Seit kurzer Zeit habe ich Twitter entdeckt. Mit Freude stellte ich fest, dass sowohl Spectrum als auch Michelle Dawson meinen Hunger nach neuen Forschungsergebnissen rund um das Autismus-Spektrum stillen.
Seiteninhalt
Auslösende Umgebungsfaktoren oder eben doch Gene?
Ich mag die neueren innovativen Erklärungsansätze für Autismus wirklich sehr, gerade dadurch, dass Autismus nicht mehr als zu eliminierende Krankheit betrachtet wird, sondern als neurologische Variante des Seins (vgl. Theunissen).
Viele Autismusforscher nehmen an, dass eine genetische Vulnerabilität und auslösende Umgebungsfaktoren zu dieser Variante des Seins führen können. Und bei den zwei Wörtern “auslösende Umgebungsfaktoren” bringt man bestimmt jede Mutter autistischer Kinder unter Druck, wenn sie retrospektiv ihre Schwangerschaft und Geburt durchgeht.
Vertreter der intense world theory beispielsweise vermuten, dass schon die kleinste Menge an Alkohol zu einem hyperreaktiven Gehirn führen kann. Und ja, ich stiess einmal in der Schwangerschaft mit einem Glas Sekt auf das neue Arbeitszimmer an – nur ein winzig kleiner Schluck. Auch verzichtete ich nicht gänzlich auf den Morgenkaffee. Ganz selten gab es mal ein Paracetamol gegen Kopfschmerzen.
Mütter sind oftmals Meisterinnen darin, sich in Schuldgefühlen zu wälzen – ein gefundenes Fressen also, was die Forschung da für Hypothesen erstellt hat. Aber innerlich weiss man dennoch, dass der Milchkaffee morgens mit wenig Koffein unmöglich der auslösende Umgebungsfaktor für Autismus gewesen sein kann, vor allem dann, wenn man die Verwandtschaft einmal unter die Lupe genommen hat.
In unserem Fall sehe ich Anteile genetischer Risikofaktoren zudem in smarten Vätern und high sensitiv Müttern. Ersteres ist bewiesen. Das mit den high sensitive Müttern jedoch nur eine Hypothese meinerseits.
Smarte Väter
Mein Mann ist so ein smarter Vater. Ich finde ihn sehr intelligent und auch menschlich total auf der Höhe. Ja, ich würde ihn immer wieder aus Millionen von Männern auswählen – genau den will ich 🙂 .
Schon Kanner und Asperger haben bemerkt, dass auffallend oft intelligente Männer aus nicht selten technischen Berufen autistische Kinder haben.
“So (nach dem concept of hyper systemizing aus der male brain theory) gebe es eine höhere Rate an autistischen Kindern in Familien mit Vätern oder Grossvätern, die Mathematiker, Physiker oder Ingenieure seien (ebd. 252).” Georg Theunissen
Und tatsächlich haben Väter mit überdurchschnittlichem IQ (111 oder höher) eine 32% höhere Wahrscheinlichkeit für autistische Kinder also solche mit einem durchschnittlichen IQ (vgl. Renee Gardner). Aber natürlich erklärt der IQ der Väter nicht, warum sich ein Kind nun im Autismus-Spektrum befindet.
Da die Daten beim schwedischen Militär gesammelt wurden, fehlen Daten über die Intelligenz der Mütter. Zudem möchte ich mich davor distanzieren, dass in der heutigen Zeit Fähigkeiten, die als Ingenieur, Physiker und Co geschätzt werden, nicht auch in traditionellen Frauenberufen von Vorteil sind. Ich bin mir sicher, dass es ganz viele smarte Frauen gibt, aber möglicherweise findet man die nicht im Militär.
High sensitive Mütter
Thomas Girsberger erwähnt in seinem Buch “Die vielen Farben des Autismus” das Konzept der Hypersensitivität.
“Eine prominente Vertreterin dieses Konzeptes, Birgit Trappmann-Knorr, zählt als typische Eigenschaften eines Hochsensitiven u.a. folgende auf: schreckhaft, berührungsempfindlich (Stoffe auf der Haut!), geruchsempfindlich, Abneigung gegen Veränderung und Unvorgesehenes, grosser Wortschatz, Hang zum Perfektionismus, detailorientiert usw. (Trappmann 2010).” Thomas Girsberger
Ich teile somit einiges mit meinen beiden Söhnen – auch ohne autistisch zu sein. Laut Girsberger passt das sehr gut in sein Verständnis des Autismus-Spektrums, da es sich ja um einen nahtlosen Übergang von neurotypisch bis hin zu autistisch handelt. Für ihn füllen hochsensitive Menschen, ob weiblich oder männlich, die Lücke zwischen neurotypisch und Asperger Syndrom aus.
Fazit – smarte/sensitive Gene und perfekte Kinder
Natürlich lässt es sich nun vermuten, dass genetisch sowohl die smarten Gene als auch die sensitiven dazu beitragen, dass wir als Eltern eher zu autistischen Kindern neigen. Aber so ganz genau will ich das nicht wissen. Ich bin mir aber sicher, dass der Vererbung ein viel höherer Stellenwert zukommt, als es die Umgebungsfaktoren tun. Ich habe dadurch auch Respekt vor der Vorstellung, dass bei einer allfälligen Identifizierung der Gene das Ziel die Selektion sein könnte – für mich als Mutter zweier perfekter Kinder, mein älterer Sohn mit Asperger Syndrom und der jüngere mit atypischem Autismus, eine grausame Vorstellung.
Ist es denn erstrebenswert so zu sein wie alle? Ist das wirklich ein Gewinn für eine Gesellschaft? Kaum.
Unsere Familie ist alles andere als Durchschnitt – wenn auch nicht wegen smart und high sensitive. Unsere Aufgabe ist es folglich, dass wir lernen uns mit dieser innerfamiliären Vielfalt wohlzufühlen und sie dadurch in der Gesellschaft entdecken. Wir sind nämlich nicht alleine damit.
“Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.” Mahatma Gandhi
Man erwacht als Eltern autistischer Kinder. Plötzlich beginnt man zu sehen, was vorher nicht vorhanden schien. Vielfalt bereichert eine Gesellschaft. Wir sollten uns nicht verstecken, damit Inklusion zur Selbstverständlichkeit wird. Alle sollen dadurch erfahren, dass man selber vielfältig sein darf. Wäre das nicht eine enorme Entlastung?
Literaturliste
Gardner R. M. et al J. Am. Acad. Child Addesc. Psychiatry Epub ahead of print (2019) Publied. (Twitter: Spectrum und Michelle Dawson)
Girsberger, Th. (2014). Die vielen Farben des Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung. Stuttgart: Kohlhammer.
Theunissen, G. (2014). Menschen im Autismus-Spektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer.