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Die Sache mit dem Blickkontakt
Bereits im Klappentext von Clara Törnvalls neuem Buch über Autistinnen, ist das fünfte Wort “Blickkontakt”. Es scheint eine brisante Sache zu sein – mit diesem Blickkontakt.
“Ich habe Probleme mit Blickkontakt. Ich kann weder Mimik deuten noch zwischen den Zeilen lesen. Da ist eine permanente Angst und Müdigkeit.” Clara Törnvall (Die Autistinnen. Klappentext)
Und schon sind wir mitten im Thema angekommen und dafür hole ich nun ein bisschen aus.
Den imposanten Doggen unseres Nachbars möchte ich wirklich nicht zu lange in die Augen schauen, aber unsere Katze mag es wiederum, wenn ich meine Augen zusammenkneife und sie so betrachte. Ob das bei Menschen ähnlich ist? In der Karrierebibel kann jedenfalls jeder nachlesen, dass ein Blickkontakt – hier zumindest – wichtig ist, da er Interesse signalisiert. Zu lange sollte dieser aber nicht dauern: maximal 3,3 Sekunden. Länger ist er als Zeichen von Dominanz zu verstehen. In Japan hingegen sieht das alles wieder ein bisschen anders aus. Da wäre ich betreffend Blickkontakt wiederum auffällig, so vermute ich jedenfalls.
Und in der autistischen Kultur!? Wie sieht es da aus? Die Gretchenfrage also: Muss Interesse wirklich über den Blickkontakt gezeigt werden?
Um das zu beantworten, muss ich ein bisschen ausholen. Letztlich bleibt es aber ein Versuch, denn Autismus ist ein Spektrum und ich bin ja keine Autistin – interessiere mich natürlich für die Ansichten von Autist*innen und lese sehr gerne darüber (siehe Anhang). Natürlich sind die Statements durch dieses breite Spektrum heterogen, was ich auch bei meinen Jungs aufgezeigt bekomme. Vor allem in Grossbritannien meine ich jedoch eine hohe Akzeptanz der Theorie des prädikativen Gehirns zu spüren. Auf diese nehme ich Bezug – aber auch auf die Wichtigkeit visueller Referenzen, die weit über den Blickkontakt hinausgehen und wunderbar mit erster Theorie harmonieren.
Wie ich Blickkontakt und Blick fürs Wesentliche unterscheiden würde
Ich schreibe bewusst, wie ich den Blickkontakt im Gegensatz zum Blick fürs Wesentliche unterscheiden würde. Ich glaube, man kann die Grenze unterschiedlich ziehen, da beides ineinander hineinfliesst, vor allem, wenn im Fokus des Kontextes nicht nur eine Situation steht (z.B. Suppe leert aus), sondern eine Person (z.B. die Mutter holt kurz tief Atem) beinhaltet. Oft findet eine Situation ja nicht gänzlich ohne andere Menschen statt. Und wie Menschen so sind, fühlen sie sich gleich aufgefordert, sich zu beteiligen – aber nicht unbedingt. Ich denke dabei an die Ruheinseln, die meine Kinder täglich brauchen. Aber um diese dreht es sich diesmal nicht.
Definition: Blickkontakt:
Unter menschlichem Blickkontakt verstehe ich spontan, wenn sich zwei Personen in die Augen schauen und der Blick sich kurz oder länger trifft. Es ist meiner Ansicht nach aber weit mehr als das – es beinhalten zudem wahrzunehmen, wohin jemand schaut, und zwar ähnlich dem Billard Spiel, wo man der Kugel auf ein Ziel hin folgt. Im Alltag ist dieses Folgen aber kein Spiel, sondern wichtig für die gemeinsame Aufmerksamkeit. Auch der absichernde Blickkontakt wieder zurück zur Person, der abcheckt, was diese dazu findet (Mimik) oder ob sie es überhaupt gesehen hat, dient demselben Ziel. Blickkontakt ist für mich also ein Dreierpaket – nicht nur in die Augen, auch der Blick zu einem Ziel hin und vor allem wieder zurück zum Gegenüber gehört dazu: geteilte Aufmerksamkeit pur.
- Sich gegenseitig in die Augen blicken
- Wohin schaut jemand – dem Blick folgen
- Absichernder Blick zum Gegenüber als Rückversicherung quasi, ob alles okay ist
Definition: Blick fürs Wesentliche:
Hier dreht es sich um visuelle Referenzen und somit das Wahrnehmen der wichtigen Hinweisreize für eine bestimmte Situation, also aus dem Chaos heraus das Wesentliche erkennen. Autistische Kinder brauchen manchmal ein bisschen Unterstützung darin, da sie Ähnlichkeiten durch ihr autistisches Gehirn als etwas Neues erkennen und somit alles einzigartig bleibt, was mit viel Verunsicherung mitten im Chaos verbunden ist. Wir können lediglich versuchen, das Kind im Kontextwirrwarr nicht alleine zu lassen. Und wer weiss, was alles aufbauend entstehen kann. Vielleicht kommt es so mit der Zeit gar zur traditionellen gemeinsamen Aufmerksamkeit mit absicherndem Blickkontakt und Co. Gleichzeitig möchte ich erinnern, dass man nicht immer von der neurotypischen Entwicklung ausgehen darf – weder in der Qualität oder Intensität noch in der Reihenfolge. Auch wäre es zu einfach, ein Abweichen einfach als dasselbe – nur verlangsamt, zu interpretieren. Manchmal braucht es genau darum neue Wege oder zu respektieren, dass es auch anders geht – vielleicht gar eine gleichwertige autistische Art der Aufmerksamkeit mit Vor- und Nachteilen!?
- Das Wesentliche im Kontext erkennen
Das prädikative Gehirn und Autismus
Ein wenig habe ich schon angedeutet, dass das Gehirn eine grosse Rolle im Lernen spielt. Ein prädikatives Gehirn zu haben – und das haben wir alle, bedeutet, dass wir nicht einfach das Verhalten anderer Menschen beobachten können, um dann zu wissen, was sie gleich tun werden. Das denken wir zwar intuitiv alle, ist aber, wie geschrieben, falsch. Es handelt sich dabei um eine andere Reihenfolge als vermutet.
“Kurz gesagt, ist die Wahrnehmung des Verhaltens andersrum wesentlichen eine prädikative Tätigkeit: Wir sagen voraus, was andere Menschen tun werden, wann, wo, wie und wie lange.” Peter Vermeulen (S. 136)
Nach dieser Vorhersage werden kleine Abweichungen als Ähnlichkeiten abgespeichert oder bei grösseren als etwas Neues, auf das man fürs nächste Mal bereits vorbereitet ist. Gerade Interaktionen sind auch für nicht-autistische Menschen betreffend Vorhersage natürlich nicht ganz ohne und werden dadurch immer wieder zum Anpassen verdonnert. Dennoch haben sie es durch ihr Gehirn viel einfacher. Das alles läuft bei ihnen nämlich intuitiv und somit wie von selbst ab. So zumindest bei nicht-autistischen Menschen. Das autistische Gehirn funktioniert diesbezüglich etwas anders, was manchmal durchaus ein Vorteil sein kann, oftmals jedoch alles ziemlich erschwert.
