Staubsaugerfrust, Zwiebelduft und Badelust – von der autistischen Wahrnehmung meiner beiden Kinder

Wahrnehmungsbesonderheiten

Fast alle Kinder im Autismus-Spektrum zeigen Wahrnehmungsbesonderheiten auf. So auch meine beiden Jungs – mein 10jähriger Sohn mit der Diagnose Asperger Syndrom und mein 6jähriger mit atypischem Autismus.

Da ich gleich zwei Kinder im Autismus-Spektrum habe, könnte man auf den ersten Blick meinen: “Oh, wie praktisch.” Jedoch ist autistisch nicht gleich autistisch. Es handelt sich wohl um Wahrnehmungsbesonderheiten bei beiden, aber eine hypersensorische Wahrnehmung ist so ziemlich das Gegenteil einer hyposensorischen Wahrnehmung.

 

“Nach E. Marco und Team (2011) scheinen nahezu alle Kinder (über 96%) im Autismus-Spektrum von Wahrnehmungsbesonderheiten betroffen zu sein, insbesondere von einer Hyper- oder Hyposensibilität gegenüber Geräuschen, Lichtverhältnissen, Temperaturen, Schmerzen, Textilien, Körperberührungen oder Geschmacksstoffe.” Georg Theunissen

 

Es ist also nicht unbedingt nur praktisch gleich mit zwei Kindern im Autismus-Spektrum unter einem Dach zu leben. Meistens ist es eher die doppelte Herausforderung.

 

Der Staubsaugerfrust: kleiner Sohn hypo – grosser Sohn hyper

Theunissen zitiert in seinem Buch “Autismus verstehen. Aussen- und Innensicht.” Tempel Grandin mit einer auch für uns sehr zutreffenden Aussage:

 

“So kann ein autistisches Kind die Geräusche eines Staubsaugers lieben, während sich ein anderes davor fürchtet.”

 

Mein kleiner Sohn liebt den Staubsauger. Ihn fasziniert das Geräusch, welches er sich auf dem Tablet mittels App sogar herunter geladen hat, um sich dieses immer und immer wieder anzuhören. Aber auch die verschiedenen Einstellung mit unterschiedlicher Geräuschintensität ziehen ihn in den Bann. Da gibt es die Einstellung für Teppiche, Vorhänge, Sofas, besonders kräftig und eine ziemlich sanft. Natürlich ist er auch stolzer Besitzer eines Kinder Staubsaugers und in den Toscana Ferien verfügte das Ferienhaus über einen Akku Tischstaubsauger. Mit letzterem saugte er draussen Steinchen, Blätter, Rosmarinnadeln und ab und zu – unbeabsichtigt – sogar eine Ameise ein. Man konnte den Staubsauger mit simpler Handhabung öffnen und den Inhalt wieder ausleeren. (Ameise gerettet.)

All diese Freuden am Staubsauger und scheinbare Steigerung der Lebensqualität, kann mein grosser Sohn nicht nachvollziehen. Der Staubsauger ist für ihn zu laut. Das Geräusch nur Schmerz. Lange konnte ich ausschliesslich dann staubsaugen, wenn er mit seiner Patentante einen Ausflug machte oder in der Spielgruppe war. Noch heute muss ich ihn vorwarnen, damit er die Türe schliessen kann. Und er will wissen, wie lange dies dauern wird.

 

Zwiebelduft: grosser Sohn hypo – kleiner Sohn hyper

Wenn ich meinen kleinen Sohn um 11.50 Uhr vom Kindergarten abhole, ist der Nachhauseweg manchmal eine ziemliche Tortur – vor allem, wenn die Dampfabzüge den Duft angedünsteter Zwiebeln direkt in unsere Richtung blasen. Dann “lupft” es ihn. Sowieso zeigt er starke Reaktionen auf Geschmacks- und Geruchsempfindungen. Als Baby mochte er vor allem Muttermilch. Gefüttert werden wollte er nicht – nur selber. Am liebsten Fingerfood. Es schien mir, als wolle er so die Kontrolle behalten.

 

“Kinder, die Mühe mit der Handhabung und Einordnung sensorischer Informationen haben, nehmen Nahrungsmittel eher an, wenn weniger anregende Nahrungsmittel, wie zum Beispiel jene mit saurem oder bitterem Geschmack, vom Ernährungsplan gestrichen werden.”  Lori Ehrensperger & Tania Stegen-Hanson

 

Leider wird von meinem kleinen Sohn Gemüse auch heute noch als generell zu bitter empfunden – Früchte als zu sauer. Lediglich Bananen, Äpfel, Mangos und süsse Beeren schmecken ihm.

Ganz anders mein älterer Sohn, der seit dem Buggy Alter bereits Radieschen isst, Kohlrabi mag und Gerichte mit Wirz liebt.

 

Badelust: kleiner Sohn hypo – grosser Sohn hyper

Mein grosser Sohn mag Berührungen schon seit jeher nur dosiert und “selbst geholt”. So ist die Dusche ein no go, da der Strahl auf der Haut schmerzt. Wir lösten das Problem mit Schaumbädern und einer Schüssel zum Waschen der Haare. Jetzt in der Mittelstufe sollten die Kinder langsam zur selbständigen Körperhygiene nach dem Turnen hingeführt werden. Aber solange die Schule keine Badewannen führt – unmöglich. Das wird auch akzeptiert und wir Eltern können getrost aufatmen.

Mein kleiner Sohn hingegen konnte sich schon, bevor er zwei Jahre alt war, mitteilen: “Dusche spielen.” Er setzte sich in die Dusche und liess mit der Brause das Wasser über die Haut perlen. Es schien mir, als würde das die Körperwahrnehmung erhöhen und somit als sehr, sehr angenehm empfunden.

Doppelte Herausforderung?

Nein – nicht wirklich. Ich glaube, wenn man als Eltern, Lehrpersonen, Therapeuten etc. einmal das Autismus-Spektrum verstanden hat, dann ist man ein guter Beobachter und trainiert auf Herausforderungen zu reagieren oder abzuwarten, anzupassen oder zuzulassen etc. Somit muss sich das keineswegs verdoppeln – ausser man hat selber mal einen schlechten Tag. Dann vervielfacht es sich für alle Beteiligten. Aber auch das gehört dazu. Wir sind keine Roboter.

 

Ein paar Life Hacks bei Überempfindlichkeiten

“Dabei werden vor allem Überempfindlichkeiten als ein zentrales Merkmal herausgestellt, die sehr oft als stresshaft, angstauslösend oder aversiv erlebt werden und dementsprechend bewältigt werden müssen.” Georg Theunissen

 

  • Situationen verlassen oder vermeiden, die eine Überempfindlichkeit auslösen. So gehen wir beim Abschlussfest des Kindergartens oder der Theateraufführung in der Schule mit vielen, vielen Menschen sicher nie als letzte nach Hause. Aber ein bisschen muss sein.
  • Überempfindlichkeiten kommunizieren und sagen, was man will. Mein älterer Sohn macht das zum Beispiel so beim Coiffeur.
  • Auch Stimming kann grossen Stress erträglich machen als mentale Verhaltenskontrolle quasi. Darum sollte man das respektieren.
  • Erkennen autistische Personen ihren Stress nicht rechtzeitig, um diesen sozial verträglich zu bewältigen, sollen die Umkreispersonen präventiv intervenieren und sie somit vor einem sensorischen Overload schützen.
  • Bezugspersonen müssen sich auf bestimmte Ab- oder Zuneigung einstellen. Zum Beispiel beim Thema Essen. Für mich heisst das, dass ich Puristenküche biete. Zusammengemischt wird selber nach eigenem Gusto. Oder eben nicht.
  • Eng verbunden mit der Übersensibilität ist eine sogenannte Filterschwäche, über die manche Personen im Autismus-Spektrum klagen. Für die Schule kann das heissen, dass das Kind falsch aufmerksam ist und nicht weiss, welcher sensorischer Eindruck nun wichtiger ist, ob nun das Rascheln der Blätter zentral ist, die vorbeifahrende Ambulanz oder vielleicht doch die Stimme des Lehrers, der schliesslich leicht verzweifelt seufzt: “Das habe ich dir nun schon 3x gesagt.” (Prinzipiell kann “alles gleichzeitig wahrnehmen” aber auch als Stärke angeschaut werden.)
  • Und ja – mit dem Alter wird es einfacher. Man vermutet keinen Trainingseffekt – sondern das altersbedingte Nachlassen des Gehörs, des Geschmackes etc.

 

(Georg Theunissen)

 

Literaturliste

Theunissen, G. Hrsg. (2016). Autismus verstehen. Aussen- und Innensicht. Stuttgart: Kohlhammer.

Ehrensperger, L., Stegen-Hanson, T. (2015). Probier doch mal. Handbuch. St. Gallen: Autismusverlag.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert