Warum nicht jede Omelette gegessen wird – mein 11-jähriger Sohn mit Asperger Syndrom ist ein Musterdenker 

(= zweite Form visueller Denker)

 

 

Musterdenker

Während mein 6-jähriger Sohn mit atypischem Autismus ein “Bilderdenker” ist – so gehört mein 11-jähriger Sohn mit Asperger Syndrom mehr in die Kategorie “Musterdenker”. Beides sind visuelle Denker – mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden jedoch. Beide – Bilderdenker und Musterdenker – greifen mit ihrem Detailsehen auf ihre innere Google-Bilder-Datenbank zurück. Allerdings ist das gegenständliche Denken (Bilderdenken) und das räumliche Denken (Musterdenken) an unterschiedlichen Orten im Gehirn “zu Hause” – ersteres im visuellen Cortex und letzteres im Parietallappen. (Vgl. Georg Theunissen.)

 

“Auch hierbei kommt es zu assoziativen Denkleistungen. Die sich jedoch nicht auf fotorealistische Bilder, sondern auf Muster, Formen oder Strukturen beziehen.” Georg Theunissen

 

Schmale, runde Dinge mit Kn – lange, dünne mit Str

Ein hochbegabter und strukturhaft-mathematischer Denker ist nach Georg Theunissen ganz sicher Daniel Tammet. In der Art lernt er auch Sprachen – und er spricht viele Sprachen. Das Denken in Mustern hilft ihm auch dabei. So fand er heraus, dass schmale, runde Dinge oftmals mit Kn beginnen – Knoblauch, Knopf, Knospe, schmale und lange mit Str wie Strand, Strasse, Strahlen.

 

Origami

Mein älterer Sohn hat schon im Kindergarten mit seinen Origamikünsten brilliert und sogar selber welche entwickelt und für alle anderen Kinder auf einem Plan festgehalten. Um solche Leistungen zu vollbringen, braucht man eine sehr differenzierte Wahrnehmung für Formen, Muster und Strukturen.

 

Mandalas

Auch in der Natur inspirierte es ihn, Stiele, Blätter, Steine etc. in Symmetrien nach Ähnlichkeiten und Gegensätzen anzuordnen. Es entstanden den Mandalas ähnliche Gebilde – wunderschöne Kunstwerke.

 

 

Rubik`s Cube

Letztendlich ist auch der Rubik`s Cube nichts anderes als ein Algorhythmus fürs räumliche Drehen und Wenden. Wieder geht es um Formen, Muster und Strukturen. Mein Sohn hat eine beachtliche Sammlung an solchen Würfeln, Pyramiden etc.

 

Omeletten

Omeletten sind unser family soul food. Für meinen Sohn sind sie noch weit mehr – ein Gebilde zufälliger Strukturen und unberechenbar (schön). Manche kann er nicht essen und ich muss sie für ihn beiseite stellen – aber ja nicht fortwerfen. Die Formen, Muster und Strukturen lösen in ihm etwas aus. Ob es besonders perfekte Omeletten (Muster) gibt? Oder verwirrt das Fehlen eines Systems bei manchen besonders? So, dass man sie zum Einordnen erstmals aussortieren muss?

 

Hick im Teller

Die Form unserer Teller sind rund. Das ist sehr stimmig. Bei manchen hat es aber einen kleinen Hick oder der blaue Farbrand ist nicht mehr durchgängig aufgemalt durch den häufigen Gebrauch. Aus diesen Tellern kann mein Sohn nicht essen. Der Teller (Muster) ist nicht stimmig.

 

Wie hilft man einem Bilderdenker-Kind sich erfolgreich anzuziehen im Winter? Wie einem Musterdenker-Kind?

Für meinen jüngeren Sohn und Bilderdenker (erste Form visueller Denker) laminierte die schulische Heilpädagogin Fotos der Reihe nach mit den Gegenständen, die angezogen werden müssen. Eine Wäscheklammer zeigt an, was nun dran ist. Erstes Foto sind Schuhe, zweites Foto der Schal, drittes die Jacke … letztes die Handschuhe.

Auch mein älterer Sohn und Musterdenker (zweite Form visueller Denker) fand das im Kindergartenalter überfordernd. Ihm konnte ich einfach die Abläufe durchnummerieren: 1 = Schuhe, 2 = Schal, 3 = Jacke … 5 = Handschuhe. Et voila.

 

Der Hyper-Systemizer – nichts anderes als ein Musterdenker

Baron-Cohen und sein Team formulieren das wunderschön in ihrem concept of hyper-systemizing, warum es Autisten gibt, die in Mustern denken:

 

This is because when you systemize, it is easiest to keep everything constant, and only vary one thing at a time.” (Vgl. Georg Theunissen)

 

Nicht zuletzt wirkt das wie eine intuitive Anleitung, um sich nicht im extrem ausgebildeten Detailsehen zu verlieren, mit Abweichungen klar zu kommen und dies so zur nutzbaren Begabung zu machen. Denn so zeigt sich das visuelle Denken auch hier als besonders leistungsfähig – oder gar leistungsfähiger, als es bei neurotypischen Menschen der Fall ist. Auch wenn das Ziel letztlich ein Miteinander der unterschiedlichen Denkweisen sein soll, was der Schlüssel erfolgreicher Projekte ist (vgl. T. Grandin), so ist es geschichtlich wichtig, dass autistische Fähigkeiten wertgeschätzt und nicht einfach als Kompensationsstrategie ihrer Defizite betrachtet werden. (Vgl. Georg Theunissen.) 

 

Neurodiversität ist eine Chance für unsere Gesellschaft. Das Umdenken hat begonnen – steht in den Startlöchern…

 

(Kurze Anmerkung: Autisten sind nicht unbedingt nur visuelle Denker – es gibt auch die verbalen Denker und Wortspezialisten etc.)

 

Literaturliste

Grandin, T. (2011). The way I see it. Arlington, TX (Future Horizonts) (2nd es.) (s. 33)

Theunissen, G. Hrsg. (2016). Autismus verstehen. Aussen- und Innensicht. Stuttgart: Kohlhammer. (s. 85-86)

Theunissen, G. (2014). Menschen im Autismus-Spektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer. (s. 81-91)