“Aber im Vergleich zum nicht-autistischen Gehirn schneidet das autistische Gehirn weniger gut ab, wenn es um schnelle, unbewusste und kontextabhängige Vorhersagen geht.” Peter Vermeulen (S. 136)
In anderen Worten bedeutet das betreffend der Herausforderung der Interaktion, dass meine autistischen Kinder rundum empathisch sind, was bewusste Prozesse des Gehirns betrifft, denn das kann ihr Gehirn. Sie wissen, dass Mobbing ein No Go ist, Stehlen und Sachbeschädigung absolut nicht geht, man ehrlich zu seinem Verhalten stehen muss, auch Tierrechte wichtig sind etc. Das sind absolute Regeln für alle Menschen. Diese lernen sie problemlos. Schwierig wird es, wenn etwas relativ ist. Und das sind so manche sozialen Gegebenheiten. Schon alleine das Grüssen ist absolut kontextrelevant. Das heisst, hier sind Vorhersagen für Autist*innen wahnsinnig schwierig zu treffen und somit reagieren sie nicht intuitiv flexibel auf unterschiedliche ähnliche Situationen. Wir wissen alle, wenn man auf andere Menschen trifft, grüsst man die in der Regel. Aber soziale Regeln sind nicht absolut – sie sind, wie bereits erwähnt, relativ. Es kommt also auf die Person und den Umstand an, ob das wirklich angesagt ist. Mein jüngeres Kind grüsste kurz einfach alle und stellte sich gleich noch vor, was auch nicht richtig war und gewisse Menschen zu brüskieren schien. Mein älterer Sohn grüsst ausserhalb der Schule eher nicht, da ihm nicht klar ist, wann und wo wer wie gegrüsst werden will. Die Schwierigkeit ist also eine andere. Das Wissen und die Erkenntnis, dass das Grüssen oft eine wichtige Sache ist, reicht nicht aus – überhaupt nicht. Eine einzige absolute Strategie als Patentlösung zu wählen, wie es meine Kinder taten/tun, führt ebenfalls zu sozialer Ablehnung dann und wann. Es geht darum, wie man das Grüssen flexibel im jeweiligen Kontext einsetzt (vgl. Peter Vermeulen, S. 148). Wann gibt man die Hand, wann nickt man nur, wann darf man das Grüssen ignorieren??? Das alles ist total abhängig vom Kontext. Nicht autistische Menschen wissen das trotz leichten oder grösseren Anpassungen hie und da intuitiv und lernen quasi wie von alleine. Autistische Menschen hingegen lernen jede Situation einzeln für sich und brauchen somit viel Aufwand beim Lernen von Variationen. Vermutlich wurde dies lange Zeit als Theory of Mind-Problem interpretiert, was nicht wirklich zutrifft. Es geht nicht um fehlende Empathie – sondern um mangelnde intuitive Vorhersehbarkeit. Genau diese ist zum Durchschauen der Menschen mit ihren Interaktionen natürlich extrem hilfreich.
Peter Vermeulen zufolge scheinen Autist*innen ‘den Resultaten’ erst zu trauen, wenn sie sie sehen. Das mag ab und an ein Vorteil sein (!), aber betreffend Interaktion ist diese Strategie (meistens) viel zu langsam. Da haben es nicht-autistisch Menschen mit ihren intuitiven Vorhersagen und Korrekturen viel, viel einfacher – einfacher die Menschen zu durchschauen, Parallelen und Ähnlichkeiten intuitiv zu erkennen und nicht immer bei Null anfangen zu müssen.
Vielleicht gar das erste Anzeichen für die Diagnose Autismus!?
Erschwerte Vorhersehbarkeit ist also ein grosses Autismus Thema. Genau das fällt auch bereits bei manchen kleinen autistischen Kindern auf, die dadurch in diesem ganzen Dschungel von sozialen Erwartungen – gerade auch betreffend geteilter Aufmerksamkeit – immer wieder scheitern, weil sie durch ihr autistisch arbeitendes prädikatives Gehirn gar nicht bemerken können, dass… Und so interpretieren manchen Menschen, dass Autist*innen halt in ihrer eigenen Welt leben. Ich weiss aber, dass es absolut dieselbe Welt ist und lediglich die Vorhersehbarkeit im ständig leicht anderen sozialen Kontext sie überfordert, um locker und flockig in Interaktion zu treten.
“Ausserdem ist seit einiger Zeit bekannt, dass sich die gemeinsame Aufmerksamkeit bei Kindern mit Autismus nur sehr langsam oder gar nicht entwickelt.” Peter Vermeulen (S. 143)
Genau diese Tatsache ist oftmals auch das, was Eltern als seltsam erleben, es nicht richtig fassen können, verunsichert sind und daraufhin der Frage nachgehen, was bloss mit ihrem Kind los sei. Diese nicht voll oder gar nicht entwickelte gemeinsame Aufmerksamkeit ist also eines der ersten offensichtlichen Autismus Anzeichen: das Kind scheint oft wie weggetreten und nicht da zu sein oder einfach ganz bei sich.
Dadurch wirkte mein älterer Sohn auf mich – ganz klein noch und ich ohne Ahnung, wie ein Kind mit einer Spracherwerbsstörung, aber offensichtlich ohne eine zu haben. Ich konnte lange nicht wirklich fassen, was Sache ist.
Schau mir in die Augen – oder doch nicht!?
Viele Eltern versuchten – in der Vergangenheit hoffentlich (!) – ihr Kind immer wieder zurück zu sich zu holen, im Irrglauben, dass Blickkontakt gemeinsame Aufmerksamkeit bedeutet. Darum drängten sie ihre Kinder förmlich zum Blickkontakt: “Lueg mer id Auge!” (= Schau mir in die Augen.) Erstens darf man das sowieso nicht zu lange – maximal 3,3 Sekunden und oft ist ein kurzes Streifen nur normal. Darum ist die Aufforderung, im Blick zu verharren, sowieso am Ziel vorbei. Und zweitens ist das leider dann eher das, was ich mache, wenn mein Teenager will, dass ich gegen den Computer Schach spiele. Ich erfülle zwar seinen Wunsch, aber ich nenne es: Figuren schieben ohne Sinnverständnis. Und genau das wollen wir ja betreffend unserer Kinder mit dem Blickkontakt nicht: ein Maskieren. Oder in Linda K. Murphys Worten, die es wie ein sinnbefreites Auswendiglernen sieht:
“When demanded, eye contact is positioned as a rote skill.” Linda K. Murphy (S. 19)
Dieser Blickkontakt mag zwar von Vorteil sein, wenn er von selbst kommt – aufbauend auf vielen Erfahrungen und Entwicklung, aber eben: gefordert ist er nichts wert. Letztlich geht es hier um visuelle Referenzen, die essentiell sind, damit die Welt nicht einzeln, sondern als Ganzes verstanden werden kann. Und das ist natürlich etwas total anderes – predictive Coding pur. Der Kontext wird intuitiv abgecheckt – und unter Kontext versteht man die betroffene Person und aktuelle Situation.
“Von gemeinsamer Aufmerksamkeit spricht man, wenn zwei Personen ihre Aufmerksamkeit auf ein und dasselbe Objekt, Person oder Ereignis richten.” Peter Vermeulen (S. 143)
Gemeinsam Aufmerksamkeit findet also wie ein Dreieck statt – zwischen zwei Personen und etwas Weiterem, das sie verbindet.
Es ist somit nicht unwesentlich zu wissen, wohin jemand schaut, um genau diese Verbindung aufzubauen. Das scheint mir einleuchtend.
Autistische Art geteilter Aufmerksamkeit. Gibt es das?
Geht das Aufbauen einer Verbindung wirklich nicht ohne zu wissen, wohin jemand gerade schaut? Autist*innen auf X machen uns bewusst darauf aufmerksam, dass wir ja auch während des Autofahrens mit der Beifahrerin oder dem Kind auf dem Rücksitz plaudern können und hoffentlich ohne die ganze Zeit deren Blick zu folgen. Man kann auch so über die Kühe auf der Weide sprechen. Genau durch diese Erfahrung, sollte es uns einfach fallen, zu respektieren, dass es auch eine gleichwertige Art der autistischen Aufmerksamkeit gibt.
Wir nicht-autistischen Menschen sollten selbstverständlich auch dies in unserem Repertoire haben ohne Widerwillen, denn wir können es ja: beim Autofahren. Nichts desto trotz ist es im ganzen Leben hilfreich – nicht nur in der Interaktion, wenn man die essentiellen visuellen Referenzen erkennen kann.
“If we can help kids think more flexibly about the problem, then that will lead to more flexible responses.” Linda K. Murphy (S. 44)
Darum sollten wir unsere autistischen Kinder nicht alleine lassen, sondern uns ihrer Wahrnehmung und ihres Lernstils bewusst sein und an der Basis zu unterstützen beginnen – nicht Blickkontakt einfordern, sondern auf visuelle Referenzen aufmerksam machen. Das entspricht der autistischen Wahrnehmung und hat nichts mit Maskieren oder Drill zu tun – mit Respekt. Autist*innen sagt Interaktion nämlich genau dann zu, wenn sie mit jemandem auf derselben Wellenlänge sind (vgl. Ashley Peacock). Neben gemeinsamen Interessen bedeutet das auch, sich auf dasselbe konzentrieren zu können. Und hier sind wir schon wieder mittendrin im Herausfiltern, was nun wichtig ist und was nicht, was mit ähnlichen Leidenschaften sicher einfacher fällt. Nichts desto trotz: auch hier geht es dabei wohl im eigentlichen Sinne um visuelle Referenzen.
Die Wichtigkeit von visuellen Referenzen
Da der Blickkontakt und das Folgen eines Blickes mit autistischem Gehirn oftmals etwas Schwieriges ist, kann man autistische Kinder auch via Sprache auf Wesentliches im aktuellen Kontext lenken – denn eben, der referentielle Blickkontakt ergibt sich erst, wenn eine Entwicklung parat ist. Blickkontakt als reines Maskieren ist nichts wert und mehr noch: eine Belastung für das Kind. Wir müssen uns zudem bewusst sein, dass er vielleicht auch nie erworben wird. Darum ist es total sinnlos und fragwürdig, wenn man ihnen den Blickkontakt eintrichtern will. Genauso falsch wäre es aber, das autistische Kind in seiner Entwicklung nicht zu fördern. Das heisst, man sollte es an das heranführen, was wesentlich ist – quasi ihre Aufmerksamkeit lenken, bis sie so viele Erfahrungen gemacht haben und sich ein breites Repertoire erarbeitet.
“Here’s the bottom line: looking just by itself (or eye contact) is not nearly enough to get at the dynamic nature of communication. Rather, we must help our kids with social learning challenges become better at visual referencing.” Laura K. Murphy (S. 20)
Laut Laura K. Murphy existieren zwei wesentliche Punkte, die es dabei zu beachten gilt (vgl. S. 21):
1. Wir müssen uns bewusst sein, dass nur, weil ein Kind vielleicht schaut, dies überhaupt nicht bedeutet, dass es das Wichtigste für eine Situation nun wahrgenommen hat.
2. Oftmals starren diese Kinder auch auf den Boden. Natürlich kann es sein, dass es für sie furchtbar schwierig ist, gleichzeitig zuzuhören und die Umgebung abzuchecken. Das ist es bestimmt auch. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Erwachsene gerne für autistische Kinder das Schauen gut gemeint übernehmen, da dies ihnen nicht so einfach fällt. Das wiederum macht abhängig und ich will möglichst selbständige und selbstbewusste autistische Kinder heranwachsen sehen.
“Kids with social learning challenges do not necessarily know right away how to decode nonverbal or contextual information. It will be our job to help them understand what they are seeing.” Linda K. Murphy (S. 21)
Oder in Peter Vermeulens Worten:
“(…) Menschen mit Autismus können (soziales) Verhalten erkennen und beschreiben, wenn sie es sehen, aber ihr Gehirn nutzt diese Information nicht, um vorherzusagen, was auf dieses Verhalten folgen wird.” Peter Vermeulen (S. 143)
Dadurch, dass Interaktion nicht wie bei nicht-autistischen Menschen intuitiv verstanden wird, muss dieser Prozess bewusst angegangen werden***. Und hier haben wir die Verantwortung, die Aufmerksamkeit des Kindes zu lenken, und zwar so, dass es das Wesentliche durch minimale Inputs selbst entdecken kann.
*** Friendly reminder: Den bewussten Teil sozialer Interaktion haben Autist*innen im Griff und sind somit nicht empathielos! Das man grüsst, wissen sie – das Thema ist mehr, wie man das im unterschiedlichen Kontext einsetzt. Wenn ich finde, eine Person zeigt Desinteresse, grüsse ich intuitiv nicht. Darum geht es. Bei unseren Nachbarn allerdings, da rufe ich auch ein Hallo, wenn sie mich ein Buch lesend scheinbar gerade nicht sehen und ich wenig entfernt an ihrem Sitzplatz vorbeispaziere. Manchmal geht man besser auf sicher u.s.w.
Aufmerksamkeit lenken – deklarative Sprache
Ja, wie führt man ein Kind nun genau auf non-verbale und kontextuelle Informationen hin? Wie macht man sie auf das Wesentliche einer Situation aufmerksam? Und dann darauf aufbauend: auf Unterschiede in ähnlichen Situationen – ein Repertoire an Variationen für Sicherheit?
Wenn ich also von der Suche nach visuellen Referenzen schreibe, habe ich einen wichtigen Part zu übernehmen. Hier geht es (für mein Kind) um mich und meinen Kommunikationsstil. Und zwar so (vgl. Linda K. Murphy, S. 21):
1. Das Herzstück meines neuen Kommunikationsstils ist, dass ich das Kind anleite, damit es weiss, was es genau beobachten soll.
- Dabei verwende ich keinen Imperativ: “Bitte putze rasch auf!”
- Ich verzichte auf Fragen: “Magst du den Lappen holen?
- Ich beschreibe sachlich – deklarativ – und führe das Kind auf das Wesentliche einer Situation hin und gebe ihm somit die Chance, Selbstkompetenz ohne Überforderung zu erwerben: “Schau, da tropft Suppe vom Tisch auf den Boden.”
Ganz wichtig: ich gebe dem Kind Zeit, dies zu verarbeiten und schiesse mit meinen Lösungen oder allfälligem Nachdoppeln nicht rein.
2. Ich achte darauf, dass sich das Kind dabei wohl fühlt und Freude am Beobachten entwickelt – immer mehr.
- Ist das Kind total gestresst und hat keine Löffel mehr (= Energietief), ist es nicht an der Zeit dafür und ich darf ruhig übernehmen: Empathie zeigen und für das Kind die tropfende Suppe aufwischen.
3. Durch diese Hinführung erhoffe ich mir, dass es mit der Zeit immer selbständiger/selbstbewusster die Bedeutung des Beobachtbaren versteht.
- Das steht im Zentrum und nicht ein perfekter Haushalt oder ähnlich. Ich respektiere den Weg, den das Kind auf seine Art und Weise wählt und vergesse (meine) Perfektion (als Erwachsene). So nahm mein jüngerer Sohn zum Aufwischen der Suppe spontan das Handtuch und in dem Moment war das einfach nur toll. Ja, das Variieren je nach Kontext (Suppe, Hände) kam dann schon noch – aber nicht mehr an diesem Tag. Ich habe keinen Stress (und eine Waschmaschine).
“If I had simply used an Imperative (…) all those beautiful and nuanced moments of social learning would have been lost.” Linda K. Murphy (S. 23)
Es geht also nicht darum, dass das Kind beobachten muss, wohin jemand schaut – wir fangen weit vorher an und fordern das, was zu einer autistischen Entwicklung auch passt. Und sollte es parat sein für visuelle Referenzen gar den Blickkontakt betreffend, dann freue ich mich. Lernt es ausschliesslich die wichtigen Hinweise in so manchen Situationen herausfiltern – dann freue ich mich ebenfalls und geniesse die individuellen Entwicklungschritte meines Kindes und vergesse nie Peter Vermeulens Erkenntnis:
“Viele Wiederholungen und Klärungen sind nötig, bis ein autistisches Gehirn anfängt, gewisse Ähnlichkeiten in den Variationen zu erkennen, sodass es auch (mehr oder weniger gut) vorhersagen kann, was passieren wird.” Peter Vermeulen (S. 165)
Oder in Linda K. Murphys Worten:
“As we move onto other areas of social learning, remember to think beyond eye contact. (…) Take pride as you start to notice how the child begins to look up spontaneously, noticing and figuring things out their own.” Linda K. Murphy (S. 24)
Es ist also von grosser Wichtigkeit, wie wir mit dem Kind sprechen, was wir genau sagen und ob wir Pausen zum Verarbeiten zulassen können. Warum!? Damit sich der Blick fürs Wesentliche entwickeln kann und bewusste Vorhersagen dadurch einfacher getroffen werden können, was im Leben enorm hilft. Genau das muss wiederum vom Kind aus kommen – aber wir dürfen uns zum Glück an dieser Entwicklung aktiv beteiligen (z.B. eben mit unserem Sprachstil) und staunen.
Also: Blickkontakt oder der Blick fürs Wesentliche?
Ganz klar: es dreht sich alles in erster Linie um visuelle Referenzen. Nichts desto trotz geht es auch um uns. Wir nehmen in der Entwicklung unserer Kinder nämlich eine wichtige Rolle ein, indem wir auf unseren Kommunikationsstil achten, ganz im Sinne deklarativer Sprache – und zudem lernen, dem Kind genug Zeit zur Verarbeitung zu schenken.
Ich bin gespannt, was daraus alles entstehen kann.
Viel Erfolg!
Literaturliste
Vermeulen, P. (2024). Autismus und das prädikative Gehirn. Absolute Denker in einer relativen Welt. Freiburg im Breisgau: Lambertus
- K. Murphy. (2020). Declarative Language Handbook. Using a Thoughtful Language Style to Help Kids with Social Learning Challenges Feel Competent, Connected, and Understood.
—–) S. 49 – 69. Unter ‘Part 3: Mechanics’ stehen ganz viele Beispiele für geeignete Formulierungen betreffend deklarativer Sprache notiert, die sich übrigens auch für die Begleitung von autistischen Kindern und Jugendlichen mit PDA-Profil hervorragend eignen.
Thinking Beyond Eye Contact part 1
Thinking Beyond Eye Contact part 2
https://www.lindakmurphy.com/author
„Intersubjektivität hat mindestens zwei Voraussetzungen: genügend Gemeinsamkeiten als Basis für Gespräche zu teilen und sich auf gemeinsame Aufmerksamkeit einzulassen. Was ist mit gemeinsamer Aufmerksamkeit, der zweiten Voraussetzung für „auf einer Wellenlänge sein“? Gemeinsame Aufmerksamkeit bedeutet, dass sich zwei Personen absichtlich auf dieselbe Sache konzentrieren. Genauer gesagt, wenn zwei Menschen ihre Aufmerksamkeit gezielt aufeinander abstimmen, entsteht gemeinsame Aufmerksamkeit.“ Ashley Peacock
https://uxdesign.cc/overcoming-the-double-empath
y-problem-through-co-design-5ce8e6e8f7b0
“Sobald sich zwei Menschen begegnen, blicken Sie sich in die Augen – aus gutem Grund: Dabei passiert mehr als ein simpler Blickkontakt. Die nonverbalen Blickwechsel signalisieren Akzeptanz, Interesse und Sympathie. Wir erkennen daran, ob wir unserem Gegenüber vertrauen oder glauben können.”
Aber:
“Länger als 3,3 Sekunden am Stück sollte man seinem Gegenüber nicht in die Augen sehen. Ein längerer Blickkontakt wird tendenziell als bedrohlich eingestuft und verspielt Sympathiepunkte.”
https://karrierebibel.de/blickkontakt/
“In conclusion, we argue that due to inadequate validity evidence and serious conceptual limitations, researchers and clinicians should stop using the Eyes Test.“ #autism
Ähnliches Thema von mir:
Interessantes aus dem Leben von Autist*innen auf X:
Neurodivergent_lou (@neuro_lou) hat an 10:51 PM on Mo., März 18, 2024 gepostet:
As an Autistic Person, I tried to make eye contact to not seem ‘rude’ or ‘disinterested’ but ended up starring too intensely, which came across ‘creepy’…
#Autism #Disability #Neurodiversity #Disability https://t.co/LaQDxcrRn2
(https://x.com/neuro_lou/status/1769844078047367252?t=Hv0VBH2zXOpjrNj_L-9YMw&s=03)
Callum Stephen (He/Him) (@AutisticCallum_) hat an 6:33 PM on Mo., Mai 01, 2023 gepostet:
Autistic people are often misread as flirting when we are only being friendly. This can happen if: our minimal eye contact is misread as coyness; our mask is so enthusiastic we seem “too friendly”; and our stims match flirtations (eg hair twirling and lip reading/biting/licking).
(https://x.com/AutisticCallum_/status/1653075295493029888?t=CxDbypHGwW7kgRDEizzZXQ&s=03)
RҽႦσɾɳ Rυϝϝιαɳ (@RebornRuffian12) hat an 5:40 AM on Sa., Okt. 05, 2024 gepostet:
Still cackling because the person who assessed me and gave me my ASD dx said, and I quote „Your eye contact is surgical“.
(https://x.com/RebornRuffian12/status/1842409392915763589?t=r8AIwZN0opoEQLHA0WBNAw&s=03)
Myrna Foster (@MyrnaFoster) hat an 5:49 AM on Sa., Okt. 05, 2024 gepostet:
Yeah, my parents made it unsafe for me to be myself as a child, so I practiced eye contact and facial expressions in front of a mirror. And I mostly stopped stimming, but I’m finding that stimming reduces my anxiety better than just about anything.
(https://x.com/MyrnaFoster/status/1842411760625782819?t=Qg1YxW9UklgH6l4-qXB6AA&s=03)
ShadowFax (@ShadowF86455443) hat an 11:27 PM on Di., Aug. 24, 2021 gepostet:
Wir haben keine #Autismus Diagnose. Warum? Weil der FACHARZT es für normal hält, dass 2jährige in grammatikalisch korrekten Schachtelsätzen reden. Alle (!) Autisten sind non-verbal. Auf die Schuhe gucken = Blickkontakt. Und alle (!) Autisten sind wie Rainman. #Unsichtbar
(https://x.com/ShadowF86455443/status/1430280628331765762?t=5_mcBQydF5oqe4iJxURWyw&s=03)
marlies (@outerspace_girl) hat an 10:11 AM on Mi., Jan. 27, 2021 gepostet:
In dem Text wird ein Punkt angesprochen, der im Zusammenhang mit Autismus immer wieder thematisiert wird: Blickkontakt. Ich war lange stolz darauf, wie gut ich Blickkontakt „vortäuschen“ kann, indem ich auf die Nasenspitze oder die Nasenwurzel schaue. Das bin ich nicht mehr.
(https://x.com/outerspace_girl/status/1354356308678422536?t=JnZQ9P3XlxOGMNbTbY9gSQ&s=03)