Kurzer Ausflug nach Marburg
Es muss ungefähr Januar 2014 gewesen sein, als ich mit der Marburger Beurteilungsskala zum Asperger Syndrom in der Cafeteria sass und diese auszufüllen versuchte, während mein älterer Sohn weiter abgeklärt wurde. Da ich gerne sehr exakt bin, wenn es um meine Kinder geht, fallen mir solche Fragen schwer. Dabei möchte ich nicht die Wichtigkeit und Richtigkeit von diesem Fragebogen anzweifeln. Es ist ein Diagnostikinstrument, das den Eltern, Lehrpersonen etc. immerhin eine Stimme gibt. Das mag ich eigentlich sehr. Dennoch – mit dieser Gleichung habe ich Mühe: “Autistisch anmutendes Verhalten plus Quantität davon gleich Indikator für eine mögliche Autismusspektrumsstörung. Es geht für mich um Situationen in einem Kontext mit Reaktionen und deren Qualität. Und schliesslich der alles entscheidenden Frage des Warums.”
Frage 1:
Zeigt er Interesse an anderen Kindern? Niemals/selten/manchmal/häufig/immer.
Wie um Himmels Willen soll ich das beantworten? Er zeigt grosses Interesse – es gelingt ihm aber nicht, Kontakte zu knüpfen. Also ‚immer‘ ankreuzen? Es gibt auch Menschen, zu denen will er Abstand. (Ich auch!)
Frage 6:
Versucht er sie zu trösten, wenn sie traurig oder verletzt sind? Niemals/selten/manchmal/häufig/immer.
‚Traurig‘ spürt er gut. Wenn ich mir in den Finger schneide und mich ‚verletze‘ – das nimmt er ebenfalls eindeutig wahr und kann entsprechend auf mich reagieren. Wenn mich jemand durch sein Verhalten ‚psychisch verletzt‘ und das sogar noch sehr subtil, dann ist das für meinen Sohn herausfordernd zu durchschauen. Ich verstehe die Frage inhaltlich nicht.
Und so quälte ich mich von Frage zu Frage. Ich wehrte mich nicht dagegen, dass mein Kind autistisch sein könnte. Ich ertrug das durch diese Fragen indirekt präsentierte Bild eines Kindes im Autismus-Spektrum schier nicht.
Autistisches Verhalten
Ob ich damals so spitzfindig war, weil es sich um mein Kind handelte und ich dadurch seine Autismusabklärung tierisch Ernst nahm? Und nun sollte ich ankreuzen, ob sich mein Kind autistisch verhält?
“So etwas wie autistisches Verhalten gibt es nicht. Es sind alles menschliche Verhaltensweisen und menschliche Reaktionen, die auf der Erfahrung einer Person basieren. Barry M. Prizant
Ich bin Barry M. Prizant sehr dankbar für diese Aussage. Ohne den Kontext eines Verhaltens mit einzubeziehen und nach der Ursache zu suchen, fühlt sich das für mich wie ein schlechter Witz an.
Frage 27:
Beschäftigt er sich mit speziellen Gebieten oder Dingen in einer auffälligen Intensität oder Akzentsetzung?
Ich sammle Kochbücher! Bestimmt schon an die 300 Stück…
Frage 31:
Gibt es Dinge, die er in einer speziellen Weise oder Reihenfolge ausführen musste, oder Rituale, die sie für ihn ausführen mussten? Niemals/selten/ manchmal/häufig/immer.
Ja, da spricht man von mir. Ich bin neurotypisch. Dennoch will ich, dass die Vorhänge so gezogen sind, wie es mir gefällt. Und zieht die Vorhänge ein Familienmitglied falsch zu – ich ändere es kurz darauf diskret wieder.
Frage 36:
Zeigt/e er andere auffällige Bewegungen, z.B. drehende Bewegungen oder wiederholtes Auf- und Abspringen oder Schaukeln mit den Armen?
Wieder ein klares Ja – ich zeige Stereotypien. Wenn ich länger telefoniere, kreiere ich die schönsten Telefonkritzeleien. Wenn ich mich extrem freue oder aufgeregt bin, dann bewege ich mich auch mit wiederholenden Bewegungen.
