Von 0 auf 100, Äpfel mit Birnen vergleichen und meinem Urvertrauen als Mutter

Äpfel mit Birnen vergleichen

Über die Entwicklung neurotypischer Kinder ist viel Wissen da. Es sind zum Beispiel Reihenfolgen von Entwicklungsschritten bekannt, und bei einer Abweichung kann reagiert werden. Darum zählen auch alle Mütter bei ihren 24 Monate alten Kindern die Wörter und hoffen, dass es mindestens 50 sein werden. Anders sieht es aus, wenn es sich um eine autistische Entwicklung dreht. Immer wieder geraten wir in Versuchung, diese an einer neurotypischen zu messen. Es kommen mir dabei die Erkenntnisse des Modells der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit in den Sinn, dass IQ Tests durch das andere Denken autistischer Personen mit hauptsächlich frühkindlichem Autismus somit Resultate ermitteln, die den Möglichkeiten und Fähigkeiten dieser Menschen nicht gerecht werden. Man kann Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Der Apfel wäre sonst pathologisch – eine falsche Birne.

 

Bottom-up und top-down

Nimmt ein Mensch einen Reiz wahr, wird dieser normalerweise von einer niederschwelligen Ebene zur höheren Ebene verarbeitet. Niederschwellig oder bottom-up heisst, so erklärt Theunissen, dass elementare Eigenschaften oder Daten eines Gegenstandes verarbeitet und aufgenommen werden, wie zum Beispiel die rote Farbe eines Balles. Die höhere Ebene oder eben der Top-down-Prozess steht für Begriffsbildungen oder Kategorien wie zum Beispiel verschiedenfarbige, unterschiedlich grosse Bälle. Diese laufen unter dem Oberbegriff Objekt zum Werfen.

 

“Im Unterschied zu nicht-autistischen Personen ist bei Menschen im Autismus-Spektrum-Spektrum das Wahrnehmungssystem von Natur aus (Mottroon 2015) auf die Erfassung und Verarbeitung lokaler Reize auf der “Bottom-up-Ebene” ausgerichtet. Dies betrifft zum Beispiel das frühe Wahrnehmen von Eigenschaften eines Objektes. Ein Erkennen, Erfassen und Speichern von visuellen Mustern, Strukturen, Tönen o.Ä.” Georg Theunissen

 

Nach dem Modell der erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit sind auch meine beiden autistischen Söhne eben aufgrund dieser Wahrnehmungsbesonderheit  “bottom-up-Spezialisten” und zeigen darin grössere Fertigkeiten als nicht-autistische Menschen, was auf Kosten des raschen Überblicks geht. Dies liegt nicht-autistischen Menschen wiederum mehr. Aber aufgepasst – Äpfel und Birnen eben.

 

Einen Exkurs in die Zeichnungsentwicklung meines jüngeren Sohnes

Wenn die heilpädagogische Früherzieherin mit dir zeichnete, hast du immer Spuren mit Farbe auf dem Blatt hinterlassen. Nichts Gegenständliches. Das deutete scheinbar auf eine verspätete Zeichnungsentwicklung hin. Ganz selten hast du mir aber einen kleinen Einblick gewährt, wo du in dieser Entwicklung gerade stehst. Somit wusste ich, dass du bereits gegenständlich zeichnen kannst. Man kennt ja die Mütter, die immer finden: “Aber zu Hause kann er es.” Und dennoch, genau das sagte ich mit leicht mulmigen Gefühl immer wieder und ahnte, dass mir ab und zu insgeheim unterstellt wurde, ich würde meine Realität etwas zurechtbiegen.

Irgendwann hast du dann begonnen ein Auto zu zeichnen. Das wirklich wie von 0 auf 100. Klar, als “bottom-up-Spezialist” dauert das halt um einiges länger. Dein erstes Auto bestand darum sogleich aus Fenstern, Steuerrad, Türschloss Auspuff etc.

 

Einen Exkurs in die Welt der Buchstaben meines jüngeren Sohnes

Als ich an einem schulischen Standortgespräch nachdoppelte, dass du trotz ISR Status ein drittes Kindergarten brauchen würdest, stand im Raum, ob du dich denn für schulische Inhalte schon interessierst. Ich verneinte. Gleichzeitig aber startete ich mit Spielereien zum Thema Buchstaben. Wir zeichneten einen Pac Man, schnitten den aus und liessen ihn Buchstaben lautierend essen. Zur selben Zeit kam in einem Kindertrickfilm SOS vor – zwei Mäuse befanden sich in der Mausefalle gefangen und riefen um Hilfe. Du hast darauf hin Papier und Bleistift gezückt und mit Schreiben gestartet: SOS. Anschliessend fragte ich dich, ob du mir das Wort “Mami” schreiben willst. So notiertest du darunter: MANI. (Fast korrekt.) Und seither hast du nicht mehr geschrieben. Ich weiss nun selber nicht, ob du tatsächlich schreiben kannst. Darf ich allen mitteilen, dass du ein drittes Jahr Kindergarten brauchst? Ja, das darf ich. Und auch, dass du kein Interesse an schulischen Inhalten zeigst?

 

Einen Exkurs in die selbständige Bewältigung des Kindergartenweges meines älteren Sohnes

Ich habe dich gut 1 ½  Jahre lang auf dem Kindergartenweg begleitet. Immer, wenn ich das Gefühl bekam, nun seien wir dem Ziel nahe, trat eine neue Herausforderung auf. So ein Kindergartenweg ist aber auch hoch komplex. Einmal hält die Grüntour mit Getöse gleich neben dir an, dann rattert der Milchtank Laster viel zu schnell (trotz Zone 30) an dir vorbei, ein Hund rennt auf dich zu, Katzen streichen um deine Beine, Nachbar Willy fängt mit dir Small Talk an, ein Moped überholt gar nahe an dir, es beginnt zu regnen, ein Möbeltransporter hat auf dem Trottoir geparkt, etc. Zuerst dachte ich, es ginge mit “immer ein Stück selbständiger”. Aber das klappte gar nicht. Es schien mir, als würdest du Situationen sammeln. Nach 1 ½ Jahren hatte ich mein Vorhaben ad acta gelegt, dass du dies alleine können solltest. Und plötzlich warst du parat und wolltest gleich alles alleine in den Angriff nehmen. Nicht bloss ein Stück nur. Du hast das mit Bravour geschafft. Ich war etwas überrumpelt.

 

Wirklich von 0 auf 100?

Ich muss zugeben, dass diese Wahrnehmungsbesonderheit tatsächlich so wirkt – wie von 0 auf 100. Um bei 100, dem erfolgreichen “top-down” quasi anzukommen, wird von meinen Jungen zuerst ganz viel “bottom-up-Arbeit” geleistet und schier unendlich viele Daten und Eigenschaften gesammelt. Das geht gefühlt von 0 – 99 und bleibt oftmals unsichtbar, dauert und gewährt nur den Personen, die fast durchgehend um das Kind sind, einen sporadischen Einblick in den aktuellen Entwicklungsstand.

 

Urvertrauen

Dass ich über diesen mehrheitlich unsichtbare Entwicklungsschritt meiner Kinder schreiben muss zeigt, dass ich manchmal selber nicht weiss, woher ich dieses Urvertrauen nehme, dass es sich nicht um Stagnation, sondern um Entwicklung handelt. Kann man über sich selber staunen?

 

“Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.” Antoine de Saint-Exupery

 

Als Mutter erlaube ich mir, mich auf meine Intuition zu verlassen. An meine Kinder zu glauben. Dass es gut kommt. Äpfel und Birnen.

 

Literaturliste

Theunissen, G. Hrsg. (2016). Autismus verstehen. Aussen- und Innensicht. Stuttgart: Kohlhammer.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert