Vom Erzählen – narrative Kompetenzen für Kinder/Jugendliche im Autismus-Spektrum

Sich verbal mitteilen – was noch vor dem Erzählen kommt

“Ich will einen Schredder!” Mein 6jähriger Sohn mit atypischem Autismus findet den Schredder einfach toll. Er liebt die YouTube Filme, bei denen alles Mögliche geschreddert wird. Nein, er bekommt natürlich keinen – viel zu gefährlich. Aber Wünsche mitteilen, das kann er prima. Auch Bedürfnisse wie etwa, wenn sein Magen knurrt: “Ich habe so fest Hunger! Nach Chips.” Oder wenn sein Bruder einfach das Tablet nimmt, dann kommt klar: “Das gehört mir!” Auch grosse Interessen laden zu Mitteilungen ein: “Was ist das da?” Das fragte er beim Schredder – der uns zumindest gedanklich noch eine Weile verfolgen wird. Auch Kommentare kommen ab und zu, wenn der grosse Bruder gerade nicht in bester Laune ist. Dazu meinte er auch schon: “Er ist `hässig`.” Oder fliegt ein Flugzeug über unser Hausdach, dann ruft er laut und nach Bestätigung suchend: “Ein Flugzeug!” Auch “Gesundheit” wünschen nach einem Nieser – kein Problem.

Aber mir vom Kindergarten erzählen, damit ein Gespräch zustande kommt? Oder was er in der Ergotherapie gemacht hat? Ob er in der Logopädie wieder mit den Autos spielen durfte? Keine Chance. Wenn ein Kind im Autismus-Spektrum erzählt, dann ist es in der Kommunikationsentwicklung schon ziemlich weit.

 

Herausforderung 1: Erzählen als Verarbeitung

Tatsächlich finden es viele Kinder im Autismus-Spektrum sehr herausfordernd zu erzählen, was sie erlebt haben. Irgendwie klappt das einfach nicht. Für meinen jüngeren Sohn scheint beispielsweise dieses Verarbeiten des Kindergartenmorgens durch Erzählen schlichtwegs nicht wichtig zu sein. Oder nicht möglich? Beides? Er ahnt nicht, wie gerne ich seinen Kindergartenmorgen mit etwas Verspätung zuhörend miterleben würde.

 

“Gerade die Bereiche der Einschätzung und Beobachtung des Interesses des Kommunikationspartners sowie die Einbeziehung und das Verstehen des sozialen Kontextes seien vermutlich eng mit dem Bewusstsein über die Perspektive des anderen verbunden.” Kristin Snippe

 

Das entspricht ganz der Empathy Imbalance Hypothesis. Vertreter dieser Hypothese gehen davon aus, dass Primärgefühle wie Trauer, Wut, Angst, Freude etc. auch von Kindern im Autismus-Spektrum mit Bravour wahrgenommen und verstanden werden. Geht es aber um komplexere Gefühle wie Mitleid, Schuld, Eifersucht etc., bei denen das gedankliche Einfühlen in eine Person nötig ist, sowie auch das Erfassen und die Übernahme deren Sicht und Handlungen, sind Kinder im Autismus-Spektrum verwirrt und verstehen die Situation nicht. Hat ein Kind also nicht den Wunsch einen Monolog zu halten, neigt es wohl gerade dadurch – noch ungeübt – eher dazu, gar nichts mitzuteilen.

 

Herausforderung 2: Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden

Für Kinder im Autismus-Spektrum ist es nicht einfach, wichtige Informationen von unwichtigen zu unterscheiden. Das könnte nach dem Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit daran liegen, dass bei einem Kind im Autismus-Spektrum eine erhöhte basale Wahrnehmung stattfindet. Das bedeutet, es konzentriert sich auf die vielen Details in viel grösserem Ausmass, als neurotypische Kinder. Einerseits gilt dies als grosse Begabung – andererseits geht diese Wahrnehmungsbesonderheit oftmals auf Kosten des Überblicks. Um ein Erlebnis erzählen zu können, ist dieser jedoch ein Muss. Es braucht also den Überblick und somit eine Auswahl von wichtigen Details, um etwas erzählen zu können. Diese Selektion bereitet meinem jüngeren Sohn grosse Schwierigkeiten. Ohne diese Fertigkeit ist es für mich einleuchtend, dass das Erzählen von Erlebnissen nicht gelingen kann.

 

Das Erzählen vorbereiten: HOT

Damit das mit dem Erzählen auch funktioniert, ist es unerlässlich, dass Erlebnisse strukturiert werden – bestenfalls auch visualisiert. Besonders `erzählfreundlich` dünkt mich die Arbeit nach HOT – dem handlungsorientierten Therapieansatz. Mit meinem älteren Sohn mit Asperger Syndrom habe ich im Kindergartenalter oft danach gearbeitet. Am Denktisch besprachen wir, was unser kleines Projekt wie zum Beispiel Bananenmilch, Gewürzfarben, Herz-Scherenschnitte, Nase putzen etc. für Zutaten und/oder Materialien und allenfalls Geräte braucht. Diese zeichneten wir auf ein Blatt Papier. Auf dem Arbeitstisch machten wir danach, den gezeichneten Plan lesend, alles parat. Am Denktisch überlegten wir die Abläufe und zeichneten diese auf. Nun musste mein Sohn nach Plan alles möglichst selbständig bewältigen – bis hin zum Resultat. Und das Gute daran – bestens strukturiert und visualisiert eignet sich dies mit Bravour zum Erzählen.

Bananenjoghurt machen

 

Das Erzählen vorbereiten: Fotodokumentation

“Das gemeinsame Bearbeiten eigener Erlebnisse mittels Fotodokumentation (bei älteren Kindern selbständig angefertigt, bei jüngeren Kindern unter Mithilfe der Eltern*) bietet eine Möglichkeit, narrative Elemente vorzubereiten.” Kristin Snippe

*oder Lehrpersonen, Verwandte, Therapeuten etc.

 

So können auch eine Schulreise, der Ausflug in den Spielpark, Waldtag, Flussbeobachtung, Familienferien, Reittherapie etc. als Erzählanlass dienen.

 

Wem erzählen?

Kristin Snippe empfiehlt, dass man die Erlebnisse einer dritten Person erzählt. Natürlich gleicht das so viel eher den natürlichen Situationen, als wenn Erlebnisse in der Logopädie aufbereitet und sie wiederum derselben Logopädin erzählt werden, die ja schon alles weiss.

Zu Hause klappt dies im Handy-Zeitalter prima. Die Fotos sind parat, wenn die Grosseltern oder die Patentante auf Besuch kommen, Papi abends dann von der Arbeit nach Hause oder ich mich freue, bis mein kleiner Sohn von seinem Ausflug mit Papi an den Zürichsee wieder zu Hause eintrifft.

 

Spezialfall: Der Hyper-Systemizer

Baron Cohen und sein Team haben eine Theorie entwickelt, die sich Empathising-Systemizing Theory nennt. Darin erwähnt er das Concept of Hyper-Systemizing. Mein älterer Sohn denkt in Systemen – wie auch weitere 65% aller Menschen im Autismus-Spektrum. Das macht für ihn die Welt durchschaubar und logisch. Allerdings hat das auch eine grosse Auswirkung auf das Erzählen. Er trennt das System Schule und das System zu Hause akribisch voneinander. Somit erzählt er zu Hause nur minimal von der Schule und ich vermute, umgekehrt ist das auch so. Musste er in der Unterstufe als Hausaufgabe Mengen von Gegenständen seines Zimmers notieren, war es für ihn oberste Priorität, dass diese völlig informationsarm sind. 1 Bett, 2 Fenster, 1 Schrank, 1 Tür, 1 Lampe etc. Nie hätte er erwähnt, dass er 4 Bände Minecraft Geschichten hat, eine Sammlung mit 12 unterschiedlichen Würfeln, 73.50 Franken Sackgeld gespart, 6 Amiibos etc. Das war ihm viel zu persönlich und gehörte nicht geteilt von einem System ins andere.

 

Life Hacks zum Thema “Erzählen”

Bei Kindern im Autismus-Spektrum bringen Fortschritte in den sprachlichen Kompetenzen – anders als bei Kindern mit Spracherwerbsstörungen – keine Fortschritte in den konversationellen Kompetenzen mit sich, so zitiert Kristin Snippe in ihrem Buch “Autismus – Wege in die Sprache” Tager-Flusberg und Anderson (1991). Also muss das Erzählen gelernt werden. Hier ein paar Ideen aus ihrem Buch.

 

  • Erlebnisse in eine Reihenfolge bringen.
  • Erlebnisse sichtbar machen z.B. via Fotodokumentation. (Schon während das Foto gemacht wird, weiss das Kind mit der Zeit: Das muss ich dann erzählen.)
  • Erlebnisse, die nun aufbereitet sind, einer weiteren Person erzählen.
  • Das Kind und z.B. die Logopädin bilden ein `Erzähl Team`, wenn sie sich zum Erzählen an eine weitere Person wenden.
  • Andere Person ist eingeweiht und fragt gezielt nach.
  • Möglichst geschlossene und nicht offene Fragen stellen.
  • “Gesprächsfähigkeiten” hängen eng mit der kognitiven Empathie zusammen. Es beeinflusst sich beides gegenseitig.
  • Mit der Zeit nicht nur dem roten Faden nach Erlebnisse erzählen. Nachfragen, wie sich dieses auf jenes bezieht mit: Warum …?

 

“Insgesamt sollte in Therapie und Alltag der Kinder also ein Raum für die gezielte Förderung des Erzählens und des gemeinsamen Erlebens gegeben werden, in dem das Wissen und Erleben des anderen für das autistische Gegenüber sichtbar und explizit gemacht wird.” Kristin Snippe

 

  • Es dürfen also Schneemänner geklebt werden oder Erdbeermilch gemixt, Brio Bahn gespielt, Laubsägearbeiten in Angriff genommen, Lollis gebacken, der Kopierer im Lehrerzimmer begutachtet, draussen Kastanien gesammelt, Puppenhaus gespielt, Seifenblasen gepustet etc. Alles im Sinne der Lebensfreude (Interessen des Kindes!) und der narrativen Kompetenzen. Und wer weiss: Vielleicht schafft sich ja auch irgendwer mal einen Schredder an 😉 .

 

Literaturliste

Snippe, K. (2013). Autismus. Wege in die Sprache. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag.

Theunissen, G. (2004). Menschen im Autismusspektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer.

Weigel, I., Reddemann-Tschaikner, M. (2002). HOT – ein handlungsorientierter Therapieansatz für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen. Stuttgart: Thieme.