Ich bin kein Aspie – aber laut dem `Marburger` zeige ich eindeutig autistisches Verhalten. Nach Barry nicht. Es geht nicht um das Verhalten isoliert – es geht um die Ursachen. Und dafür muss man das Autismusspektrum verstehen und sich in die Thematik hineinknien. Tiefer graben. Es wird einem nichts geschenkt. Oberflächlichkeit reicht nicht. Zugegeben – das Thema Autismusspektrum ist eine Herausforderung. Aber wenn man zu verstehen beginnt, kann es extrem faszinierend und bereichernd zugleich sein. So ergeht es mir.
Meine Kinder – ein Sensor
Ich bin mir bewusst, dass neurotypische Menschen oftmals intuitiv ein “theory of mind” Problem aufzeigen, wenn es sich um Menschen im Autismus-Spektrum handelt. Schliesslich bin auch ich nach über 10 Jahren Autismuserfahrung noch immer daran, zu verstehen zu lernen. Darum empfinde ich meine Kinder wie ein Sensor auf Fachpersonen gerichtet, der anzeigt: “Der hat es drauf – und der gar nicht.” Es braucht wahrlich viele Kompetenzen, um sich als fähiger Mensch im Umgang mit Menschen im Autismus-Spektrum zu profilieren.
Ein uns empfohlener Kinderarzt, der im Winter 2012 auf unseren Wunsch hin mit der Abklärung startete, konnte es nicht. Er wollte bestimmt auch das Beste. Er hat sich bei Gundelfinger weiterbilden lassen und sogar eine Psychologin als Coach während gewissen Abklärungsteilen mit dabei. Das Engagement wäre also da gewesen. Aber beim Auswertungsgespräch musste ich feststellen: “Er hat es nicht drauf.” Im IQ-Test bekam unser grosser Sohn ein unmöglich tiefes Resultat. Der Kinderarzt meinte darauf, das heisse, unser grosser Sohn habe ganz klar den IQ dieses Resultates. Und ich fand, der Test sei so gelöst worden, dass das Resultat zwar so sei – und nun solle er das korrekt interpretieren. Er sah nur das Testresultat und nicht das Kind und beharrte darauf. An dem Punkt war für mich die Zusammenarbeit beendet. Ich stand auf und ging. 2014 wurde ein anderer IQ Test dann durch die Autismusfachstelle wiederholt – nix da mit geistiger Behinderung. Hohe Begabung im mathematischen Bereich. Ich habe nichts gegen ein Kind mit einem tiefen IQ – aber ich bin total dagegen, wenn man nicht auf Testsituationen und Autismus eingehen kann und dafür das Gespür und Wissen fehlt.
Anders sieht es beim schulischen Heilpädagogen aus, der unseren grossen Sohn in seiner Entwicklung in der Regelschule begleitet. Mein grosser Sohn musste beispielsweise einen standardisierten Test zum Lesesinnverständnis lösen. Der schulische Heilpädagoge meinte dazu, dass das Resultat zwar okay sei. Aber als er angeschaut habe, um welche Sätze es sich handelte, habe er erkannt: “Die waren nicht absolut klar formuliert.” Folglich kein Problem im Lesesinnverständnis. Kinder im Autismus-Spektrum fordern noch mehr Exaktheit. Der schulische Heilpädagoge fragte also nach dem Warum. Das fragt er auch, wenn mein Sohn in der Handarbeit unmöglich Samt für ein Kissen wählen kann oder das Duschen nach dem Turnunterricht nicht passt oder die Eingangstüre des Schulhauses nicht geöffnet werden kann… Ja, er hat es drauf 🙂 .
“Manche Menschen sind einfach Naturtalente. Innerhalb von fünf oder zehn Minuten wissen sie, wie man mit einem autistischen Kind umgehen muss und das Kind entspannt sich; die Chemie stimmt einfach.” Jill Calder (zitiert in “einzigartig anders”)
Und das ist er – der schulische Heilpädagoge unseres grossen Sohnes. Ein Naturtalent mit Weiterbildung zum Thema Autismusspektrum.
Tiger Mutter
Es hat mich sehr verunsichert, dass es Menschen mit beruflicher Macht gibt, die es nicht drauf haben, das aber nicht bemerken. Was wäre passiert, wenn der erste Kinderarzt sein Vorhaben durchgezogen hätte? Wenn wir beispielsweise eine Familie mit Migrationshintergrund wären mit möglicherweise unzureichenden Deutschkenntnissen und unsicher, wie es hier in diesem Land so läuft? Ich mag mir das gar nicht ausmalen.
Das Fazit dieser Erfahrungen ist, dass ich zur Tiger Mutter geworden bin. Ich beschütze mein Kind. Ich übernehme die Verantwortung.
