Kinder im Autismus-Spektrum nehmen Gefühle zu stark wahr. Die Intense World Theory nennt das dadurch “Hyper-Emotionalität”. Die Herausforderung ist es also, mit dieser Intensität an Gefühlen umzugehen und diese zu reflektieren. Natürlich ist es nicht der Moment der Reflexion, wenn mein 10jähriger Sohn mit Asperger Syndrom gerade überfordert ist durch die Intensität seiner Gefühle, die das Kompliment über eine gelungene Geometrieprüfung oder der unauffindbare Tablet Halter unter dem Weihnachtsbaum auslösen können.
Die Empathy Imbalance Hypothesis geht davon aus, dass bei Menschen im Autismus-Spektrum sogar eine erhöhte emotionale Empathie besteht. Erhöht bedeutet, dass auch hier ein Umgang mit diesem Zuviel gefunden werden muss. Bin ich als Mutter genervt, weil ich in der Hektik des Alltags prompt Spaghetti ohne Salz gekocht habe und das erst auf dem Teller bemerkte, stresst dies meinen Sohn erneut sehr, weil er mich zu sehr spürt.
“Das sollte nicht dahingehend gedeutet werden, das Kind verfüge nicht über die Fähigkeit, sich um andere zu kümmern. Vielmehr verwirren die Gefühle anderer dieses Kind oder es hat Schwierigkeiten, seinen eigenen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.” Tony Attwood
Es stimmt also, dass sowohl eigene Gefühle als auch Empathie bei Menschen im Autismus-Spektrum bereits in hohem Masse vorhanden sind und die Anforderung darin liegt, im Alltag damit umzugehen. Bei Kindern geht es meiner Ansicht nach in erster Linie darum, die eigenen Emotionen besser zu verstehen, auszudrücken und zu erkennen.
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Eigene Emotionen verstehen
Das Verständnis über die eigenen Emotionen ist ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung autistischer Kinder.
“Dazu gehört, dass Emotionen an- und ausgesprochen werden, sie müssen spielerisch geübt werden.” Remschmidt & Kamp-Becker
Das heisst, dass in dem Moment, wenn das Kind ein Gefühl erlebt, die Bezeichnung dafür eingeführt werden muss. Natürlich muss beachtet werden, dass dadurch bei grosser Überforderung des Kindes nicht noch zusätzlicher Stress verursacht wird oder bei Freude, diese gemindert wird. Mit Fingerspitzengefühl muss beurteilt werden, ob das wirklich immer sofort sein muss.
“Das Grundprinzip besteht darin, immer ein Gefühl in den Mittelpunkt zu stellen. Erkunden sie das Gefühl ‚glücklich‘ und geben sie dem Kind so viele Beispiele wie möglich. (…) Sobald eine spezielle Emotion und die verschiedenen Ausdrucksebenen verstanden worden sind, kommt die nächste Phase, die darin besteht, mit der entgegengesetzten Emotion ‚traurig‘ ebenso zu verfahren. (…) Sobald dieses Prinzip erfasst ist, können auch andere emotionale Zustände zur Sprache gebracht werden, insbesondere Wut, Ärger und Frustration, aber auch positive Emotionen wie Liebe und Zuneigung, Befriedigung und Überraschung; ferner auch komplexe Emotionen wie Stolz, Eifersucht und Verlegenheit.” Tony Attwood
Mein grosser Sohn freute sich immer, wenn er Schätze im Wald fand – sei das Lehm oder Walderdbeeren oder Binsen zum Flechten: “Du freust dich, wenn du einen Schatz findest.”
Wurde das Gefühl verstanden, kann das Kind dieses nun in weiteren Situationen erleben und diese eine Erfahrung schliesslich zu ganz vielen verbinden.
“Du freust dich, wenn du Waldschätze findest, du freust dich, wenn du mit Papi den Weihnachtsbaum aussuchen gehst, du freust dich, wenn du auf dem Spaziergang einen Käfer bis hoch auf den Berg zum Brunnen tragen darfst.”
Eigene Emotionen ausdrücken
“Auch das Ausdrücken von Emotionen muss erlernt werden, um den Betroffenen in seiner Affektregulation zu unterstützen.” Remschmidt & Kamp-Becker
Hier machen nun Gefühlsbilder Sinn. Ob das oft beobachtete Vermeiden von Blickkontakt von Personen im Autismus-Spektrum nun an einer überreaktiven Amygdala nach der “intense world theory” liegt oder der Grund dafür die Augenbewegungen sind nach der “Theorie über eine Welt, die sich zu schnell bewegt und verändert”, so macht das Betrachten von Gefühlsbildern im Ruhezustand und mit viel Zeit bestimmt Sinn. Dennoch sollte Ros Blackburns Einwand im Buch “Einzigartig anders” dazu nicht vergessen werden: “Das Problem ist, dass Menschen nicht so schauen.” Das Gefühl muss also bekannt sein und die Situation dazu präsent, wenn man mit Gefühlsbildern als eine “Annäherung an einen universellen Gesichtsausdruck” für ein Gefühl zu arbeiten beginnt.
Neben den Gefühlsbildern werden auch noch Masseinheiten für Emotionen empfohlen, um Situationen zu bewerten – zum Beispiel Smileys nebeneinander aufgezeichnet mit Mund vom Lächeln bis hin zum “Lätsch”. Oder ein Stimmungsbarometer ist hilfreich – ein längliches Kartonstück mit den darauf aufgeklebten bekannten Gefühlsbildern mit zusätzlich einer Wäscheklammer, die anzeigt, welches der aktuelle Gefühlszustand ist.
Mein kleiner Sohn spielte heute „nett“ und „böse“ und zeigte immer mittels Filzstift an, welche Rolle nun dran ist:
Cynthia La Brie Norall hat zudem gute Erfahrungen gemacht mit der Bilderbuchreihe “Mister Glücklich und seine Freunde” von Roger Hargreaves. Es handelt sich um ganz rudimentär gezeichnete Figuren mit je einem menschlichen Charakter – schüchtern oder unverschämt oder faul oder unentschieden oder neugierig… Auch damit wird ein Gefühlsausdruck vorgestellt und lässt die Verbindung zu sich selber herstellen.
Emotionen erkennen
Zum Erkennen von Emotionen eignen sich Cartoons sehr gut, da diese einerseits oft überzeichnet sind (Gesichtsausdruck / Handlung) und dazu statisch – nicht so komplex und schnell wie das reale Leben.
Auch Bilderbücher können diesbezüglich unterstützen. Es geht dann darum, die Hinweise zu entdecken, die für die Erkennung der Gefühle wichtig sind. “Was war vorher? Ah, darum…” Auch Fotografien können für diese Suche interessant sein.
Sehr anspruchsvoll ist der Übergang von Büchern, Bildern und Fotos zu realen Situationen. Alltäglich und somit einfacher hat sich bei uns bewährt. Auch Filme bieten oft gutes Material. Für meinen kleinen Sohn waren die DVDs von “Tom und das Erdbeermarmeladenbrot mit Honig” sehr hilfreich, da die Charakteren durchgängig gleich sind.
“Soziale Situationen müssen erklärt und genau besprochen werden, um das Verständnis zu fördern. ” Remschmidt & Kamp-Becker
Das bedeutet, dass man das Kind begleitet – seien das reale Situationen oder Filme oder Bilderbücher.
Eigene Emotionen auszudrücken und die Emotionen anderer zu erkennen, gelingt einfacher, wenn zu Hause bereits eine Kultur diesbezüglich besteht. Es ist hilfreich, wenn man als Eltern die eigenen Gefühle ab und zu benennt und auch das Kind in passenden Situationen nach dem aktuellen Gefühlszustand befragt.
Die wichten zwei Fragen nach Remschmidt & Becker-Kamp sind: “Wie fühlt sich der wahrgenommene Mensch? Wie fühle ich mich selber?”
Achtung: der selbsternannte Forscher
Mein Sohn versteht die Gefühle anderer Leute nicht immer. Das führt manchmal zu sehr herausfordernden Situationen. Vor allem, wenn er sich als Forscher betätigt.
“Ist ein Mensch nicht imstande die Gefühle anderer Leute zu verstehen, so besteht die Gefahr, dass er sich als selbsternannter Forscher betätigt und psychologische Experimente anstellt, um die Reaktionen anderer Leute auf Behauptungen von ihm zu erkunden, die eine sehr starke emotionale Reaktion auslösen können.” Tony Attwood
Mein Sohn ist so ein Forscher – gerade zum Thema Tod, das er noch nicht wirklich in seinem ganzen Umfang mit Verlust und Trauer erfasst hat und auch für mich nicht einfach zu erklären ist. Dass es ihn beschäftigt, zeigte seine Reaktion nach der Nachricht, dass seine Urgrossmutter kurz vor dem 90. Geburtstag gestorben ist. Er zog sich in sein Zimmer zurück und weinte sich eine Stunde lang die Seele aus dem Leib. Nichts desto trotz – diese Überforderung zeigt er provokativ mit Sätzen wie: “Ich bin froh, dass xy gestorben ist etc.”
Tony Attwood gibt als Tipp dazu folgendes: “Ermutigen sie das Kind, innezuhalten und darüber nachzudenken, wie sich sein Gegenüber fühlen wird, bevor es handelt oder spricht.”
Dem versuchen wir uns nun – aktuell betreffend “Tod” noch erfolglos – anzunähern. Gewisse Themen brauchen scheinbar mehr Reife. Und viel, viel Geduld unsererseits 😉 …
Literaturliste
Attwood, T. (2010). Asperger-Syndrom. Das erfolgreiche Praxis-Handbuch für Eltern und Therapeuten. Stuttgart: Trias Verlag.
La Brie Norall, C., Wagner-Brust, B. (2012). Kinder mit Asperger einfühlsam erziehen. Stuttgart: Trias Verlag.
Prizant, B. M., Fields-Meyer, T. (2015). Einzigartig anders – und ganz normal. Freiburg: VAK Verlags GmbH.
Remschmidt, H., Kamp-Becker, I. (2006). Asperger-Syndrom. Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Berlin Heidelberg: Springer.
Auch ein wunderbarer Beitrag, so wie die anderen auch!
Hallo,
ich halte von dieser Forscher These nichts. Sie trifft den Kern der Sache nicht und ist aus der Sicht eines nicht Autisten formuliert worden.
Ich selbst bin Autist. Mein Bruder hat mir als Kind seinen Hamster unter die Nase gehalten, um mir zu sagen, dass es seiner ist und ich ihn deshalb nicht bekomme. Er wollte also Grenzen austesten. Er hat mir dann weiter gedroht, dass wenn ich Anstalten machen wuerde, mir den Hamster trotzdem zu nehmen, er lauthals nach unserer Mutter schreien wuerde. Bei der ersten Bewegung hat er das dann auch gemacht, so als ob man ihm an die Gurgel ginge.
Das er mich da so provozierte und seine Macht ausgetestet hat, hat bei mir zu einer Reizueberflutung gefuehrt und ich bin ihm dann tatsaechlich an die Gurgel gegangen. Als unsere Mutter dann dazu kam, war das Drama natuerlich perfekt.
Mein Bruder ist noch heute im festen Glauben, ich sei neidisch gewesen und sei deshalb auf ihn los gegangen.
Auch ist er heute noch in vielen Situationen sehr unbesonnen und macht Dinge aus dem Bauch, also aus dem Affekt, ohne gross zu ueberlegen, was seine Beduerfnisse sind.
Unlaengst hat er mal wieder etwas derart unbesonnenes gemacht, was bei mir eine enorme Reizueberflutung verursacht hat und es hatte auch juristische Implikationen, da es um eine Erbasache ging. Ich habe ihm dann. geschrieben, dass ich mir wuensche, dass wenn er beim naechsten Mal eine Treppe herunter fliegt, er zumindest das besonnen und damit konsequent richtig macht und sich folglich dabei den Hals bricht.
Nun bin ich mir bewusst, was dies in einem anderen Menschen ausloest. Trotzdem bin ich der Meinung das es nichts mit Manipulation oder Forscherdrang zu tun hat. Es ist entsprechend Judith Butler ein performativer Akt. Ein Enactment im Drama der Sprachlosigkeit. Was ich naemlich ausdruecke ist, dass es an der Zeit ist, dass sich mein Bruder von seinen sehr unbesonnen Anteilen loest, er sich von ihnen Verabschiedet, um so fuer sich und andere Verantwortung uebernehmen zu koennen. Genau darum geht es beim Thema Tod. Es ist das Thema des Uebergangs. Etwas Altes macht Platz fuer etwas Neues.
Was Ihr Sohn gesagt hat, kann sehr viele Bedeutungen haben und erst im Sagen bekommt es eine Bedeutung. Das Sagen ist also dieser performative Akt, denn ohne es gesagt zu haben, haette es keine Bedeutung. Das Sagen als solches ist das eigentlich Bedeutsame. Durch das Sagen muessen alle, die es hoeren ueber das Gesagte nachdenken und erst dadurch erhaelt es seine Bedeutung. Im besten Fall erhaelt es eine Bedeutung die eben gerade nicht den Stellenwert einer Zuschreibung hat, sondern eine Bedeutung die von allen verstanden wurde, die also stimmig ist.