Gesichtsausdruck und Gefühlserkennung – oder warum es brennt

 

Kleiner Spoiler

Peter Vermeulens Buch “Autismus und das prädikative Gehirn” liest sich für mich von der Spannung her wie ein Krimi. Ich brauche also keine gellenden Schreie in stockfinsterer Nacht, die mir das Blut in den Adern gefrieren lassen – mir reicht folgende Erkenntnis:

 

Emotionen werden nicht am Gesichtsausdruck erkannt (vgl. Peter Vermeulen, S. 149).

 

Aber ich habe doch Gefühlsbilder-Karten gekauft und mit meinen Jungs trainiert!? Diese Aussage stimmt sicher nicht! Oder doch?

 

Aber von vorne nun…

 

Das prädikative Gehirn 

Um die Menschen zu verstehen, ist es wichtig einmal gehört zu haben, wie das Gehirn arbeitet, denn nichts mag unser Gehirn weniger als Überraschungen. Im Gegenteil – es will möglichst alles vorhersehen, damit es weniger Arbeit hat.

 

Aus diesem Grund wartet das Gehirn nicht darauf, dass die Sinne Informationen aus der Aussenwelt liefern, sondern macht stattdessen selbst Vorhersagen über diese Welt.” Peter Vermeulen (S. 36-37)

 

Es ist also folglich anders, als wir es alle bisher vermutet haben. Das Gehirn nimmt nicht zuerst einen Reiz wahr – es macht als erstes immer Vorhersagen darüber, was kommen wird. Es ist also unser Vorhersageorgan quasi, das Rückmeldungen von den Sinnesorganen zu den Informationen und Inputs will, die es bereits über die Welt hat (vgl. Peter Vermeulen, S. 37). Gerade im Treffen von Vorhersagen oder Rückmeldungen, bezieht sich das Gehirn stark auf den Kontext – nicht so das autistische Gehirn. Dieses ist viel weniger kontextsensitiv.

 

Autismus und das prädikative Gehirn 

Mein Teenager mag beispielsweise das Schulfach Mathe sehr, vielleicht ja darum, weil Mathematik klare Regeln hat, die sich durch den Kontext nicht ändern oder anders gesagt: sollte Mathematik dennoch einen Kontext haben, was sie vermutlich hat, dann einen berechenbareren als die Frage, wann man wen und wie grüsst oder eben nicht. Als absoluter Denker in einer relativen Welt darf er es geniessen, dass er in der Mathematik einen Platz gefunden hat, der ihm Sicherheit und Freude schenkt – in einem ‘geschlossenen System’, wie es Mathematik eben ist. Peter Vermeulen würde ihm wohl darin Recht geben, dass Wissen und Kenntnis nicht das Problem bei Autismus ist (vgl. S. 148). 

Als absoluter Denker gefallen ihm weitere ‘geschlossenen Systeme’ – auch Sozialkompetenzen gibt es auf diese Art und Weise. Und so finden sich Autist*innen problemlos in sozialen ‘geschlossenen Systeme’ durch Wissen und Erkenntnis zurecht. Mein Teenager hat eine ganz klare Meinung betreffend Diebstahl, Sachbeschädigung, Mobbing, Todesstrafe, Krieg, Abtreibungen, Ghosting, Silent Treatment etc. In diesem Bereich schätze ich ihn als sehr, sehr sozialkompetent ein.

 

Bei ‘offenen sozialen Systemen’ hingegen, wie es beispielsweise das Thema des stark kontextabhängigen Grüssens ist, ist er ständig überfordert und grüsst lieber nicht als falsch. Oder anders gesagt, er gibt kleinen Vorhersagefehlern zu viel Bedeutung, wodurch er die Ähnlichkeiten nicht sieht und folglich ist sein Gehirn in ständiger Alarmbereitschaft, wenn er auf Menschen ausserhalb des gelernten Grüssumfeldes trifft: Unsicherheitsstress (vgl. Peter Vermeulen, S. 192)! Um dennoch Ähnlichkeiten zu erkennen, benötigt er also viel Zeit, Wiederholung in unterschiedlichem Kontext und somit bewusstes Lernen. Dann klappt das auch mit dem Grüssen – meistens.

 

“Der entscheidende Punkt ist nicht die Fähigkeit autistischer Menschen, zu lernen, (…) sondern die Schwierigkeit, dieses Wissen flexibel im jeweiligen Kontext einzusetzen.” Peter Vermeulen (S. 148)

 

Die Theorie des prädikativen Gehirns geht also davon aus, dass sich das Vorhersagesystem bei Autist*innen und nicht-Autist*innen unterscheidet. Autist*innen geben Vorhersagefehlern ständig zu viel Gewicht und daraus folgt, dass die Vorhersage so spezifisch ist, dass es so für den Versuch, die Welt vorherzusagen, durch den sich oftmals immer wandelnden Kontext schier unbrauchbar wird (vgl. Peter Vermeulen, S. 72). 

 

Und in diesem Sinne betrifft das oft zu absolutes Vorhersagesystem auch die Gefühlserkennung, die eigentlich gar keine Erkennung ist, sondern was anderes.

 

Nicht-autistische Menschen wissen das aber trotz ihrer Kontextsensitivität auch nicht, da vieles bei ihnen intuitiv abläuft und genau darum ist es ein bisschen gefährlich, wenn sie autistischen Kindern das mit der Gefühlserkennung beibringen möchten und gleichzeitig ihr Gehirn selber nicht einmal kennen – geschweige denn die Palette unterschiedlicher Gehirne im Rahmen der Neurodiversität. 

Aber dafür muss ich etwas ausholen…

 

Der Gesichtsausdruck – von Natur aus mehrdeutig 

Es hat schon fast Tradition – seit Jahren lernen wir mit unseren autistischen Kindern und Jugendlichen Gesichtsausdrücke lesen. Dabei sind, so Peter Vermeulen (vgl. S. 149) einige – wenn nicht gar alle – Gesichtsausdrücke gar nicht eindeutig. Es können immer mehrere Interpretationen getroffen werden, es sei denn, der Kontext ist klar. Das einzige, was man am Gesichtsausdruck ablesen kann, ist, ob es einer Person gut geht oder nicht und wie stark die Emotion ist (vgl. Peter Vermeulen, S. 150). Als Eltern und Fachkräfte mit wunderschönen Gefühlskarten im Schrank, die wir bei Gelegenheit gerne mal zücken, müssen wir nichts desto trotz akzeptieren:

 

“Gesichtsausdrücke sind von Natur aus mehrdeutig.” Peter Vermeulen (S. 150)

 

Mein kleiner Erfolg heisst also lediglich, dass die Gefühlskarte gut abgespeichert wurde. Das kann nicht das Ziel dieser Übung sein, dreht sich die Idee dahinter ja um Emotionserkennung im täglichen Leben, was den Umgang mit anderen Menschen erleichtern soll – durch mehr Berechenbarkeit. Dafür hilft eine kontextfrei abgespeicherte Bildkarte nicht.

 

Gefühlserkennung ist eine emotionale Vorhersage 

Peter Vermeulen nennt es ‘die Kontexttaste drücken’, wenn man autistische Kinder und Jugendliche unterstützen will. Das gilt auch für die Gefühlserkennung. Es spielt so unglaublich vieles mit hinein, das beachtet werden sollte:

 

“Die Situation, das Geschehen, Verhalten und Ausdrucksweise der anderen Menschen, die Körpersprache, die Intonation und Lautstärke der Stimme, der kulturelle Hintergrund und sogar die Worte, all das beeinflusst den Prozess der Erkennung von Emotionen. Auch das Geschlecht kann eine Rolle dabei spielen, wie leicht wir Emotionen erkennen können; z.B. erkennt man Wut bei einem Mann im Allgemeinen schneller als bei einer Frau. Und warum? Weil Wut in unserem Weltbild eher mit Männern als mit Frauen in Verbindung gebracht wird. Wir erwarten, dass Männer eher wütend als traurig sind, was wiederum eine Emotion ist, die bei Frauen leichter zu erkennen ist.” Peter Vermeulen (S. 151)

 

Ich rufe nun nicht dazu auf, dass alle Eltern und Fachkräfte rund um Autismus ihre Kartensammlungen mit Gesichtsausdrücken verbrennen sollen. Aber wir müssen uns von der fixen Idee lösen, dass das auf diese Weise abgehandelt werden kann, auch wenn es bequem wäre mit den Gefühlskarten als Patentlösung.

 

“Was wir unter Emotionserkennung verstehen, ist in Wirklichkeit gar keine Erkennung. Auf der Grundlage des jeweiligen Kontextes treffen wir eine Vorhersage darüber, wie sich jemand fühlen könnte. Gefühlserkennung ist daher eine emotionale Vorhersage.“ Peter Vermeulen (S. 151-152)

 

Eine emotionale Vorhersage bedeutet also, dass lange bevor wir uns bewusst sind, was für Emotionen wir gerade wahrnehmen, der Kontext schon Einfluss genommen hat. Emotionen erkennen wir also nicht am Gesichtsausdruck, wie das retrospektiv vielleicht erklärt wird, es ist eine emotionale Vorhersage. Anders gesagt, wir erkennen Angst besser am Gesichtsausdruck bei einer Geiselnahme als beim Silvesterfeuerwerk (vgl. Peter Vermeulen, S. 153). Aus einer Gefühlskarte „Angst“ lesen wir lediglich, dass es einer Person sehr offensichtlich nicht gut geht.

 

Warum verlassen sich autistische Kinder dennoch auf den Gesichtsausdruck?

Peter Vermeulen sieht zwei Gründe, warum sich autistische Kinder für die Emotionserkennung trotz allem auf den Gesichtsausdruck verlassen – und eben oftmals scheitern. 

 

Er vermutet einerseits, dass diese Fokussierung auf die Mimik aus dem Gesichtsausdruckstraining stammen könnte, das nach wie vor viele autistische Kinder durchlaufen müssen. Und das, obwohl schon seit längerer Zeit klar ist, dass wir die Emotionserkennung aus dem Kontext vorhersagen – und eben nicht über die Mimik. 

 

Zudem nimmt er an, dass autistische Kinder gerade durch ihre Präferenz für Sinne (und nicht Kontext) die Emotionserkennung über den Gesichtsausdruck vorherzusagen versuchen – in diesem Fall die visuelle Wahrnehmung.

 

Radikales Umdenken bei zahlreichen Interventionen

“Wenn wir die Fähigkeit von Menschen mit Autismus beim Erkennen von Emotionen fördern wollen, müssen wir wegkommen von einfachen Bildern mit Gesichtsausdrücken und stattdessen Gesichtsausdrücke in Kontexten und Szenen verwenden, die bestimmte Emotionen hervorrufen. Noch einmal: Wir müssen die Kontexttaste drücken.” Peter Vermeulen (S. 156)

 

Fotos oder Zeichnungen von Gesichtsausdrücken können vielleicht als Annäherung helfen, ein Wort für eben diese Emotion zu lernen. Aber man darf dieses Vorgehen ruhig kritisch sehen, denn eigentlich sollte man das in der entsprechenden Situation. Es braucht immer Kontext, um Gefühle wirklich zu lernen – und dann erneut ganz viele ähnliche Situationen. Warum schon wieder? Eben, auf den Gesichtsausdruck ist kein Verlass, da er nur zuverlässig aufzeigt, ob es jemandem gut geht oder nicht und wie stark die Emotion ist. Zudem sind Emotionen mehrdeutig. Weinen kann man vor Freude oder vor Trauer. Lachende Menschen sind oftmals sympathisch – ausser, sie lachen im falschen Moment oder lachen eine Person aus oder wie Kamala Harris, sie lachen zu viel – Politikerinnen dürfen das unerklärlicherweise nur dezent…

 

Es ist kompliziert.

 

Es brennt – oder nicht?

 

Liebe nicht-autistische Menschen, passt auf!

 

Als nicht-autistische Menschen, die intuitiv die ganze Situation und den Menschen (also den Kontext) mit einbeziehen, ist es nach der Theorie des prädikativen Gehirns eine falsche Schlussfolgerung, dass die Mimik alles ist. Wir denken das nur, weil unser Gehirn bereits Vorarbeit geleistet hat. Aufgrund der Tatsache, dass diese intuitive Emotionserkennung bei uns eben quasi wie von alleine abläuft, dürfen wir keine falschen Schlüsse ziehen. Für autistische Kinder und Jugendliche muss der Kontext verdeutlicht werden, damit sie überhaupt eine Chance bekommen, um in dieser ganzen komplexen Emotionserkennungssache und diesen verwirrenden Zwischenmenschlichkeiten durchzublicken. 

 

Nein, wir müssen unsere Gefühlsbilder-Karten nicht verbrennen, aber es brennt und ist somit langsam an der Zeit, dass wir sie als das sehen, was sie sind – lediglich ein (mehrheitlich unsicheres) Puzzlestück in einem grossen Ganzen. 

 

Aber was wir unbedingt müssen – ganz im Sinne Peter Vermeulens: immer die Kontexttaste drücken! Das bedeutet, ein Augenmerk auf die Variationen zu legen – denn schon alleine ein vermeintlich klares Lachen, wie wir bereits gesehen haben, kann sehr Unterschiedliches bedeuten. 

 

Es ist eine hochkomplexe Sache – mit diesen Social Skills. 

 

Noch ein kurzes und dennoch wichtiges Supplement 

… und was wir als nicht-autistische Menschen nicht ausklammern dürfen:

 

“Um in einer Welt voller Lärm und ständig wechselnder Bedeutungen zu bestehen, ist es von entscheidendem Vorteil, kontextsensitive, intuitive und superschnelle Vorhersagen treffen zu können. Aber diese kontextbezogenen Einschätzungen funktionieren nicht immer zu Ihren Gunsten. Manchmal können auch Fehleinschätzungen dabei herauskommen.” Peter Vermeulen (S. 197)

 

Ich will die ganzen Herausforderungen, die ein autistisches Gehirn mit sich bringt, nicht klein reden. Dennoch – es lohnt sich, als nicht-autistischer Mensch bescheiden zu bleiben und eine gewisse Ehrfurcht zu bewahren. Ein autistisches Gehirn ist dem nicht-autistischen dann und wann klar überlegen. Manchmal fährt man mit der Strategie des autistischen Gehirns eindeutig besser, indem man nur glaubt, was man auch sieht, und zwar ohne intuitive und kontextsensitive Vorhersagen.

 

 

 

Literaturliste 

 

Vermeulen, P. (2024). Autismus und das prädikative Gehirn. Absolute Denker in einer relativen Welt. Freiburg im Breisgau: Lambertus

 

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