Als ich von der Psychologin angefragt wurde, ob wir unseren kleinen Sohn allenfalls in die heilpädagogische Früherziehung schicken möchten, war meine Antwort: “Nur, wenn es sich um jemanden handelt, der es mit Kindern im Autismus-Spektrum kann.” Und ich bekam eine wunderbare Heilpädagogin für unseren kleinen Sohn, die mich am ersten Gespräch beruhigte, indem sie mir als erstes erzählte, wer sie ist, was ihre Kompetenzen sind und wie sie arbeitet. Genau das brauchte ich. Auch sie war ein Segen für unsere Familie – denn sie hat es ebenfalls drauf. Ich konnte den Tiger getrost schlafen lassen. Das braucht eine Familie mit Kindern im Autismus-Spektrum sehr. Die Kräfte sollten nämlich für die Familie genutzt werden können.
Sie haben es drauf
“Meiner Erfahrungen nach haben diejenige, die es draufhaben zahlreiche charakteristischen Wesenszüge und Fingerspitzengefühl gemeinsam. Zu den wichtigsten gehören etwa:
- Einfühlungsvermögen: Sie sind auf den emotionalen Zustand der Person eingestimmt, und damit auch auf die bisweilen subtilen Signale, die auf unterschiedliche Grade von Regulation und Fehlregulation hinweisen.
- Der Faktor Mensch: Sie fragen: “Warum?” (Widerständiges Verhalten nicht einfach als aufsässig etikettieren.) Jemand, der es drauf hat, macht sich die zusätzliche Mühe, herauszufinden, was dem Verhalten zugrunde liegt.
- Empathie: Statt von ihrer eigenen Erfahrung aus zu verallgemeinern, (…) achten sie genau auf den Menschen vor sich; sie interpretieren sein Verhalten und verstehen dessen Bedeutung.
- Gemeinsame Kontrolle: Sie teilen die Kontrolle mit der Person und leiten sie nach Bedarf an. Überlässt man dem Menschen mit Autismus in vielfältigen Situationen und Settings die Kontrolle, führt das letztlich zu mehr Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung.
- Humor: Nicht jedes schwierige Vorkommen wird durch die Tragikbrille betrachtet. Viel hilfreicher, sowohl für das Kind als auch die Familie, ist es, wenn die Menschen im Umfeld ihren Sinn für (respektvollen) Humor bewahren oder dies pragmatisch sehen.
- Vertrauen: Es ist wesentlich, von Beginn an zuzuhören, dem Menschen mit Respekt zu begegnen und gleichzeitig die Familie als Partner anzusehen.
- Flexibilität: Wichtig ist die Erkenntnis, dass wenn Plan A nicht funktioniert, es Zeit ist, zu Plan B überzugehen.
(Abgekürzt oder nur Teile übernommen nach meiner Intuition – sonst aber ganz nach:) Barry M. Prizant
Spitzfindigkeit und Fingerspitzengefühl
Spitzfindig? Das bin ich bestimmt. Mein Mann sagte mir letzthin, dass ich von meiner Umgebung etwas fordere. Das fände er gut. Es geht um meine Kinder – um alle Kinder des Autismusspektrums.
Eine Frau, die in derselben Situation ist wie ich, erzählte mir von folgendem Sprichwort:
“Einen Bruchteil deiner Wünsche wird man höchstens dir gewähren; willst du einen Baum erlangen, musst du einen Wald begehren.” Aus Russland
Dann ist es vielleicht doch nicht verkehrt, wenn ich “einen Wald begehre”?
Fingerspitzengefühl? Vielleicht verhelfen meine Wünsche doch, dass ein Umdenken stattfindet. Dass das Thema Autismusspektrum mit Fingerspitzengefühl angegangen wird.
“Wenn man ein Kind mit Autismus erzieht, besteht eine der grössten Herausforderungen darin, die Helfer zu finden – Ärzte, Therapeuten, Pädagogen und andere -, deren Zutun besonders wirkungsvoll ist, die sich am besten mit dem Kind verbinden und die die grössten Fortschritte anregen können.” Barry M. Prizant
Darum ein Hoch auf ganz viele, die es drauf haben oder bald drauf haben werden.
Literaturliste
Prizant, B. M., Fields-Meyer, T. (2015). Einzigartig anders – und ganz normal. Freiburg: VAK Verlag GmbH.
Remschmidt, H., Kamp-Becker, I. (2006). Asperger-Syndrom. Manuale psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Heidelberg: Springer.