Beständigkeit, Routine und Ordnung
Wenn das Leben YouTube wäre, du würdest immer dasselbe liken. Natürlich machst du das bei YouTube nicht wirklich. Da suchst du dir, was dich anspricht. Lange waren es Domtendos Let’s play. Unterdessen suchst du deine weiteren Themen gezielt. Timons Chemie-Filmli sprechen dich so sehr an, dass du das Periodensystem studierst und dir auf Weihnachten Gallium wünschst. Gallium hat super-spannende Eigenschaften für ein Metall, es schmilzt bei 29,76 °C .
“Die leidenschaftliche, ausdauernde Beschäftigung mit speziellen Themen oder Dingen dient der Entspannung, Bedürfnisbefriedigung, psychischen Entlastung oder Kompensation von Stress.” Georg Theunissen
Darum stresst dich der Artikel 13, der YouTube den Stecker ziehen will. Das glaube ich zwar nicht, aber dich verfolgt diese Vorstellung: schrecklich. Du brauchst Youtube als vertraute Komponente zum “Runterfahren” quasi. Eine wirksame Methode für einen Jungen mit Asperger Syndrom in einem verwirrenden Leben voll Chaos und Veränderung um glücklich zu sein.
Der Zahnputzkaugummi, der nicht hätte sein sollen
Der Monotropismus geht als Hypothese davon aus, dass Menschen im Autismus-Spektrum einen Tunnelblick haben, mit dem sie sich auf wenige hoch-erregende Dinge konzentrieren. Dies ist ihre Antwort auf viel zu viele Reize, damit die Wahrnehmung nicht zusammenbricht – also ein autistischer Wahrnehmungsstil. Leider bin ich mir nicht immer bewusst, was du nun so genau im Visier hast. Das wäre äusserst wichtig, wenn ich dich in einer Situation unterstützen sollte. Und das will ich unbedingt – ich bin schliesslich deine Mutter.
Eine sehr umstrittene Art der Zahnhygiene ist der Zahnputzkaugummi. Er bietet uns in bestimmten Situationen aber einiges mehr als es die Zahnbürste zustande bringen könnte: Zeit und Flexibilität.
Eines Morgens – du warst 8 Jahre alt, dauerte die Zeitspanne zwischen dem Aufstehen und an der Türe Verabschieden um einiges länger. Wir kamen nicht vorwärts. In solchen Momenten streiche ich das Zähneputzen und gebe dir, bevor du Schuhe, Jacke und Thek fertig angezogen hast, parallel dazu rasch so einen Zahnputzkaugummi. Alles eingespielt. Bevor du dann Richtung Schulbus losmarschierst, nehme ich diesen wieder in einem Taschentuch in Empfang, damit es in der Schule nicht heisst: “Der hat einen Kaugummi im Mund!”
An diesem besagten Morgen jedoch passierte etwas. Ich vergass den Kaugummi zurück zu fordern. Beim Schulbus angekommen, realisiertest du das. So mit Kaugummi im Mund konntest du einfach nicht einsteigen. Es ging gar nichts mehr. Einer deiner Schulbuskollegen kam dann an unsere Haustüre läuten, ich müsse rasch kommen. Irgendetwas klappe nicht. Du würdest nicht einsteigen. Es herrschte helle Aufregung, denn der Schulbus geriet durch dich in Verspätung. Als ich oben ankam, hast du dich zu mir gewandt, gabst mir den Kaugummi diskret und stiegst ein. Niemand bekam etwas mit. Es schien, als könne ich zaubern. Ende gut – alles gut.
“Für eine Person, die in einem Aufmerksamkeitstunnel steckt, ist jede unerwartete Veränderung abrupt und wahrlich, wenn auch nur kurzfristig, ein katastrophales Ereignis (Murray, Lesser & Lawson 2005, 147).” Georg Theunissen
Ein neurotypisches Kind, das die Gesamtsituation mit Schulbus, Taschentuch und Kaugummi wahrnimmt, ist dadurch flexibel für Lösungen. Ein autistisches Kind, das durch den Tunnelblick nur noch den Kaugummi am “falschen Ort” im Visier hat, fühlt sich dadurch blockiert und aus dem Konzept geworfen. Der Tunnelblick verhindert Flexibilität und will Beständigkeit, Routine und Ordnung.
Natürlich haben wir dann mal in einem guten Moment besprochen, wie man auf so eine Situation reagieren könnte. Du fandest mit Abstand zur Situation gleich selber eine Lösung – der Kaugummi wird noch im Schulbus in dein Taschentuch gewickelt. Und was, wenn du aus Versehen kein Taschentuch mit dabei hast? Dann darf man den Kaugummi ausnahmsweise auf den Boden fallen lassen. Aber nicht im Schulbus – vor- oder nachher 😉 .
“Ein vorab festgelegter Ablaufplan mit eingebauten alternativen Lösungswegen kann daher ein Gefühl von Sicherheit und Vorhersehbarkeit bieten.” Timing, sequencing & pretending. Georg Theunissen
Literaturliste
Theunissen, G. (2004.) Menschen im Autismusspektrum. Verstehen, annehmen, unterstützen. Stuttgart: Kohlhammer.