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Der Computer-Taker
Vor vielen Jahren begegnete ich während meines Studiums einem autistischen Jungen, der sich partout nicht auf meine Ideen einlassen wollte – schliesslich hatte er selbst mehr als genug davon. Und ja, das verstehe ich heute sehr gut.
Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, war sein Berufswunsch: Er wollte Computer-Taker werden.
Und um es gleich vorwegzunehmen: Ich liebe Neologismen.
Vielleicht habe ich ihn deshalb auch nach zwanzig Jahren nicht vergessen. Und wer weiss, vielleicht ist dieser Junge, der natürlich längst erwachsen ist, heute tatsächlich irgendwo in der Informatik unterwegs. Und eben: ein begnadeter Computer-Taker.
Wie wunderbar ist es doch, dass er ein Wort für Informatiker geschaffen hat, das vollkommen verständlich ist – noch bevor er sich das offizielle Wort dafür aneignen konnte.
Neologismen – ein Sprachdefizit?
Ich spoilere gleich zu Beginn: Ja, Neologismen – also persönliche Wortneuschöpfungen – können ein Anzeichen für ein Sprachdefizit sein. Ich erinnere mich gut an meine Vorlesungen zum Thema Aphasie. Auch dort entstehen Neologismen – als Versuch, mit einer Wortfindungsstörung umzugehen und sich trotzdem mitzuteilen.
Aber das ist nur eine Seite der Medaille.
„Neologie ist also nicht nur ein potenzielles Anzeichen für unterentwickelte Sprache, Sprachstörungen und/oder kognitive Defizite, sondern auch ein erkennbarer Prozess in Sprachevolution, -entwicklung, Humor und Kunst, und ihr Gebrauch kann sogar eine Form von Individualität oder Widerstand darstellen.“ Emily Zane & Rhiannon J. Luyster
Tatsächlich sind einige bekannte Schriftsteller*innen geradezu berühmt für ihre Neologismen: James Joyce, William Shakespeare, Lewis Carroll, Maggie O’Sullivan, Margaret Atwood – um nur einige zu nennen. Shakespeare zum Beispiel erfand das Wort bedroom für Schlafzimmer. Ein Neologismus von einst, heute fest verankert im Englischen.
Vielleicht sollten wir auch in Bezug auf Autismus wegkommen von der schnellen Defizitorientierung – und stattdessen die Vorliebe für Neologismen als etwas Charakteristisches sehen. Wie ein autistischer Linguatyp. Möglicherweise sehr bereichernd. Denn autistische Wahrnehmung bringt oft eine neue Exaktheit mit – einen anderen Fokus. Ein bisschen Shakespeare, eben.
Was sind Neologismen bei Autismus denn genau?
Neologismen bei Autismus sind eine unkonventionelle Besonderheit des sprachlichen Ausdrucks. Im Gegensatz zu Echolalien, die durch Nachahmung erlernt werden, entstehen Neologismen nicht durch Wiederholung oder klassisches Lernen. Wie bereits erwähnt, handelt es sich um Wortneuschöpfungen – etwas, das es in dieser Form bisher noch nicht gab.
Richtet man den Blick auf den Urheber solcher Wortneuschöpfungen, so zeigt sich:
“Stattdessen ist der ursprüngliche Sprecher eines bestimmten Neologismus (der „Neologist“) dessen Schöpfer; Daher können die Bedeutung, Form und Verwendung von Neologismen ein Fenster in die sprachliche Kompetenz des Neologen und sogar ihre Gedanken auf eine Weise bieten, die andere unkonventionelle Formen nicht können.” Emily Zane & Rhiannon J. Luyster
Fokussiert man hingegen die Neologie selbst als sprachliches Phänomen:
“Neologismen können de novo erfunden werden, sie können aber auch phonologische Varianten konventioneller Formen sein oder morphologisch von ihnen abgeleitet sein (Volden und Lord 1991 ).” Emily Zane & Rhiannon J. Luyster
So oder so – Neologismen gewähren uns einen faszinierenden Einblick in die Sprache und das Denken autistischer Menschen.
Ein kleines, oft unbeachtetes Detail im Spektrum des Autismus – und zugleich ein äusserst aufschlussreiches, das vielleicht auch im diagnostischen Kontext mehr Beachtung finden sollte.
Ein paar Beispiele für Neologismen – und ihre mögliche Entstehung
- Bedroom
- Computer-Taker
- Tod-Pistole
- Bouillon-Wasser
- Tita
- …
Manchmal ist es hilfreich, sich ein Wort zu erschaffen, weil man das treffende noch nicht kennt – wie Computer-Taker für Informatiker. Oder – wie Shakespeare – man erfindet eines, weil es das einfach noch nicht gibt. Bedroom, zum Beispiel. Es gibt aber auch Situationen, in denen das vorhandene Wort zu wenig aussagt. Pistole zum Beispiel. Wenn ein Kind spürt, dass mit einer Pistole getötet wird, dann reicht das Wort so nicht. Dann braucht es Tod-Pistole, weil der Tod als wesentlicher Bestandteil zur Pistole mit dazugehört. Und dann sind da die sinnlichen Erfahrungen. Manchmal so intensiv, dass sie ein eigenes Wort brauchen. Bouillon-Wasser, vielleicht. Weil es nicht einfach Wasser war, sondern irgendwie salzig und warm. Aber auch Freude am Klang und Rhythmus spielen eine Rolle. So kann aus dem Natel schon mal ein Tita werden. Oder: Verbotene Wörter werden verwandelt – aus Schutz. Damit sie nicht triggern. Ich weiss, dass wir solche haben. Aber sie sind so verboten, dass sie mir gerade nicht einfallen …
Natürlich mag es noch viele weitere Gründe geben. Ich stelle keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
PS: Was mich aber wirklich interessieren würde: Nutzt die Autismus-Community Neologismen vielleicht auch bewusst, um sich abzugrenzen – um Sprache für sich selbst zu gestalten?
Was Shakespeare und autistische Kinder verbindet
Ich wiederhole mich – aber ich muss das. Schliesslich will ich diese Einsicht weitergeben.
Shakespeare erschuf Neologismen genau dort, wo Sprache fehlte. Und eigentlich geht es autistischen Kindern ganz ähnlich wie ihm.
Ich stelle mir vor, dass auch ihre Erfahrung mit der Welt – gerade wenn sie fokussierter und/oder intensiver ist – nach neuen Worten verlangt, weil das, was sie erleben, in unserer Sprache noch keinen Platz zu finden scheint.
Das ist nicht pathologisch.
Das ist genial.
Literaturliste
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/aur.70080
