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Der Mensch – ein soziales Wesen
Mein grosser Sohn mit Asperger Syndrom und mein kleiner mit atypischem Autismus brauchen beide – so wie alle – Kontakte zu anderen Menschen. Dieses menschliche Grundbedürfnis macht selbstverständlich auch nicht vor Autismus Halt. Die Art und Weise, wie Kontakte gestaltet und gelebt werden hingegen, ist sehr individuell und variiert von Mensch zu Mensch, und zwar egal ob autistisch oder neurotypisch. Fälschlicherweise wird Menschen im Autismus-Spektrum unterstellt, sie würden gerne für sich sein. Und dieser Mythos hält sich hartnäckig.
“Zu den zahlreichen schädlichen Mythen über Kinder im Autismus-Spektrum gehört, sie seien isolierte Einzelgänger, die Beziehungen weder brauchen noch suchen würden. Das stimmt nicht.” Barry M. Prizant
Dieser Mythos stimmt mich darum so nachdenklich, weil er zu rechtfertigen scheint, dass man Kinder im Autismus-Spektrum separieren darf. Sie wollen ja nicht teilnehmen. Das kommt einer Gesellschaft entgegen, die sich nicht mit “anders” auseinandersetzen will und stagniert. Ich behaupte, dass jeder anders ist und es somit entlastend wäre, wenn man dies auch sein darf. Es würde eine Gesellschaft weiter bringen.
Spielplatzkultur und wilder Westen
Seit “Helikopter-Eltern” in aller Munde sind, die übertrieben fürsorgliche ihr Kind überwachen, wurde es für mich als Mutter autistischer Kinder auf Spielplätzen noch schwieriger. Einerseits wurde mir auch schon “das ist aber eher ein Mutter-Problem” unterstellt, wenn ich mich als pädagogisch diskret präsent zeigte und fast nie auf der von meinen Kindern entfernten Bank Pause machen konnte. (Das wiederum plagt mich nicht, denn habe ich die Energie dafür, kläre ich auf. Ansonsten perlt es an mir ab.) Andererseits ist das der Freipass für Eltern, die keine Verantwortung übernehmen möchten und diese Strömung als sehr bequem empfinden. (Das finde ich weit dramatischer.)
“Alles reguliert sich von alleine.”
Dieser Ansatz von toleriertem wilden Westen macht mich als Mutter autistischer Kinder, für die das keinesfalls gilt, einsam. Es isoliert uns. Meine Kinder brauchen auf Spielplätzen einen Coach: mich. Ich traue mir dies auch zu. Ich leite an, wie man ein Spielzeug ausleiht, wie man vor der Rutsche ansteht oder dass man aus dem Znüniböxli anderer Kinder sich nicht bedienen darf. Das klappt prima. Was mir aber sehr schwer fällt ist, von den anderen Kindern etwas zu erwarten und sie zum Miteinander anzuleiten. Findet dort nämlich ein Fehlverhalten statt, sind mir – ganz nach wild West – die Hände gebunden.
Eltern, Paten, Grosseltern – die Spielpartner
Mit meinem grossen Jungen ging ich oft bei Regen auf den nahe gelegenen Spielplatz. Er sollte diesen anregenden Ort in Ruhe geniessen können – ohne die Überforderung von immer anderen Kindern und meiner – teilweise – Ohnmacht. Alles in allem geht das natürlich auf Kosten der sozialen Interaktion/Kommunikation und es macht mich oder meinen Mann, die Patentante oder die Grosseltern dadurch zu den wichtigsten Spielpartnern für meine Kinder. Das ist eine grosse Verantwortung – und doch fehlt da etwas. Eine konstante, überblickbare Kindergruppe mit Coach. Und das für einmal nicht die Mutter (und Co).
Warum meine Kinder in Kindergruppen einen Coach brauchen
Nach der empathy imbalance hypothesis haben Kinder im Autismus-Spektrum ein sehr gutes Gespür für Gefühle wie Trauer, Freude, Angst, Ärger etc. Aber sobald es sich um komplexere Gefühle wie Scham, Schuld, Eifersucht etc. dreht, bei welchen das gedankliche Einfühlen in Person nötig ist, sowie auch das Erfassen und die Übernahme deren Sicht und Handlungen – wir nennen das vereinfacht “Gedanken lesen”, stossen sie an ihre Grenzen. Und genau das ist in Kindergruppen unerlässlich. Autismus ist also eine extrem schlechte Voraussetzung dafür. Auf Spielplätzen ist es an mir als Mutter, diesen Part des Gedankenlesens zu händeln. Und im Kindergarten, da braucht mein kleiner Sohn eine Klassenassistenz, die ihm hilft, wenn zusammen mit anderen Kindern Brio Bahn gespielt wird oder man draussen auch mit dem Bagger spielen möchte, der aber noch besetzt ist…
Schulische Integration – Coach und Kindergruppe
Bei meinen beiden Söhnen erlebe ich gleich zweimal, wie sich eine erfolgreiche schulische Integration anfühlt. Für mich ist das Rettung aus der Isolation und Hilflosigkeit, wie ich sie auf Spielplätzen trotz vieler Menschen erlebe. Die Quintessenz ist wohl, dass Integration nichts Einseitiges ist. Alle profitieren davon. Das zu integrierende Kind und auch die regulären Schulkinder, welche leben lernen, wie vielschichtig unsere Gesellschaft doch ist. Das geht in der Kindergarten- und Schulklasse in unserem Fall prima. Es wird mit allen Kindern gearbeitet – neurotypisch oder autistisch. Niemand käme auf die Idee im Schulsystem von “alles reguliert sich von alleine” zu sprechen und wild West Kultur zuzulassen. Das, was fehlt, wenn wir Eltern und Verwandten den Part anderer Kinder oder des Coaches übernehmen, wird uns durch eine gelingende schulische Integration geschenkt. Ich weiss darum, wie wichtig dies für die Entwicklung meiner Kinder ist und bin dankbar, dass es die Teams dort in unserem Fall “drauf haben”.
“Mit Inklusion würden Kinder lernen, dass es okay ist, anders zu sein. Dass wir alle anders sind. Eine Utopie, für die es sich zu kämpfen lohnt.” Denise Linke
Ja, es lohnt sich. Nicht nur für meine Kinder, wie es Denise Linke so schön formuliert. Für alle.
Ein paar Life Hacks von Tony Attwood – auf der Suche nach Freunden für Kinder im Autismus-Spektrum
- Tony Attwood empfiehlt, dass man als Eltern beobachten soll, was andere Kinder spielen. Und dann dies zu Hause üben. Dabei geht es keineswegs nur um das Spiel – auch um das Drumherum – was man sagen und tun soll und wann man Spielkameraden mit einbezieht.
Dasselbe empfahl uns unsere Klassenassistenz vom Kindergarten fürs Freispiel dort und wir übten daraufhin daheim Brio Bahn zu spielen.
- Gleichzeitig sollen Eltern und Co so mit dem Kind spielen, als wären sie im selben Alter: Sandkuchen “backen”, Verstecken spielen etc.
- Wie knüpft man Kontakte: “Darf ich mitspielen?” Oder wie grenzt man sich ab: “Ich will jetzt alleine spielen.”
- Tony Attwood findet es sehr wichtig, dass man Fehler im Sozialverhalten erklärt. Oft merken Kinder im Autismus-Spektrum nicht, was ihr Verhalten für Auswirkungen hat.
Bei uns bewähren sich dafür Comic Strip Gespräche.
- Mit einer optimistischen Haltung empfiehlt er zudem, dass man potentielle Freunde einladen soll, und dass dann auch Erwachsene anwesend sind – zum Beispiel die Patentante (so bei uns), die mit den Kindern spielen und noch unsicheres Sozialverhalten des Kindes wettmachen.
- Wie wäre es mit dem Schachclub oder einem Schwimmkurs etc.?. Allerdings muss dort besprochen werden, wie man das angehen will und was sich für Strategien bewähren. (Bei uns noch unmöglich. Kindergarten und Schule erfüllen dies aktuell.)
Literaturliste
Prizant, B. M., Fields-Meyer, T. (2015). Einzigartig anders- und ganz normal. Freiburg: VAK Verlag GmbH.
Schreiter, D. (2015). Schattenspringer 2. Per Anhalter durch die Galaxie. Stuttgart: Panini Verlag.
Attwood, T. (2010). Asperger-Syndrom. Das erfolgreiche Praxis-Handbuch für Eltern und Therapeuten. Stuttgart: Trias.