel under-stimulated and need to jump up & down, eat spicy food, rip up papers/napkins, use weighted blankets, deep pressure, and other similar things?
#AskingAutistics
(https://twitter.com/AutisticCoach_/status/1604810645937225728?t=mEKKvyc735H7pekohk7MnA&s=03)